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Am 27. verkündet Nagy die Bildung einer neuen Regierung. Er ist bereit, den Aufständischen entgegen zu kommen. Die Sozialisten lehnten eine Beteiligung ab. Doch die bekannten Stalinisten sind eliminiert: Bata, Hegedüs, Darvas … Der Philosoph Georg Lukács, Géza Losoncy sind bekannte kommunistische Oppositionelle. General Károly Janza, scheint geeignet, die Armeekader anzuziehen. Mit Béla Kovács und Zotán Tildy, den Führern der Partei der kleinen Landwirte, hofft Nagy zweifellos, die Unterstützung der Bauern für seine Regierung zu gewinnen.
Die Reaktion der Aufständischen ist mehr als kühl. Radio-Miskolc erklärt am 27.Oktober:
„Imre Nagy spielt heute um das Vertrauen des Volkes. Ist das ausreichend? ... Imre Nagy müsste den Mut haben, sich von solchen Politikern zu befreien, die nicht anders können, als sich auf die Waffen zu stützen, mit denen sie das Volk unterdrücken.“
Am nächsten Tag meldet sich über denselben Sender der Arbeiterrat des Bezirks Borsod:
„Imre Nagy hat erklärt, dass sich im Verlauf der Kämpfe eine neue Regierung der nationalen Einheit, der Unabhängigkeit und des Sozialismus gebildet habe, welche den Willen der Bevölkerung authentisch zum Ausdruck bringe. Die Arbeiter von Borsod denken, dass es wirklich an der Zeit ist, dass die Regierung Nagy so schnell wie möglich den Willen des Volkes durch Taten zum Ausdruck bringt. Die Regierung verspricht, sich auf die Volksmacht und die Volkskontrolle zu stützen, und hofft das Vertrauen des Volkes zu gewinnen. Die Kraft des Volkes wird Nagy unterstützen, wenn sich die Regierung wirklich sofort daran macht, die legitimen Forderungen des Volkes ohne Verzug zu erfüllen.“ (54)
Szigeti erklärt im Namen der Räte von Györ, dass er Nagy als Patrioten betrachte, aber das gewisse Mitglieder seiner Regierung inakzeptabel sind. (55) Der Sprecher der Räte von Magyarovar erklärt: „Wir wollen gern die Regierung unterstützen, aber sie muß uns davor erstmal ihren Geist zeigen, bevor wir ihr voll vertrauen …“ (56) Die Räte von Debrecen und Dunapentele unterstützen Nagy und vertrauen ihm, aber die von Szeged verlangen die Entlassung des Stalinisten Antal Apró aus der Regierung, die Eisenbahner von Pécs können Bebrits nicht als Minister für das Verkehrswesen akzeptieren, und der revolutionäre Rat der Universität verlangt den Ausschluss von Innenminister Ferenc Münnich aus der Regierung, da sie ihn als Agenten des Kreml betrachten.
In der Nacht vom 27. zum 28. Oktober hat Imre Nagy wieder den Kontakt zu den Vertretern des „revolutionären Komitees der bewaffneten Studenten“ aufgenommen. Sie bestehen auf all ihren Forderungen. Dieses Mal akzeptiert Nagy, so wie er am Vorabend erklärt hat, jene von Miskolc zu akzeptieren. Ein Waffenstillstand wird geschlossen. Die KP–Tageszeitung, Szabad Nép bestätigt:
„Das Volk fordert Ordnung und in erster Linie den Abzug der russischen Truppen … wir wollen eine ungarische Demokratie, ökonomisch, sozial und politisch unabhängig … Es war eine gerechte nationale Bewegung.“
Nagy persönlich verkündet im Radio die neuesten Nachrichten. Er erklärt, dass die sowjetische Regierung die Evakuierung Budapests akzeptiert hat und dass Verhandlungen über den Abzug aus ganz Ungarn eröffnet sind. Nagy erklärt, dass er die Arbeiterräte anerkennt und mit ihnen zusammenarbeiten will. Die AVH ist aufgelöst. Eine neue bewaffnete Kraft ist gegründet, eine Art Nationalgarde, in welche, an der Seite der alten Armee und der gewöhnlichen Polizei, die bewaffneten Revolutionäre, Arbeiter und Studenten eintreten werden. Er verkündet, dass die Nationalfahne wieder hergestellt sei, und dass die Regierung alles tun werde, um die Forderungen der Revolutionäre zu erfüllen.
Die Räte antworten: Der Rat von Györ bittet die Räte der Region, die Männer zu benennen, die sich an der neuen Miliz beteiligen werden. (57) József Kiss, Präsident des Arbeiterrates von Borsod in Miskolc, verkündet:
„Der nationale Aufstand hat gesiegt, die Regierung wird alle unsere Forderungen erfüllen, schießt weder auf sowjetische noch auf Regierungstruppen.“ (58)
Radio-Miskolc appelliert an die Aufständischen, sich an der neuen National Miliz zu beteiligen. Aber keiner der Räte will die Regierung Nagy anerkennen, bevor nicht Gewissheit herrscht, dass sie wirklich den Abzug der Russen zu erreichen sucht. Die Räte erklären, dass sie die Waffen nicht vor dem vollständigen Abzug der Russen aus Ungarn niederlegen werden.
Zur gleichen Zeit machen sich überall im Lande Delegationen der Arbeiterräte nach Budapest auf, um Nagy alle Bedingungen der Arbeiter wissen zu lassen. Von diesen Unterhaltungen der nächsten Tage rühren die Aufsehen erregenden Stellungnahmen Nagys her. Angesichts der notwendigen Entscheidung zwischen den Forderungen der Russen und jenen der revolutionären Arbeiter erinnert sich Nagy der Lektion der vergangenen Woche und entscheidet sich für die Revolution gegen die Bürokratie und den Apparat.
Der brüchige Waffenstillstand, der am 26. geschlossen wurde, wäre beinahe in Frage gestellt worden. Der örtliche russische Kommandeur forderte vor dem Rückzug aus Budapest das Niederlegen der Waffen durch die Aufständischen. Diese weigerten sich jedoch, und die Kämpfe flammten in der Nacht vom 29. zum 30. wieder auf.
Demzufolge proklamierte Radio-Györ am 29. um 20:30:
„Entgegen den Informationen von Radio-Kossuth setzt das Volk von Budapest seinen bewaffneten Befreiungskampf fort. Wir, die Arbeiterräte der Bergarbeiter von Pécs, von Dorog, von Tokod, von Tatabánya, von Tata, von Miskolc , haben die folgenden Entscheidungen getroffen: Wir werden unsere Forderungen, den Abzug der Russen aus unserm Land nicht anders durchsetzen können als durch die Waffe des Streiks! Die Arbeiterräte haben beschlossen, keine Kohle mehr zu produzieren, so lange es noch russische Soldaten in Ungarn gibt. Die Jugend von Györ wird nicht wieder an die Arbeit gehen, bis die letzte russische Einheit unser Land verlassen hat … Vorwärts in den Streik für ein freies und unabhängiges Ungarn!“
Schließlich gaben die Russen nach und begannen die Evakuierung aus Budapest, während die Aufständischen, von Beginn der Revolution an belagert, mit ihren Waffen abziehen konnten. Dadurch lernten nicht nur Budapest und Ungarn den Namen des Oberst Maléter kennen. Des kommunistischen Offiziers, der während der sechstägigen Belagerung der Kaserne die 1.200 aufständischen Arbeiter, Studenten und Soldaten befehligte, die in der Kilian-Kaserne von den Russen belagert wurden. Jenes Offiziers, der geschickt worden war, um die Revoltierenden nieder zu schlagen, der aber mit seinen Männern auf die Seite der Aufständischen übergegangen ist.
Zur gleichen Zeit enthüllte ein Regierungs-Kommuniqué die Nicht-Verantwortung Nagys für die Ausrufung des Kriegsrechts und des Appells an die russischen Truppen zur Niederschlagung des Aufstands:
„Radio-Kossuth, 30. Oktober, 18:30: Wir geben eine sehr wichtige Information bekannt:
Ungarn! Unser aller Kummer, unsere Scham, die Erregung der Gefühle wurde verursacht durch zwei Dekrete, die das Blut von hunderten und aberhunderten Männern fließen ließ: Eines war der Appell von Budapest an die sowjetische Armee, das andere das Kriegsrecht gegen die Freiheits-Kämpfer.
Wir nehmen die Verantwortung auf uns und erklären vor der Geschichte, dass Imre Nagy, Präsident des Ministerrats, nichts von diesen zwei Entscheidungen wusste. Seine Unterschrift befindet sich nicht unter diesen beiden Dekreten. Die Verantwortung für diese beiden Dekrete liegt allein bei Gerö und Hegedüs.“ (59)
Nagy bestätigt dies in einer großen Rede vor einer überglücklichen Menge am folgenden Tag, dem 31.Oktober:
„Als die Revolution gesiegt hatte, versuchte die Bande (Rákosi-Gerö) mich zu beschmutzen, in dem sie behauptete, ich hätte um die sowjetische Intervention ersucht. Im Gegenteil. Ich habe den sofortigen Abzug der sowjetischen Armee verlangt. Heute beginnt die Konferenz über die Abschaffung des Warschauer Pakts und den Rückzug der Russen aus unserem Land“
Am 1. November, angesichts der Militär-Bewegungen der Russen, die eine klare Verletzung der Erklärungen der russischen Regierung darstellen, geben wir die Aufsehen erregende Erklärung des Rückzugs Ungarns aus dem Warschauer Pakt und die Erklärung seiner Neutralität bekannt: „Ungarische Arbeiter, beschützt unser Land, unser freies, unabhängiges und demokratisches Ungarn.“ (60)
Imre Nagy beugte sich in diesen entscheidenden Stunden dem Willen der ungarischen Arbeiter, er hat aufgehört, die Sprache des Apparates zu sprechen. Szabad Nép antwortet in scharfen Worten auf die Anschuldigungen der Prawda und spricht eine ganz andere Sprache als die stalinistische Presse der ganzen Welt. In Wirklichkeit haben unter dem Druck der Massen, Nagy und seine Genossen mit dem stalinistischen Apparat gebrochen.
Wir haben gesehen wie diejenigen, die man die „liberalen Kommunisten“ nannte, im Rahmen der Partei für die Wiederaufnahme der Ausgeschlossenen, für einen Wechsel in der Parteiführung, mit einem Wort für eine grundlegende Neuorientierung der Partei gekämpft haben. Doch nach einigen Tagen des bewaffneten Kampfes hat sich diese Position als unhaltbar erwiesen.
Am 28.Oktober haben die Arbeiterräte die Auflösung aller Organisationen der Partei im ganzen Land vorgenommen. Wer konnte noch an eine grundlegende Neuausrichtung der Partei unter dem Zentralkomitee glauben, das Gerö gehalten und gedeckt hat, das Nagy und seine Freunde nur kooptierte, um sie mit dem Blut der Aufständischen und der von Moskau angeordneten Repression zu kompromittieren? Das Zentralkomitee löste sich selbst auf und hinterließ eine provisorische Führung, die damit beauftragt war, einen neuen Parteitag vorzubereiten. Alle Mitglieder des so gebildeten Präsidiums waren von Stalin-Rákosi ins Gefängnis geworfen und gefoltert worden. In seinem Namen erklärte János Kádár: „Nur die können Mitglied der erneuerten Partei sein, die keinerlei Verantwortung für die Verbrechen der Vergangenheit tragen.“ (61)
Angesichts einer so radikalen Erneuerung könne von nun an niemand mehr nur von einer Reform sprechen. Zwei Tage später forderte Kádár die Parteiaktivisten auf, sich den Freiheitskämpfern anzuschließen. (62)
Am 1. November erweist sich selbst die Lösung der radikal erneuerten Partei als unpraktikabel. Es gibt keine kommunistische Partei mehr. Der Apparat ist mit den Russen gegangen, hat in den Reihen der Avos gekämpft, während viele Parteimitglieder auf Seiten der Revolutionäre kämpften. Niemand denkt heute daran, einer, wenn auch „erneuerten“, stalinistischen Partei beizutreten. In dem Wunsch „für immer mit der Vergangenheit zu brechen“, gründen Nagy, Kádár, Lukács, Szántó eine neue Partei, und nennen sie, um mit der offiziellen Organisation zu brechen, Sozialistische Arbeiterpartei Ungarns.
Erkennen sie ihre Niederlage, die Unmöglichkeit eine stalinistische Partei zu reformieren, sie neu auszurichten? Nach außen hin zumindest beugen sie sich vor dem Verdikt der ungarischen Massen: Anti-Stalinisten und Kommunisten gründen eine neue Partei, die sich auf den Leninismus beruft. Aber ist es nicht bedeutungsvoller, dass ein Aktivist wie Miklós Gimes sich weigert, der neuen Formation beizutreten, von der er glaubte, dass sie keinen wirklichen Bruch mit dem Stalinismus bedeute?
Vom 28. an, als er die Feuereinstellung verkündete, hatte Nagy die Räte anerkannt und versprochen, den Erfolg ihrer Forderungen zu sichern. Er ging sogar noch weiter und „schlug den verschiedenen Arbeiterräten und revolutionären Komitees vor, ihre Aktivitäten zu koordinieren und eine Art ‚Generalstände des Aufstands’ zu bilden.“ (63) So würde eine wirkliche Räterepublik entstehen, eine authentische Vertretung der bewaffneten Arbeiter, vermittels eines Arbeiterparlaments. Es war unmöglich, auf dem Weg der Revolution noch weiter zu gehen, und in diesem Punkt traf sich Nagy mit dem Rat von Miskolc, der sehr ähnliche Vorschläge an alle Räte der Provinz gemacht hatte.
In der Armee bildeten sich revolutionäre Soldaten-Komitees. Auf der Versammlung ihrer Delegierten am 30.Oktober im Verteidigungsministerium entstand dann das endgültige revolutionäre Komitee der Armee. (64) Es veröffentlicht sofort ein Manifest, in dem erklärt wird, dass die Armee auf der Seite des Volkes steht, um die Errungenschaften der Revolution zu verteidigen, dass eine gewisse Zahl reaktionärer Offiziere ausgeschlossen wurde, und dass die Armee mit der Entwaffnung der Avos fortfahren wird. (65)
Am gleichen Tage wird bekannt, dass das Komitee der revolutionären Juristen Ungarns nach dem Studium der Akten, die seine Aktivitäten betreffen, die Demission des Generalstaatsanwaltes, György Non, erzwungen hat. (66)
Im Außenministerium entstand ein revolutionäres Komitee und machte der Regierung konkrete Vorschläge für eine Reorganisation der Vertretung Ungarns nach außen und rief die UNO-Delegation zurück, die die Ansichten der Revolutionäre nicht unterstützt hatte.
Wir haben gesehen, wie die Eisenbahner die Abberufung des Ministers Bebrits, wie das revolutionäre Komitee der Universität den Rücktritt des Innen-Ministers Münnich erwirkte. Auf allen Stufen, in allen Orten, in der gesamten Verwaltung nehmen die Arbeiterräte und die revolutionären Komitees ihre eigenen Angelegenheiten in die Hände. Eine neue sozialistische Demokratie entsteht, die authentische Arbeiterdemokratie der Räte, identisch mit den Räten von 1917.
Am 27. Oktober in der Zeitung Népszava und am 3. November in Népakarat präsentieren die durch die Arbeiter von den alten Führungen gereinigten Gewerkschaften ein Programm, das die Wünsche der Arbeiter in dieser entscheidenden Woche ebenso widerspiegelt wie die Orientierung der ungarischen Revolution: Ein Ende der Kämpfe durch Verhandlungen mit den Führern der aufständischen Jugend, Konstituierung einer Nationalmiliz mit Arbeitern und Jugendlichen zur Unterstützung von Armee und Polizei, Verhandlungen über den Abzug der sowjetischen Truppen. (67) Im Übrigen fordern sie die Bildung von Arbeiterräten in allen Fabriken mit Mitspracherecht beim Plan und bei der Festsetzung der Normen. (68) Diese Räte werden die Etablierung einer wirklichen Lenkung der der Wirtschaft durch die Arbeiter und die „radikale Transformation des Systems der Planung und Leitung der Wirtschaft“ erlauben. Im Bewusstsein der parasitären Rolle der in den Fabriken installierten Bürokratie verlangen sie im selben Atemzug eine sofortige und degressive Erhöhung der unteren Lohngruppen auf 1.500 Forint im Monat und die Schaffung einer Obergrenze der Löhne von maximal 3.500 Forint. Diese Forderung, die mit der Forderung der Szegeder Studenten vom Vorabend der Revolution einhergeht, zeigt bis zu welchem Grade die ungarischen Arbeiter sich bewusst waren, welche Rolle die Lohnhierarchie bei der Spaltung der Arbeiter als einer der Angelpunkte im System der stalinistischen Bürokratie darstellt. Die Gewerkschaften fordern außerdem das Streikrecht und die Verurteilung des Systems der Arbeitsnormen. Am 3. November proklamieren sie ihre Unabhängigkeit gegenüber jeder Partei und jeder Regierung sowie ihren Willen, an der Leitung der revolutionären Organe und an den nächsten allgemeinen Wahlen teilzunehmen. Schließlich entschieden sie mit der WGB (Moskau-orientierter internationaler Gewerkschaftsbund) zu brechen, deren Präsident, Vaillant, sie beleidigt hatte. Gleichzeitig halten sie den Kontakt mit allen anderen internationalen gewerkschaftlichen Organisationen aufrecht. (69)
Das angenommene Programm des revolutionären Komitees der Intellektuellen „gegründet am 28.Oktober im Zentralgebäude der Lorand Eötvös Universität Budapest und alle Organisationen der Intellektuellen, der Schriftsteller, Gelehrten, Künstler, und Studenten vereinigend“ ist nicht weniger aufschlussreich hinsichtlich des Willens der ungarischen Revolutionäre, eine wirkliche sozialistische Demokratie zu errichten, so wie der sich bietenden Möglichkeiten, schnell eine Führung und ein klares Programm für alle Revolutionäre zu schaffen.
1. Sofortige Regelung unserer Beziehungen zur Sowjetunion heißt Rückzug der sowjetischen Truppen von ungarischem Territorium.
2. Sofortige Annullierung aller mit dem Ausland geschlossenen Handelsverträge, die unserer nationalen Wirtschaftsentwicklung schaden. Das Land muss von der Natur dieser Handelsverträge informiert sein. Dies betrifft auch die Exporte von Uran und Bauxit.
3. Allgemeine und geheime Wahlen. Die Kandidaten müssen vom Volk benannt werden (statt wie bisher von der KP).
4. Fabriken und Bergwerke müssen wirklich den Arbeitern gehören. Die Fabriken und Ländereien müssen Eigentum des Volkes bleiben, und nichts darf den Kapitalisten und Großgrundbesitzern zurückgegeben werden. Die Fabriken müssen von frei gewählten Arbeiterräten geleitet werden. Die Regierung muss das Existenzrecht der kleinen Handwerker und kleinen Kaufleute schützen.
5. Abschaffung des alten schändlich missbräuchlichen Systems. Die zu niedrigen Gehälter und Renten müssen entsprechend den Möglichkeiten unserer Wirtschaft erhöht werden.
6. Die Gewerkschaften müssen wirklich die Interessen der Arbeiterklasse verteidigen, und ihre Führer müssen frei gewählt sein. Die Bauern können ihre eigenen Gewerkschaften bilden.
7. Die Regierung muss die Freiheit der landwirtschaftlichen Produktion garantieren und den kleinen Bauern und den freiwillig gebildeten Kooperativen zu Hilfe kommen. Das schändliche System der Zwangsablieferung muss abgeschafft werden.
8. Den von der Zwangskollektivierung frustrierten Bauern muß Recht gegeben und Entschädigung gezahlt werden
9. Die Regierung muss vollständige Presse- und Versammlungsfreiheit garantieren.
10. Der 23.Oktober, Tag der Erhebung unseres Volkes für seine Freiheit, muß zum Nationalfeiertag erhoben werden. (70)
Der Abzug der Russen ließ die Avos in Budapest den Aufständischen gegenüber allein zurück. Die Rechnung wurde schnell beglichen. Die westliche Presse hat sensationslüstern in großer Auflage alle Details der Jagd auf die Avos geschildert, mit der sich die Aufständischen an den Tagen ihres kurzlebigen Sieges beschäftigten. Es ist daher unnötig diese hier nochmals zu erzählen, aber einige Erklärungen sind nötig.
Vor allem haben, die Aufständischen die Avos gejagt, weil sie sie hassten. Der Korrespondent des Daily Worker [1], Charlie Coutts betitelte einen seiner Artikel, „warum hasst man die Avos“. (71) Spitzel und Folterer, arrogant und allmächtig, hatten die Avos zehn Jahre lang den Hass eines ganzen Volkes auf sich konzentriert. [2] Das Verhalten der AVH seit Beginn des Aufstands, die Schießerei am Platz des Radios, dann besonders jene am Platz des Parlaments ließen das Faß des Hasses in den Revolutions-Tagen überlaufen.
Darüber hinaus mussten die Avos tatsächlich gejagt werden, da sie eine reale Gefahr darstellten. Solange die russischen Truppen in Ungarn stationiert waren, solange Budapest in Reichweite ihrer Kanonen lag, solange ihre Rückkehr möglich war, solange stellte jeder bewaffnete Avos eine tödliche Gefahr im Rücken der Revolutionäre dar. Im freien Budapest stellten die Avos die fünfte Kolonne dar: Die Aufständischen wollten ein sicheres Hinterland haben.
Sicherlich haben nicht alle Revolutionäre die übertriebene Art und Weise, mit der die Hauptstadt von den Avos gereinigt wurde, gebilligt. Man weiß, dass am Abend des 31.Oktober eine Delegation der Avos den Schriftstellerverband bat, bei den Freiheitskämpfern für ein Abkommen zu intervenieren, welches den Avos das Leben sichern sollte. Doch die Intervention der Schriftsteller, von denen mehrere – und zwar die besten – von den Avos gefoltert worden waren, blieb ohne Wirkung. Darüber hinaus betonte am 3.November Béla Kiraly, Chef der bewaffneten revolutionären Kräfte, den Befehl der neuen Regierung und der Komitees, dass niemand auf der Stelle getötet werden darf, sondern dass die Avos vor ein Tribunal gestellt werden müssen. (72) Tatsächlich hörte die Jagd auf die Polizisten der AVH nicht vor dem 2. November auf, als man keine mehr finden konnte. (73)
Die Presse der stalinistischen Parteien hat sich dieser Tatsachen bemächtigt, und versucht daraus Argumente zu ziehen, um eine weiße Konterrevolution zu beschreiben, die kommunistische Aktivisten in den Straßen Budapests jagte. Doch selbst die von ihnen zitierten Tatsachen strafen diese These Lügen: Sie schreiben zum Beispiel, dass „einem Parteiaktivisten, dem Genossen Keleman, von der Menge, die ihn erkannt hatte, der Strick um den Hals wieder abgenommen wurde“. (74) Humanité [3] gibt also zu, dass die Menge denjenigen nicht tötete, den sie für einen Avo hielt, als sie entdeckte dass es sich um einen Kommunisten handelte. Der einem tragischen Irrtum geschuldete Tod des kommunistischen Veteranen Imre Mezö, Sekretär der KP von Budapest, ehemaliger Kämpfer der Internationalen Brigaden in Spanien und der FTP-MOI [4] und mutiger Gegner von Rákosi, widerspricht nicht dieser Interpretation. In der Tat wurde er während des Sturms auf das Parteigebäude getötet, als er Delegationen der Revolutionäre empfing. Hierher waren auch die gejagten Avos gekommen, die mit der Waffe in der Hand am Kampf teilnahmen und damit auch andere Anwesende in den Büros mit in den Tod rissen.
Massaker, exemplarische Exekutionen, Lynchjustiz haben bis zu unseren Tagen die meisten Revolutionen begleitet. Muss man an die September-Massaker der französischen Revolution erinnern, die Geiselerschießungen während der Pariser Kommune und die gleichen Taten während der Oktoberrevolution, der spanischen Revolution oder in allen europäischen Ländern bei der Befreiung 1944/45? Die Rache der Massen ist umso schrecklicher, je brutaler und grausamer die Konterrevolutionäre waren, die diesen Hass überhaupt erst hervorgerufen haben. Die Avos haben das geerntet, was sie gesät hatten: Sie verbrannten in dem von der Bürokratie gelegten Feuer. Denn sie waren ihre Männer für die Dreckarbeit.
Auf die Nachricht vom Ungarn-Aufstand versuchten zahlreiche Emigranten ins Land zurückzukehren: Bürgerliche Demokraten, Sozialdemokraten, Faschisten. Man kennt die These von Humanité wonach die Emigranten die Kader der konterrevolutionären Bewegung stellten, die dergestalt unter der Führung Nagys gesiegt hätte, wenn nicht die rettende Invasion der sowjetischen Armee gewesen wäre.
Eine gewisse Zahl von Fakten widerlegt diese These. Es ist zu allererst das Memorandum der österreichischen Regierung vom 3. November:
„Die österreichische Regierung hat die Einrichtung einer Sperrzone entlang der ungarischen Grenze verordnet … Das Verteidigungsministerium hat diese Sperrzone in Anwesenheit der Militärattachés der vier Großmächte inspiziert, inklusive des Militärattachés der UdSSR. Diese haben sich der Wirksamkeit der Maßnahmen in der Sperrzone zur Grenzsicherung und zum Schutz der österreichischen Neutralität versichert. Alle Vorkehrungen, um das Einsickern von Emigranten zu verhindern, wurden vorgenommen. Die österreichischen Behörden haben den ehemaligen Vorsitzenden des Ministerrats, Ferenc Nagy von der Partei der kleinen Landwirte, der plötzlich in Österreich ankam, gebeten, sofort das österreichische Territorium zu verlassen. Dieses ist auch den sowjetischen Behörden bekannt. Die Erlaubnis in Österreich zu bleiben, wurde auch den Führern der politischen Emigranten verweigert … Der österreichische Botschafter in Moskau hat das Außenministerium der UdSSR von diesen Tatsachen unterrichtet.“
Trotz der Kampagne der stalinistischen Presse hat die sowjetische Regierung niemals diesen Tatsachen gegenüber der österreichischen Regierung widersprochen. (75)
Ebenso hat der ehemalige Generalsekretär der sozialistischen Jugend Ungarns, Ferenc Eröss, Schriftsetzer in Brüssel, die ungarische Grenze nicht passieren können, da er von den Aufständischen selbst zurückgewiesen wurde, die außerdem diesen Vorsichtsmaßnahmen zustimmten. (76)
Humanité hat ebenfalls viel Lärm um die Befreiung des Prinzen Esterházy, dem größten Grundbesitzer von Vorkriegs-Ungarn gemacht, dessen Befreiung laut Humanité den Charakter der Bewegung als „Horthy-Bewegung“ zeigen würde. Tatsächlich aber wurde er, wie alle Opfer der Rákosi-Diktatur, mit den anderen politischen Gefangenen befreit. Der Prinz hat sich sehr wohl gehütet, auf der von der Flamme der Revolution kochenden Erde Ungarns zu bleiben und ist ohne Pauken und Trompeten nach Österreich gegangen, um sein immenses Vermögen in Frieden zu genießen. Er hat von dort noch Hilfsgüter und Kleidung an die Bauern seiner ehemaligen Domänen in Ungarn geschickt. Diese wurden ihm unangerührt zurückgesandt. (77) Kann man sich vorstellen, dass die Bauern ihr Blut vergießen und kämpfen, um erneut eine jahrhunderte dauernde Knechtschaft zu erdulden?
Kardinal Mindszenty war das Thema der sensationellsten Erklärungen und Informationen jener, die als Bürgerliche oder als Stalinisten die Revolution um jeden Preis als weiße Gegenrevolution in Ungarn deklarieren wollten. So hat Radio-Prag am 1. November eine Nachricht über eine vom Primat geführte Regierung verbreitet, die eine von der französischen Presseagentur AFP übernommene Nachricht sein sollte, zur Freude der ganzen reaktionären Presse und auch von Humanité. In diesem Fall waren sie glücklich, eine Erfindung von Radio Free Europe [5] zu übernehmen, um ihre eigenen Ansichten zu „belegen“!
Tatsächlich ist Kardinal Mindszenty ein reaktionärer Dickkopf, ein unversöhnlicher Gegner der Revolution. Aber er ist befreit worden wie Graf Esterházy, durch eine Revolution, die gutmütig wie anfangs alle Revolutionen, die Gefängnistore weit öffnete.
Man hat dem Kardinal alle möglichen Äußerungen in den Mund gelegt. Insbesondere seine Erklärung bei Radio-Budapest hätte die Russen verängstigt und zur Intervention veranlasst. Der englische Journalist Mervyn Jones hat die Protokolle dieser Rede vom 3. November überprüft: Mindszenty hat von einem „Kampf für die Freiheit“ gesprochen, der in Ungarn stattfand, und er versicherte, dass das ungarische Volk den Willen zu „einer auf Gerechtigkeit basierenden friedlichen Koexistenz“ zum Ausdruck gebracht habe. Er hat weiter gefordert, dass die Rákosi-Leute vor „unparteiische, unabhängige Gerichte“ gebracht werden, er hat sich gegen jeden Geist der Rache ausgesprochen. Sein Programm:
„Wir wollen alle eine Gesellschaft ohne Klassen und einen Staat, in dem die Gesetze geachtet werden, ein Land, das demokratische Strukturen entwickelt, und auf privatem Eigentum beruht, nur beschränkt durch die Bedürfnisse der Gesellschaft und der Justiz.“
Er verlangte nicht die Zurückgabe der beschlagnahmten Kirchengüter, aber die Freiheit der religiösen Lehre, und die Presse- und Organisationsfreiheit für die Katholiken. Soll das bedeuten, der Kardinal wäre zu irgendeiner Form christlicher „sozialistischer“ Demokratie konvertiert? Sicherlich nicht, aber wie Jones annimmt, ist es einfach so, „weil das Übergewicht der demokratischen Kräfte so ungeheuer, die Perspektiven für eine Konterrevolution so gering waren“, dass der Kardinal überhaupt keine andere Sprache sprechen konnte. (78) Der jugoslawische Journalist Vlado Teslic, gibt in einer Depesche, in der er nach der Befreiung Mindszentys von den Risiken einer „Rechtsentwicklung“ spricht, wertvolle Informationen: Die Rechten verteilen Flugblätter mit dem Titel, „wir haben es mit Arbeiterräten zu tun, in denen die Kommunisten ihren Finger haben“. Aber in der Öffentlichkeit schweigen die Mindszenty dazu. Ein anderer jugoslawischer Korrespondent, Djuka Julius, hatte eine kleine Gruppe junger Leute gesehen, die handgemalte Plakate klebte, die die Ausschaltung der Kommunisten und die Bildung einer Regierung Mindszenty verlangten und „gemäßigt faschistische Parolen“ enthielten. Am nächsten Tage schrieb er, nach einer Versammlung der Arbeiterdelegierten der metallurgischen Werke Csepel unter Leitung ihres Präsidenten Elek Nagy, dass der Appell der Faschisten „die sozialistischen Errungenschaften zu liquidieren“ buchstäblich keinerlei Echo in der Bevölkerung findet. Während seiner Pressekonferenz am 3. November weigert sich Mindszenty, dessen Absichten sicher in Richtung einer christdemokratischen Partei gingen, auf die Frage eines ungarischen Journalisten zu antworten, ob er ein Regierungsamt anstrebe, und verlässt den Saal.
Humanité bezeichnete József Dudás, Präsident des revolutionären Komitees von Budapest, als Führer der Konterrevolution und als „Faschist“. (79)
Wer war also dieser Dudás in Wirklichkeit? Ein „faschistischer Journalist“ wie Humanité schrieb, oder ein „Ingenieur“, wie der ebenfalls kommunistische Daily Worker versicherte. Er selbst bezeichnete sich Journalisten gegenüber als alter kommunistischer Aktivist, Mitglied der kommunistischen Partei zur Zeit der Nazi-Besatzung, der 1947 zur Partei der kleinen Landwirte übergegangen, wenig später verhaftet, 1956 befreit und einige Tage vor der Revolution, noch unter dem Gerö-Regime, rehabilitiert wurde. Weder Humanité noch Daily Worker leugnen, dass er eine gewisse Zeit in die Reihen der KP „gerutscht“ sei.
Doch bei all seinen spektakulären öffentlichen Auftritten während der Revolutions-Tage gibt es nichts, was erlaubt, ihm das Etikett „Faschist“ anzuhängen. In seiner Zeitung Unabhängigkeit (Függetlentseg) hat er vier Artikel geschrieben, deren Themen nach Anna Kéthly waren, „dass man keine der wirtschaftlichen Reformen von 1945 antaste, Rückzug der sowjetischen Truppen, Freiheit der Presse und der Assoziation und freie Wahlen“. (80) Aber wir wissen auch, dass seine Zeitung am 30. Oktober die Schlagzeile auf der Titelseite hatte, „Wir erkennen die aktuelle Regierung nicht an“. Und dass er am folgenden Tage von Nagy empfangen wurde, wobei er für sich selbst das Außenministerium gefordert habe. (81) Da er hier eine klare Absage erhielt, hat er sich mit seinen Anhängern für einige Stunden des Außenministeriums bemächtigt. Daraufhin wurde er auf Befehl der Regierung verhaftet. (82)
War er ein Abenteurer, der für sich selbst Gewinn aus der Revolution ziehen wollte? Seine Haltung lässt dies vermuten. Das ist auf jeden Fall die Hypothese, die sich aufdrängt, wenn man den Bericht des polnischen Kommunisten Woroszylski liest, der über ein Gespräch berichtet und daraus eine Analyse erstellt. Aber dies zeigt nur, dass ein Abenteurer, der etwas erreichen will, sich davor hüten musste, in der gegebenen Situation eine faschistische Sprache zu benutzen. Und es beweist, dass die Regierung Nagy am 3. November ziemlich solide verankert war, wenn sie einen Mann mit so wichtigen Funktionen so schnell festnehmen konnte. Humanité berichtet von diesem Abenteuer in der ihr eigenen Art und schließt den Bericht brüsk: „So wurde Dudás also verhaftet.“ (83) Aber kein Wort von wem verhaftet. Und das aus gutem Grund. Denn wäre Dudás, wie Humanité behauptet, ein wirklicher Faschist, wie wollte die PCF-Zeitung erklären, dass Nagy, laut Humanité der Ober-Faschist der Konterrevolution, ihn verhaften lässt? Diese Verleumdungen sind alle zu plump: Wenn man nachbohrt, zerfallen sie wie ein Kartenhaus.
Die Fakten sind eindeutig. Es ist klar, dass auch gegenrevolutionäre Tendenzen zum Ausdruck kamen. Es ist nicht weniger sicher, wie es der Sonderkorrespondent des Daily Worker, der Kommunist Peter Fryer, in seiner Austrittserklärung aus der britischen KP schrieb, dass „das bewaffnete Volk sich der konterrevolutionären Gefahren bewusst war, es aber im höchsten Grade dazu in der Lage war, diese selbst hinweg zu fegen“. (84) Nach den harten Kämpfen der ersten Woche, gab es in Ungarn eine wahre Explosion der Freiheit, die sich in einer Versöhnung aller Klassen, die gegen die Russen gekämpft hatten, äußerte. Und es gab eine gewisse Verwirrung: Nichts legt davon besser Zeugnis ab, als die aus dem Boden sprießenden neuen Zeitungen der verschiedensten Art. Von den „wirklichen“, gedruckten, über hektographierte, Wachsmatritzen-vervielfältigte, und selbst hand- und maschinengeschriebene Zeitungen, wurden verbreitet und z. T. verklebt. Natürlich konnten sich in dieser Atmosphäre auch Reaktionäre artikulieren, aber mehr eben nicht. Eine reaktionäre Zeitung ist erschienen, Der Morgen (Virradat). Davon ist nur eine Ausgabe erschienen, weil die Arbeiter der Druckerei sich danach weigerten die nächste Ausgabe zu drucken. (85) Das hat natürlich westliche, bürgerliche Zeitungen nicht daran gehindert, vom Aufblühen antikommunistischer Zeitungen zu schreiben. Es genügt, auf eine einzige Zeitung zu verweisen, Die Wahrheit (Igazssag), das Organ der revolutionären Jugend, das von dem jungen kommunistischen Intellektuellen Obersovszky und dem Herausgeber der Zeitung des kommunistischen Jugendverbandes geleitet wurde, und man bekommt eine Vorstellung davon, was dieser so genannte „Antikommunismus“ damals war.
Wir erwähnen nicht nur der Erinnerung wegen die These, wonach die ungarische Revolution sich an einer „Demokratie westlicher Art“ orientierte. Alles widerspricht dieser These, und alles hat ihr sofort widersprochen: Der Widerstand der Arbeiter, die Tätigkeit der Räte, die von den Russen ausgehende Repression gegen die Arbeiterelemente in der ungarischen Revolution. Diese These hatte nur eine Aufgabe: Den Stalinisten Argumente zu liefern, um die Repression zu rechtfertigen.
Tatsächlich war die von der ungarischen Revolution ausgehende politische Orientierung so gewaltig, dass in Ungarn kein Mensch ihrem Einfluss entgehen konnte, und dass kein Mensch handeln konnte, ohne ihr Rechnung zu tragen. In dieser Hinsicht sind die Grundlagen, auf denen die kleinbürgerlich-reformistischen Parteien in Ungarn wieder neu gegründet wurden, sehr aussagekräftig. So sind es nicht so sehr die Anwesenheit und Namen eines Béla Kovács und anderer reformistischer Führer, denen man große Bedeutung zubilligen kann, um die wirkliche Bedeutung der dritten Regierung Nagy beurteilen zu können: Es ist vielmehr ihre Sprache, es ist das Programm, auf dessen Basis sie sich einigen konnten, das man studieren muss. Angesichts der soeben geborenen Macht der Arbeiterräte konnte die Wiederherstellung der Regierungsmacht sich nicht anders gestalten als über eine Sprache, die geeignet war, ein Echo bei den aufständischen Massen zu finden.
Das Politbüro der KPF sprach „von denjenigen, die Hitlers Verbündete waren, den Repräsentanten der Reaktion und des Vatikans, die der Verräter Imre Nagy an die Regierung gebracht hat“. (86) Doch die französische reaktionäre Presse war bemerkenswert stumm über die Einsetzung der Regierung, die entsprechend den Forderungen der Arbeiterräte unter Einschluss der Repräsentanten aller demokratischer Parteien und der Führer der Aufständischen entstand. Nagy, Kádár, Losonczy traten tatsächlich in die Regierung ein und die Repräsentanten der unter Rákosi legalen Parteien, auch wenn sie nur ein Schattendasein geführt hatten, und der Volksheld des bewaffneten Aufstands in Budapest, Maléter, als Repräsentant der „Freiheitskämpfer“.
Seit ihrer Abfahrt aus Budapest hat Anna Kéthly [6] die Ansichten ihrer Partei ausführlich dargelegt. Aber es ist wichtig zu unterstreichen, dass sie in der Zeitung ihrer Partei, Weg des Volkes (Népszava) (87) vom 1. November erklärte:
„Wachen wir über unsere Fabriken und unsere Bergwerke, und das Land, das in den Händen der Bauern bleiben muss.“ (88)
Gyula Kelemen, Sekretär der Partei, benutzte die gleiche Sprache. Als er eine jugoslawische Journalisten-Delegation empfing, sagte er ihnen, dass seine Partei „mit der größten Entschlossenheit dafür kämpfe, dass die Eroberungen der Arbeiterklasse erhalten bleiben, und dass er die Arbeiterräte unterstützen werde“. (89)
Anlässlich der Versammlung zur Wiederbegründung der Partei der kleinen Landwirte am 21.Oktober in Pécs stellte Béla Kovács fest:
„Die Frage ist, ob die wieder begründete Partei aufs neue ihre alten Ideen vertreten wird. Niemand kann von einer Rückkehr in die Welt der Grafen, Bankiers und Kapitalisten träumen; diese Welt ist tot, ein für alle Mal. Ein wahrhaftes Mitglied der Partei der kleinen Landwirte kann heute nicht denken wie 1939 oder 1945.“ (90)
Und Ferenc Farkas, Sekretär der nationalen Bauernpartei, die zur Petöfi-Partei wurde, unterstreicht am 3.November, dass die „Regierung von allen sozialistischen Errungenschaften das festhalten werde, was in einem demokratischen, freien und sozialistischen Lande nützlich sein könne“. (91)
Und schließlich gibt es noch Maléter, den Offizier, der in den aller ersten Stunden von der Honvéd zu den Aufständischen überlief, und der mit 1500 jungen Arbeitern, Studenten und Soldaten die Kilian-Kaserne gehalten hat; Maléter der Heros der „Freiheitskämpfer“. Wer ist er? Nach Humanité „ein alter Horthy-Offizier, der so getan hatte, als ob er sich der ungarischen Volksdemokratie anschließen würde“. (92) Tatsächlich ist er ein alter Kommunist, ehemaliger Spanienkämpfer [7], der in der Kriegsgefangenschaft für den Kommunismus gewonnen wurde, ehemaliger Schüler der russischen Militärakademie, der während des Krieges über Ungarn mit dem Fallschirm abgesprungen ist, und zum Führer der ungarischen Partisanen wurde. Der Sonderkorrespondent des Daily Herald, der Labour-Anhänger Basil Davidson, hat ihn interviewt:
„Er trug noch seinen kleinen Partisanen-Stern von 1944 (und einen anderen roten Stern, den sein Bataillon in den Kohlegruben von Tatabánya erhalten hatte) zu einer Zeit, wo alle anderen Offiziere ihre den sowjetischen ähnlichen Schulterstücke abgerissen hatten.“
Davidson fragt ihn, wohin die ungarische Revolution gehe.
„Wenn wir uns der Russen entledigen können“, antwortete Maléter, „so glauben Sie nicht, dass wir in das Gestern, in die vergangenen Tage zurückkehren werden. Und wenn es Leute gibt, die glauben, dass wir nach gestern zurückkehren, na ja, wir werden sehen“, und er legte die Hand auf seinen Revolver. (93)
Die Haltung des jungen kommunistischen Führers der ungarischen Armee war klar. Sie entsprach ganz dem Bild der Regierung, deren Mitglied er war, und die soeben das Programm und die Institutionen der Revolution angenommen hatte. In ihrem Namen erklärte der Kommunist Géza Losonczy, dass man „die Nationalisierung der Fabriken, die Landreform, und die sozialen Eroberungen nicht in Frage stellen lasse“. Er erklärte sich bereit, für „die nationale Unabhängigkeit, die Gleichheit der Rechte und den Aufbau des Sozialismus, nicht durch eine Diktatur, sondern auf Grundlage der Demokratie zu kämpfen“. (94)
Die Revolution der Arbeiterräte hatte somit ihr erstes Stadium siegreich erreicht. Überall herrschte die Ordnung der Räte und der bewaffneten Arbeiter. Die Ungarn bereiteten sich trotz der Zerstörungen darauf vor, „eine lachende Zukunft“ aufzubauen. Mikoyan und Suslow waren nach Moskau zurückgekehrt und hatten Imre Nagy ihrer Unterstützung versichert. Es war der Abend des 3. November, als sich die Russen in verräterischer Weise Maléters und seines Generalstabschefs, die gekommen waren, um über den russischen Abzug zu verhandeln, bemächtigten. Am 4. November richteten sie ihre Granaten, Kanonen und Panzer auf die Revolution, während die stalinistische Presse der ganzen Welt den Mördern den Weg ebnete und zur Treibjagd auf die ungarischen Revolutionäre aufrief.
1. Der Daily Worker ist die offizielle Parteizeitung der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB).
2. Bei den Säuberungen 1949–1952 wurden zig Tausende Kommunisten und Sozialisten verhaftet und gefoltert. Es gab 2.000 Hinrichtungen und 200.000 Menschen, das sind bei 9,5 Millionen Einwohnern 2 % der Bevölkerung, in Straflager gesperrt. Angaben nach Fetjö, a.a.O.
3. Die Humanité ist die offizielle Parteizeitung der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF).
4. Die FTP-MOI (Francs-Tireurs Partisans – Main d’Œuvre Immigrée / Freischärler und Partisanen – Immigrierte Arbeitskräfte) war die Migranten-Abteilung der kommunistischen Partisanen Frankreichs. Neben Italienern, Armeniern, republikanischen Spaniern usw. kämpften vor allem viele osteuropäische Juden in ihren Reihen.
5. Radio Free Europe ist ein US-amerikanischer Propagandasender, der als Propagandainstrument im Kalten Krieg diente, aber immer noch fortbesteht. Die ungarische Redaktion wurde im Nov. 56 sogar vom Sender wegen ihrer eigenmächtigen Versprechen bzgl. militärischer Hilfe des Westens entlassen!
6. Anna Kéthly (1889–1976). Als linke Sozialdemokratin opponierte sie gegen den Zusammenschluss mit der KP) und war unter Rákosi erst im Gefängnis und dann unter Hausarrest. Sie wird kurz vor der Revolution freigelassen und Parteivorsitzende der wiederbegründeten Sozialdemokraten, später Ministerin der dritten Regierung Nagy. Sie befand sich während der zweiten russischen Intervention in Wien auf einem Kongress der Sozialistischen Internationale und ging ins Exil nach London.
7. Die Angabe Broués, dass Maléter Spanienkämpfer war, ist zweifelhaft.
54. Journal du Dimanche, 27. Oktober
55. Times, 29. Oktober
56. Ibidem
57. Le Monde, 30.Oktober
58. Ibidem
59. Kommunique nach Radio-Kossuth, 30. Oktober
60. Radio-Kossuth, 31. Oktober, 20:01
61. Le Monde, 1. November
62. New York Times, 31. Oktober
63. France-Observateur, 1. November
64. New York Times, 30. Oktober
65. Franc-Tireur, 31. Oktober
66. Ibidem
67. Le Monde, 28. Oktober
68. United Press, 27. Oktober
69. Le Monde, 14. November
70. Nach Pologne-Hongrie 1956, EDI, S. 196–197
71. The Daily Worker, 1. Dezember
72. New York Times, 4. November
73. France-Observateur, F. Fejtö, 8. November
74. L’Humanité, 17. November
75. Tribune, 23. November
76. Le Peuple, 14. November
77. Anna Kéthly in Franc-Tireur, 30. November
78. Tribune, 30. November
79. L’Humanité, 16. November
80. Anna Kéthly in Franc-Tireur, 30. November
81. Le Monde, 5. Dezember
82. Ibidem
83. L’Humanité, 16. November
84. The Daily Worker, 16. November
85. Demain, 29. November
86. L’Humanité, 5. November
87. Népszava (Stimme des Volkes) war das Organs der ungarischen Sozialdemokraten seit Ende des vorhergehenden Jahrhunderts. Nach der Zwangsvereinigung mit der KP im Juni 1948 wurde es zum Zentral-Organ der Gewerkschaften. Während der Revolution 1956 wurde es wieder Organ der Sozialdemokratie, dann reorganisiert und blieb Zentral-Organ der Gewerkschaften.
88. Tribune, 23. November
89. Ibidem
90. Ibidem
91. Ibidem
92. Ibidem
93. Ibidem
94. Le Parisien libéré, 5. November
Zuletzt aktualisiert am 6.7.2011