Pierre Broué

1956: Die ungarische Revolution der Arbeiterräte


I. Revolution in Budapest


Am 21. und 22. Oktober 1956 sind die in ihren Fabriken versammelten polnischen Arbeiter bereit, einer drohenden russischen Militär-Intervention Widerstand zu leisten. Am Abend des 21. verkündet Radio Warschau den Sieg des „Frühlings im Oktober“: Moskau hat nachgegeben. Sein Statthalter Rokossowski [1] ist aus dem polnischen Politbüro entfernt, und der von Stalin ins Gefängnis geworfene KP-Veteran Gomułka wird Generalsekretär der polnischen KP. Die polnischen Arbeiter jubeln und feiern ihren Sieg.

Die ungarischen Arbeiter und die ungarische Jugend erfahren die große Neuigkeit. Sie befinden sich seit Monaten ebenso im Kampf. Zuerst haben die Intellektuellen das Wort ergriffen und die Freiheit der Kunst gefordert. Ermutigt von der allgemeinen Begeisterung forderten sie dann die Freiheit auf allen Gebieten. Die Jugend hat ihnen begeistert applaudiert. Der kommunistische Schriftsteller Gyula Háy erklärte:

“Nicht ich bin es, der die Jugend zur Freiheit gestoßen hat. Vielmehr ist es die Jugend die mich gestoßen hat … Ich kritisierte die Auswüchse der Bürokratie, die Privilegien, die Verzerrungen, und je weiter ich ging, um so mehr fühlte ich mich von einer Woge der Sympathie und Begeisterung getragen. Ein unwiderstehlicher Freiheitsdrang stieg zu uns Schriftstellern empor.“ (1)

Die kommunistischen Schriftsteller stellen die Forderungen der Jugend. “Es ist Zeit, mit diesem Polizei- und Bürokratenstaat Schluss zu machen“, verkündete Tibor Déry. (2) Der 74 jährige Kommunist Gyula Hajdu, seit 50 Jahren als Aktivist in der Bewegung, stellt die Bürokraten an den Pranger:

Wie können die kommunistischen Führer wissen, was los ist? Sie kommen nie unter Arbeiter und einfache Leute. Sie treffen uns nicht in den Bussen, denn sie alle haben ihre Autos. Sie begegnen uns nicht in den Geschäften und nicht auf dem Markt, denn sie haben ihre Sonderläden. Sie treffen uns nicht im Krankenhaus, denn sie haben ihre eigenen Sanatorien.“ (3)

Die junge Journalistin Judith Mariássy antwortete den Bürokraten, die sie scharf gerügt hatten, stolz:

“Die Schande besteht nicht darin, von den Luxusgeschäften und den mit Stacheldraht umzäunten Häusern zu sprechen. Die Schande besteht in der Existenz dieser Geschäfte und Villen. Beseitigt die Privilegien und keiner wird mehr darüber sprechen!“ (4)

Im Petöfi-Kreis, einem Ende 1955 von der kommunistischen Jugendorganisation der Partei (DISZ) geschaffenen Diskussionsforum, haben große Debatten es erlaubt, die politischen Probleme, die die Ungarn und besonders die Jugend bewegen, öffentlich zu diskutieren, indem man sich auf die Ergebnisse des XX. Parteitags der KPdSU berief, wo Chruschtschow am 23.Februar 1956 seine berühmte Geheimrede hielt. So gab es im März eine große Debatte über die Probleme der marxistischen Ökonomie. Im Mai und Juni über Geschichtswissenschaft und marxistische Philosophie. Am 18.Juni ein Treffen der jungen mit den alten, illegalen kommunistischen Aktivisten, die in ihrer Mehrzahl in den Gefängnissen von Stalin und Rákosi gesessen hatten, am 28.Juni folgten tausende Personen [2] den Debatten über Presse und Information… All das hat viele tausend Teilnehmer angezogen. In mehreren dieser Debatten hat allein schon das Zusammentreffen von Aktivisten verschiedener Generationen und verschiedener Erfahrungen, die soziale Wirklichkeit und die Lügen über den so genannten Stalinschen Sozialismus deutlich gemacht. Am 18.Juni hatte die kürzlich rehabilitierte Witwe des 1949 wegen „Titoismus“ und „imperialistischer Agententätigkeit“ in einem auf Stalins Befehl von Rákosi veranstalteten Schauprozess hingerichteten kommunistischen Führers mit dem Finger auf die Bürokraten zeigend gerufen:

“Ihr habt nicht nur meinen Mann ermordet, sondern ihr habt auch jeden Anstand in diesem Lande getötet. Ihr habt das politische, ökonomische und moralische Leben Ungarns zerstört. Man kann die Mörder nicht rehabilitieren, man muss sie bestrafen!“

Nach Gyula Hajdu wiederholen zehntausende Aktivisten und Jugendliche: „Die Parteiführer sollen gehen.“ Für die Intellektuellen und Kommunisten, die den Petöfi-Kreis schufen, ist ein Mann das Symbol für die politische Veränderung, die „Reform“ der Partei: Imre Nagy, Parteiveteran, der lange in der UdSSR festgehalten wurde und mit stalinistischen Nachfahren der Bucharin-Tendenz verbunden, die 1953 dort kurz an der Macht war. Er verkörpert in der Partei und in weiten Kreisen die Hoffnungen der Gegner Rákosis. Für den Philosophen Georg Lukács [3], für den ganzen Flügel, den man liberal- oder national-kommunistisch nennt, für all die Kommunisten, die kürzlich rehabilitiert wurden, und die wegen „Titoismus“ zur Stalinzeit verhaftet waren, für die János Kádár, die Géza Losonczy und für all die Jungen, die ihnen vertrauen, handelt es sich darum, die Parteiführung auszutauschen, und an die Stelle der Rákosi/Gerö einen Imre Nagy zu setzen. Und so erscheint der Weg zum wirklich authentischen, von stalinschen Schlacken befreiten Sozialismus als eine reale Möglichkeit.

Die „Entstalinisierung“ hat die Hoffnungen verzehnfacht. Sie hat es ihnen ermöglicht, sich in aller Öffentlichkeit auszusprechen. Doch die Resultate waren mager. Gewiss, Rákosi ist gegangen, aber Gerö ist General-Sekretär der Partei geblieben, Gerö der Mann der GPU. (5) Sicherlich wurde Rajk rehabilitiert [4] – aber rehabilitiert von seinen Mördern, den Verantwortlichen für seine Folter und den Tod am Galgen.

Déry und Tardos und selbst Nagy wurden aus der Partei ausgeschlossen – 4 Monate nach Chruschtschows Geheimrede! Der finstere Farkas und sein Sohn, der „Folterer“, aber sind frei. [5] Gerö ist nach Belgrad gereist, um sich von Tito seine „Entstalinisierung“ bescheinigen zu lassen, und der Tito-Anhänger Kádár begleitet ihn bei dieser Reise. Doch es ist eben nicht diese Art „Entstalinisierung“, die die Jugend und ihre Wortführer, die kommunistischen Schriftsteller, wollen. Sie wollen eine Entstalinisierung, die den Namen verdient. Sie wollen Schluss machen mit den Polizisten und Bürokraten, und einen wirklich demokratischen Sozialismus. Seit einiger Zeit wissen sie dabei die Arbeiter an ihrer Seite. Vielleicht sind sie langsamer zu mobilisieren, aber dafür gehen sie den Weg bis zum Ende. In Irodlami Újság, der Zeitung des Schriftstellerverbandes, erklärte der Dreher Pál László im Namen der 40.000 Arbeiter der roten Arbeiterhochburg Csepel:

“Bis jetzt haben wir kein Wort gesagt. Während der vergangenen Jahre, jener tragischen Zeit, haben wir gelernt zu schweigen, denn die Arbeiter wurden für die kleinste Bemerkung mit dem Verlust des täglichen Brotes bestraft … Nach dem XX. Parteitag waren die Türen offen, aber bis jetzt spricht man nur von den kleinen Fischen. Wir fragen, ob nicht die Zeit gekommen ist, das volle Licht auch auf die Großen zu richten, die sich schuldig gemacht haben. Wir wollen die Wahrheit, die ganze Wahrheit wissen. Wir haben Durst, aber nicht nach Blut, sondern nach der Wahrheit. Seid unbesorgt, wir werden uns zu Wort melden.“ (6)

So unterstützten die Arbeiter mit ihrer ruhigen Kraft die Agitation der Intellektuellen. Csepel wird Irodalmi Újság unterstützen, so wie Żerań [6] in Warschau Po Prostu das Organ des polnischen Schriftstellerverbandes unterstützte. In Warschau war diese Allianz entscheidend für den Sieg vom 21.Oktober 1956. Doch in Budapest gab es zu dieser Zeit Gerö, und hinter ihm stand die Geheimpolizei AVH [7], und dahinter wiederum die Bürokraten des Kremls, die die Fäden zogen, aber ihre erste schwere Niederlagen erlitten hatten. Doch nach dem Sieg vom 21.Oktober in Polen sind sie zu allen Verbrechen bereit, um einen weiteren revolutionären Sieg, in Ungarn, zu verhindern. Sie wissen, dass sonst ihre Stunde bald geschlagen hat.
 

Der 21. und 22.Oktober

Am 21.10. organisierten die Studenten der Technischen Universität Budapest eine große Versammlung. Wie in Polen sind Studenten [8] und Professoren die Avantgarde der revolutionären Bewegung. Sie fordern Pressefreiheit, Abschaffung der Todesstrafe, Abschaffung der obligatorischen „Marxismus-Leninismus“-Kurse und ein öffentliches Gerichtsverfahren gegen Farkas. Wie ihre Kollegen in Szeged, die darüber hinaus auch die Begrenzung der Spitzengehälter forderten, drohen die Budapester Studierenden, ihr Programm mit Straßendemonstrationen zu unterstützen, wenn die Forderungen nicht erfüllt werden. (7)

In der Industriestadt Györ findet eine Versammlung statt, die von der KP-Lokalzeitung als „erste wirklich freie öffentliche Veranstaltung“ bezeichnet wird. Gyula Háy zitiert Beispiele aus China und Jugoslawien und fordert „die Abschaffung der sowjetischen Besatzung“ Ungarns, als Teil einer unabhängigen Politik des Landes. Die Art und Weise wie die Presse geleitet wird nennt er „albern und dumm“ und bezeichnet den Parteiausschluss von Déry und Tardos einen Einschüchterungsversuch, der nur dazu diene, neue Maßnahme gegen Nagy selbst vorzubereiten. Dabei erhält er Beifall von den 2.000 Anwesenden. (8)

Am 22.10. findet eine Versammlung der Studenten der Universität und der Technischen Hochschule statt. In den vorhergehenden Tagen waren die Studenten-Versammlungen der Technischen Universität von Warschau das Herz der revolutionären Bewegung. Dort sprachen die revolutionären Arbeiter von Fiat-Polski. Dort brachte die revolutionäre Jugend Polens ihre Unterstützung für Gomułka zum Ausdruck. Und die ungarische Jugend, die sich an der Technischen Universität von Budapest versammelte, war begierig die selbe Rolle zu spielen. Die Versammlung ist von einer Art Fieber ergriffen. Unter den Rednern bemerkt man einen schon älteren Studenten, József Szilágyi, einen alten Kommunisten und Freund Imre Nagys, der die Rückkehr von Imre Nagy an die Macht fordert. Dies wird mit Beifall unterstützt, denn die ungarische Jugend sucht ihren ungarischen Gomułka. Ziel der ungarischen Jugend ist eine “wirklich unabhängige sozialistische Gesellschaft“. Sie glaubt dies mit einem Wechsel in der Parteiführung erreichen zu können. Die Sofortforderungen werden in einer Resolution, den 16 Punkten der Jugend, formuliert, welche versucht die unmittelbaren Forderungen der ungarischen Nation zu artikulieren.

1.) Wir fordern den sofortigen Abzug aller sowjetischen Truppen aus Ungarn, wie es der Friedensvertrag (zwischen Ungarn und der Sowjetunion von 1947) vorsah.

2.) Wir fordern die Neuwahl der Partei-Führer auf allen Ebenen von oben nach unten in geheimer Wahl. Danach sollen diese in kürzester Zeit einen neuen Parteitag einberufen, der eine neue zentrale Führung wählt.

3.) Wir fordern die Bildung einer Regierung unter Leitung des Genossen Imre Nagy, und dass alle kriminellen Führer der Stalin-Rákosi-Periode entlassen werden.

4.) Wir fordern eine öffentliche Diskussion der Affäre um Mihály Farkas und Konsorten. Ebenso fordern wir die Rückkehr von Rákosi in unser Land, damit er als Hauptverantwortlicher für die Pleite des Landes und für all die Verbrechen der letzten Jahre vor ein Volksgericht gestellt wird.

5.) Wir fordern die Wahl einer Nationalversammlung unter Teilnahme mehrerer Parteien und mittels geheimer Wahl. Wir fordern das Streikrecht für die Arbeiter.

6.) Wir fordern eine grundlegende Neugestaltung und Berichtigung der kulturellen, ökonomischen und politischen Beziehungen Ungarns zu Jugoslawien und zur Sowjetunion auf der Basis gegenseitiger Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und der vollen ökonomischen und politischen Gleichberechtigung.

7.) Wir fordern die Neuorganisation des ungarischen Wirtschaftslebens unter Einbeziehung ungarischer Fachleute. Wir fordern die Neuorganisation der gesamten Wirtschaft auf der Grundlage des Plans, so, dass die nationalen Ressourcen zum Nutzen unseres Volkes eingesetzt werden.

8.) Wir fordern die Veröffentlichung der Außenhandelsverträge und zuverlässige Zahlen über die Kriegsentschädigungen. Wir fordern eine öffentliche und komplette Information bezüglich der russischen Konzession zur Ausbeutung und Lagerung des Urans in unserem Land. Wir fordern, dass Ungarn den Verkaufspreis seines Urans frei, entsprechend den Weltmarktpreisen, festlegen kann.

9.) Wir fordern eine vollständige Revision der Arbeitsnormen in der Industrie, und die Akzeptierung der Lohnforderungen der Hand- und Kopfarbeiter. Die Arbeiter wollen die Festschreibung eines Mindestlohns.

10.) Wir fordern die Zwangsablieferung auf neuer Grundlage zu organisieren, um einen vernünftigen Gebrauch der landwirtschaftlichen Produkte zu gewähren.

11.) Wir fordern die Revision aller Prozesse wegen ökonomischer und politischer Anklagen vor wirklich unabhängigen Gerichten und die Rehabilitierung unschuldig Verurteilter.

12.) Wir fordern ein freies, unabhängiges Radio, vollständige Pressefreiheit, Freiheit des Wortes und der Meinung, sowie das Erscheinen einer neuen Tageszeitung mit großer Auflage als Organ des MEFESZ (unabhängige Studentenorganisation, die sich neu gebildet hat).

13.) Wir fordern, daß das Stalin-Denkmal als Symbol der politischen Unterdrückung und der stalinistischen Diktatur schnellstmöglich abgerissen wird, und dass an seiner Stelle ein Denkmal für die Helden und Märtyrer des Freiheitskampfes von 1848–1849 errichtet wird.

14.) Anstelle der dem ungarischen Volk vollkommen fremden Symbole fordern wir die Rückkehr zu den alten Symbolen von Kossuth. Wir fordern eine neue Uniform für die Armee, die den nationalen Traditionen des Honvéd würdig ist. Wir fordern, dass der 5. Mai (Unabhängigkeitstag von 1848) zum arbeitsfreien Nationalfeiertag wird, und dass der 6. Oktober (Tag der feierlichen Bestattung Rajks) zum arbeitsfreien Trauertag wird.

15.) Die Jugend der technischen Universitäten Budapests proklamiert in einstimmiger Begeisterung ihre vollständige Solidarität mit der polnischen Arbeiterklasse und der Jugend Warschaus und Polens und der Bewegung für ein unabhängiges Polen.

16.) Die Studenten des Bauwesens der Technischen Universität gründen schnellstmöglich die Ortsorganisation des unabhängigen Studentenbundes MEFESZ und haben entschieden, für Samstag, den 27. Oktober, ein Parlament der Jugend nach Budapest einzuberufen, in dem die Gesamtheit der Jugend des Landes durch Delegierte vertreten wird.

Die Resolution wird an Partei und Regierung gesandt. Die Studenten fordern die Veröffentlichung der Forderungen durch Radio und Presse. Schließlich senden sie „ihren polnischen Gefährten im Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit ihre brüderliche Sympathie“ (9) Wie in Warschau, wo die Versammlung der Technischen Universität am 19.Oktober im Namen der ganzen revolutionären Jugend gesprochen hat, so wollen die ungarischen Studenten mit dieser Geste den proletarischen Internationalismus, der sie alle prägt, zum Ausdruck bringen. Die Professoren und Studenten der Militärakademie Miklós Zrinyi, der Offiziersschule, übernehmen diese Forderungen am folgenden Tag. Im gleichen Geiste der Solidarität mit der polnischen Revolution ruft der Petöfi-Kreis zu einer Solidaritätsdemonstration für Polen am folgenden Tag, Samstag, den 23. Oktober, auf. Eine Resolution wird verabschiedet, in der die Einberufung einer Notsitzung des Zentralkomitees und der Ausschluss Rákosis aus der Partei und der Nationalversammlung sowie ein öffentlicher Prozess gegen Farkas verlangt wird. Weiters wird ein Appell an Imre Nagy gerichtet, der am 14. Oktober wieder in die Partei aufgenommen wurde, die Regierung zu übernehmen und vermittels einer vollständigen Information der Öffentlichkeit und einer öffentlichen Debatte eine grundlegende Revision der Regierungspolitik vorzunehmen.
 

Die friedliche Demonstration des 23.Oktober

Am folgenden Tag erscheint der Aufruf des Petöfi-Kreises in der Presse, was erheblich zur Mobilisierung und dem Bewußtsein beiträgt, dass eine Veränderung möglich ist. Imre Nagy hingegen, in aller Eile vom Urlaub am Balaton-See zurückgekehrt, wird gedrängt, sich an die Spitze der Demonstration zu stellen, um schlimmeres zu verhüten. Er aber weigert sich beharrlich, da es sich um eine Provokation Gerös gegen ihn handeln könne. Um 13:00 erklärt der Innenminister das Verbot der Demonstration, um 14:30 ist das Verbot aufgehoben, da bekannt wird, dass die kommunistische Jugendorganisation sich an der Solidaritätsdemo für die polnischen Arbeiter beteiligen will. So hat das Verbot der Demonstration nicht geschadet, Jugend und Studenten waren in jedem Fall bereit, dem Verbot zu trotzen. Das Zentralkomitee des kommunistischen Jugendverbands DISZ hat es klar formuliert:

“Jene die von der Jugend verlangen sich vorsichtig und zurückhaltend zu äußern, ignorieren die historische Entwicklung und die wirkliche Position der ungarischen Jugend.“ (10)

Die Demonstration beginnt um 15:00. Das anfängliche Verbot, das mehrfach per Radio wiederholt wurde, dann die plötzliche Entscheidung, die Demonstration zu erlauben, wirkt wie ein Schock. Die gesamte Bevölkerung wurde Zeuge des Zögerns der KP-Führer und betrachtete die Genehmigung als Kapitulation vor der Stärke der Bewegung. Ganz Budapest war auf der Straße. An der Spitze riesige Leninbilder. (11) Es gab sehr viele ungarische Fahnen aber nur eine einzige rote Fahne, von den Studenten des Lenin-Instituts, die wie ihre Mitdemonstranten riefen: “Nagy an die Macht, Russen raus, Rákosi vor Gericht“. Die Studenten hatten riesige Transparente: “Halten wir nicht auf halbem Wege an, beseitigen wir den Stalinismus“, „wir wollen eine neue Führung: Wir haben Vertrauen zu Nagy“, „Freiheit und Unabhängigkeit“ und natürlich „Es lebe Polen“. Sie sangen die Marseillaise, welche in Ungarn als revolutionäres Lied gilt, und skandierten das Gedicht von Petöfi, “Freiheit oder Tod“. An den Straßenbahnen verteilten die Studenten die zu Tausenden heimlich vervielfältigte Forderungs-Resolution vom Vorabend. Am Fuße des Petöfi-Denkmals wird eines seiner Gedichte deklamiert, die Resolution verlesen, und ein junger Mann schreibt feierlich das Datum des 23.Oktober auf den Sockel des Denkmals. Am Fuße der Statue des polnischen Generals Bem, eines Helden des ungarischen Befreiungskampfes von 1848, folgt eine kurze Rede des Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes, Peter Veres und um 17:45 ungefähr kehren die Demonstranten zurück. Man könnte annehmen damit sei alles beendet, doch ist es gerade der Anfang. Büros und Fabriken leeren sich. Arbeiter und Angestellte schließen sich den Demonstranten an:

„Dienstag haben wir gearbeitet“, erklärt ein junger Elektriker, „aber wir haben während des Arbeitens miteinander diskutiert. Wir sprachen von den Löhnen, vom Ergebnis der Versammlung der Schriftsteller. Wir hatten Exemplare davon und wussten, was sie meinten mit: ‚so kann es nicht weitergehen‘. Wir können von unserer Arbeit nicht mehr leben. Nach der Arbeit haben wir die demonstrierenden Studenten gesehen und schlossen uns ihnen an.“ (12)

Studenten, Angestellte und Arbeiter füllen jetzt die Straßen. Ganz Budapest ist unterwegs und demonstriert: Das Maß ist voll! Es muss sich etwas ändern. Gruppen und Demonstrationszüge bilden sich. Man geht hier hin und dorthin. Es gibt keine Führung, aber einen gemeinsamen Willen zu demonstrieren, eine Einmütigkeit gegen die stalinistischen Führer und ihre Herren, die russische Bürokratie. Schließlich marschieren die Massen zum Parlament und skandieren: “Nagy! Nagy!“

Vor dem Parlament wird die immer größer werdende Masse ungeduldig: sie tritt auf der Stelle, stampft ungeduldig und wird gereizt. Schließlich wird bekannt, dass Gerö aus Belgrad zurück ist, und dass er sich per Radio an die Bevölkerung wenden wird. Dies ist der von der Mehrheit der Demonstranten erwartete Augenblick. Den ganzen Tag über sieht man Reporter und Fotographen zwischen ihnen. Es hat keine Zwischenfälle mit der Polizei gegeben. Gerö wird sprechen und Gerö wird nachgeben, er wird die sofortige Zusammenkunft des Zentralkomitees bekannt geben, welches Imre Nagy zum Regierungschef bestimmen wird. Die Budapester Arbeiter erwarten, dass Gerö ihren Sieg besiegeln und sich ihrem Willen beugen wird. So hätten die Straßendemonstranten eine Auswechselung der Parteiführung erzwungen: die liberalen Kommunisten würden ans Ruder kommen.

Um 20:00 spricht Gerö. Er spricht als Bürokrat, der er ist: servil zu seinen Oberen, arrogant zu den Arbeitern. Sicherlich erkennt er an, dass Partei und Regierung einige Irrtümer unterlaufen sein können. Ja er beruft das Zentralkomitee ein, aber erst acht Tage später, zum 31.Oktober: In dieser Zeit wird noch viel Wasser die Donau herabfließen. Aber was am Schwerwiegendsten ist, er begnügt sich nicht damit, die Dinge hinauszuschieben, er droht, er beleidigt: „Diejenigen, die vorgeben, dass unsere wirtschaftlichen Beziehungen mit der UdSSR nicht auf Gleichberechtigung beruhen, sind unverschämte Lügner“. Der ehemalige Folterer der Revolutionäre von Barcelona [9] bestätigt schamlos, dass er „sich nicht in die polnischen Angelegenheiten einmischen“ will. Er spricht von „Gesindel“, von „chauvinistischen Demonstrationen“ und fragt, „wollt ihr den Kapitalisten die Tür öffnen?“ und er schließt, dass Partei und Regierung nicht in ihren Bemühungen nachlassen werden, die zur sozialistischen Demokratie führen“. (13) Der Bürokrat, der Mann Moskaus hat gesprochen: Die „Entstalinisierung“ wird von den Stalinisten durchgeführt. Wenn die Arbeiter damit nicht zufrieden sind, dann sind sie eben Konterrevolutionäre, und man wird ihnen antworten, wie es sich gehört. Die Lumpen des AVH (14) werden ihnen bald sehr konkret zeigen, worin die blutige Antwort Gerös bestand.
 

Die AVH schießt: Der Aufstand beginnt

Ganz Budapest hatte Gerö gehört. Ganz Budapest empfand seiner Rede als Ohrfeige. Die Arbeiter und Studenten, zehntausende Jugendliche und Erwachsene hatten eindeutig ihren Willen demonstriert, und Gerö hat sie daraufhin beleidigt. Sie sind die Herren der Straße, das empfinden sie und sie beabsichtigen, dies zu zeigen und zu nutzen. Vor dem Parlament versucht Nagy zu beschwichtigen und verspricht, sich dafür einzusetzen, dass die Einberufung des ZK früher erfolgt. Ein Student versteht Nagy so: “Er ist nur als Privatmann hier, und hat wegen Gerö Angst, sich zu unseren Forderungen zu äußern.“ (15) Schon hat sich ein Teil der jugendlichen Menge zum Platz am Rundfunkgebäude begeben, um die Veröffentlichung der 16-Punkte Resolution zu fordern. Eine Delegation fordert die Verlesung der Resolution im Radio und ein offenes „Mikrofon für die Straße“, damit das Volk seine Wünsche ausdrücken kann. Zehntausend hatten sich zum Platz mit dem riesigen Stalindenkmal begeben, wo sie begannen, dieses vom Sockel zu stürzen. Da die Delegation immer noch nicht aus dem Gebäude zurückkommt, ergreift Unruhe die Wartenden: Hat man die Delegierten verhaftet?

Die Rede von Gerö wirkt wie Öl aufs Feuer, sie bestätigt die schlimmsten Befürchtungen. Die jugendlichen Demonstranten beginnen die Tür einzurammen, um ihre Delegierten zu befreien. In dieser Verwirrung fallen die ersten Gewehr-Schüsse. Die Männer der AVH schießen: es gibt drei Tote. Ein junger Architekt, der sich unter den Demonstranten befand, sagte: „Das war der letzte Schlag!“ In der Menge befanden sich einige, die den Männer vom Mohosz [10] Leichtgewehre abgenommen hatten. Mit diesen erwiderten sie das Feuer so gut sie konnten. In diesem Augenblick kamen mehrere Lastwagen und Panzer aus Buda, der anderen Hälfte von Budapest, aber weder die Offiziere noch die Soldaten schossen auf das Volk. Es gab keine Befehle, die Soldaten blieben in den Lastwagen und begannen ihre Waffen über den Wagenrand in die ausgestreckten Hände der Demonstranten zu schieben. Später am Abend, als die Kämpfe sich fortsetzten, stiegen zwei Offiziere von einem Panzer und begaben sich ohne Waffen zum Radiogebäude um zu vermitteln. Sie wurden vom AVH niedergeschossen.

Die Schießerei vor dem Radiogebäude ist das Signal zum allgemeinen Aufstand. Die Arbeiter bewaffnen sich mit den Waffen, die sie den Mohosz-Männern abnehmen und aus den Waffenkammern in den Fabriken. Sie begeben sich zu den Kasernen, so wie in Barcelona 1936. Die Soldaten öffnen ihnen die Waffenarsenale und Magazine oder werfen die Gewehre und Maschinenpistolen aus den Fenstern. Andere treffen auf den Straßen mit waffen- und munitions-beladene Lastwagen ein. Anderswo, wie an der Hasik-Kaserne, treffen die Arbeitergruppen, die sich bewaffnen wollen, auf nur rein formalen Widerstand. In den Straßen von Budapest wird geschossen, schon werden Barrikaden errichtet. Die Armee bleibt neutral, doch die Regierung gibt ihr den Befehl, gegen die Aufständischen einzuschreiten. Der folgende Bericht eines englischen Augenzeugen beschreibt den ergreifenden Moment der Verbrüderung mit einer Armeeeinheit, die dann auf die Seite der Revolution überwechselt:

„Die Truppen der Honvéd (16) hatten an einer strategischen Kreuzung Stellung bezogen. Die Aufständischen hatten sich 60 Meter vor ihnen aufgebaut und ein Dialog entspann sich zwischen der Menge und dem Offizier – es waren nicht so sehr Beleidigungen als vielmehr politische Argumente. Der Offizier versicherte ihnen, dass ihre Forderungen erfüllt würden, und ermunterte sie unaufhörlich, nach Hause zu gehen. Es war klar, dass er keine Gewalt anwenden würde, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Während einer langen Pause in der Diskussion hörte man eine Frauenstimme die Nationalhymne anstimmen. Der Effekt war blitzartig. Die Menge insgesamt, Arbeiter, Taxifahrer, Studenten, kleine Jungen entblößten das Haupt, knieten nieder und sangen zusammen die Nationalhymne. Die Soldaten waren ebenfalls ergriffen und bewegt. Irgendjemand hisste die ungarische Fahne, aus der der rote Stern herausgeschnitten war. Die Soldaten rannten von ihrer Stellung, um sich den Demonstranten anzuschließen.“ (17)

Eine singende Frau, ein Unbekannter, der eine Fahne hisst: eine Armee, die im Feuer der Revolution zerschmilzt, die Arbeiter und Bauern unter der Uniform vereinigen sich mit ihren Klassenbrüdern…

Während die Kämpfe sich in der ganzen Stadt ausweiten, beschließen die Studenten, die sich nach der Gerö-Rede getroffen hatten, sich als permanenter Ausschuss zu konstituieren. Das so geschaffene Komitee der revolutionären Studenten wird von dem kommunistischen Professor der Psychologie, Ferenc Merey geleitet.

Dieses Komitee installiert sich an der Fakultät für Geisteswissenschaften und beginnt zu arbeiten. Es sammelt Informationen, organisiert die Tätigkeit der bewaffneten Gruppen und der Gruppen, die die Soldaten umgeben, zentralisiert, die Verteilung von Flugblättern, die das Volk auffordern sich an der Revolution und am bewaffneten Kampf gegen die AVH-Polizisten Gerös zu beteiligen. Gegen die Jugend und die Arbeiter Budapests gibt es nichts als die verhassten Polizisten der AVH. Gegen 11:00 gibt Szabad Nép, das Partei-Organ, ein Flugblatt heraus, in dem das Zusammentreten des Zentralkomitees angekündigt wird. „Die Redaktion versichert Partei und Volk, dass sie niemals jene unterstützen werde, die der Stimme des Volkes mit Gewalt antworten.“ (18) Das ZK berät – Budapest kämpft.


Fußnoten

1. K.K. Rokossowski (1896–1968). Während des Ersten Weltkriegs Korporal, wurde danach Mitglied der Roten Armee und der kommunistischen Partei. Bei den stalinistischen Säuberungen zu 10 Jahren Gulag verurteilt, kam er im März 1940 frei und diente als General in der Sowjetarmee. Mitverantwortlich für die Nichtunterstützung des Warschauer Aufstandes durch die Sowjettruppen, wurde er 1949 auf Wunsch Stalins polnischer Marschall, Verteidigungsminister und Mitglied des polnischen Politbüros bis er 1956 zurück treten musste.

2. François Fejtö gibt eine Zahl von 6.000 an. Siehe: François Fetjö, Budapest 1956. L’insurrection, Paris 1990.

3. Georg Lukács (1885–1971). Als marxistischer Philosoph, (Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik) war er 1919 Kulturminister der 133-tägigen Räterepublik. Er floh nach Moskau und näherte sich zeitweilig dem Stalinismus an. 1956 wieder Kulturminister unter Nagy wurde er in Folge verhaftet und war nach seiner Freilassung bis zum Tod 1971 politisch verfemt.

4. László Rajk (1909–1950). Als Kommunist im Widerstand Sekretär des ZK wurde er unter den Pfeilkreuzlern verhaftet und nach Deutschland deportiert. Ab 1946 als Innenminister direkt für den Aufbau der AVH verantwortlich, wurde er 1949 wegen „titoistischer Abweichungen“ angeklagt und mit acht Mitangeklagten 1950 exekutiert. Der Prozess gegen Rajk steht als erster in einer Reihe, dem die gegen Rudolf Slánsky, Arthur London und Vladimir Clementis in der Tschechoslowakei und gegen Traitscho Kostow in Bulgarien folgten. All diesen Prozessen gegen angebliche „Titoisten“ ist gemein, dass die Angeklagten einen von Moskau etwas unabhängigere „nationale“ Form des Stalinismus anstrebten, zumeist im Gegensatz zur Führungs-clique, die in Moskau im Exil war, während sie im Widerstand vor Ort gekämpft hatten, und der Prozess auch eine antisemitische Komponente hatte.

5. Mihály Farkas (1904–1965). Als Verteidigungsminister unter Rákosi einer der Hauptverantwortlichen für die blutigen „Partei-säuberungen“. Sein Sohn Vladimir Farkas war einer der Hauptinquisitoren der AVH und beteiligte sich persönlich an vielen grauenhaften Folterungen, unter anderem auch der von János Kádár.

6. In Żerań stand die große Fiat Polski-Fabrik.

7. Die AVH war die stalinistische Geheimpolizei Ungarns und hatte etwa 40.000 Mitglieder, kurz „Avos“ genannt.

8. Durch positive Diskriminierung der Arbeiter- und Bauernkinder seit 1948 und spezielle 1-Jahres-Intensivkurse wurde der Anteil der Studenten aus diesen Klassen seit 1948 von 2–3% auf 50% der Studenten erhöht, diese soziale Zusammensetzung der Studentenschaft beeinflußte ganz wesentlich ihre Rolle im Oktober 1956. Georges Kaldy: Hongrie 1956.Paris, 2011.

9. Ernö Gerö (eigentlich Ernö Singer, 1898–1980). war während des Bürgerkriegs als GPU-Mann (Deckname Pedro) in Spanien und als Sonderbeauftragter in Barcelona für die Verfolgung von Anhängern der POUM, Anarchisten und Trotzkisten verantwortlich. 1956 für kurze Zeit Generalsekretär der KP als Nachfolger von Rákosi.

10. Die Mohosz, „Gesellshaft für Sport und Technik“, war eine Art außerbetrieblicher Kampfgruppe.



Anmerkungen

1. Interview zitiert von Bondy, Demain, 8. November 1956

2. New York Times, 2. Juli 1956

3. New York Times, 1. Juli 1956

4. Irodalmi Újság, 18. August 1956

5. GPU: Sowjetische politische Polizei, in den 30er Jahren NKWD, später KGB.

6. Irodalmi Újság, 30. Juni 1956

7. New York Times, 22. Oktober 1956.

8. Ibidem, 23. Oktober 1956

9. New York Times, 22. Oktober 1956

10. Szabad Nép, 23. Oktober 1956

11. Sefton Delmer in Daily Express, 24. Oktober 1956

12. Sherman, The Observer, 11. November 1956

13. Agenturmeldung United Press, 24. Oktober 1956

14. AVH (oder AVO): Ungarische Politische Polizei, ihre Mitglieder werden „Avos“ genannt.

15. The Observer, 11. November 1956

16. Honvédség: Ungarische Armee. Das Wort „Honvéd“ bedeutet „Verteidiger des Vaterlands“. Ursprünglich bezeichnet es die Soldaten, die 1848 in österreichischer Uniform unter ungarischer Fahne dienten.

17. Anthony Rhodes, Daily Telegraph, 24. November 1956

18. Privat-Archiv.


Zuletzt aktualisiert am 7.7.2011