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(ohne Datum)
(Berlin, Ende Januar 1864
oder Anfang Februar.)
Excellenz!
Die heutige Unterredung, die ich wirklich, weil ich Sie zu beschäftigt sah, nicht fortsetzen wollte, nötigt mich, auf die Gefahr hin phantastisch zu erscheinen, nochrnals zu einer aus der Tiefe meiner Seele ertönenden Warnung, auf die Sie den Wert legen werden, die sie Ihnen zu verdienen scheinen wird. Sie müssen [2] das allgemeine und direkte Wahlrecht vor dem Krieg geben, denn sie können es weder während desselben noch nach demselben geben. Nicht während desselben, denn dann würde es, wie Sie selbst sahen, nur als ein Zeichen der Schwäche erscheinen, und man würde es statt Ihnen zu danken nur in eine Position gegen Sie verwandeln.
Nicht nach dem Kriege, und von den hundert Gründen hierfür will ich nur einen einzigen anführen. Warum können Sie im Frieden alles was Sie wollen? Warum gestand ich Ihnen schon im vorigen Mai zu, daß, solange kein auswärtiger Konflikt eintrete, unser Land sich selbst den ärgsten Absolutismus ruhig gefallen lassen werde? Warum sagte ich Ihnen, daß er mit dem ersten Krieg zusammenbrechen werde?
Im Frieden waltet das Interesse des Privatlebens durchaus vor und bringt die Volksstimmung zum Indifferentismus, möchten die Zustände sein wie sie wollen.
Die ganz entgegengesetzte Stimmung tritt mit jedem Krieg von einiger Dauer und einigen Umrissen ein. Eine ganz anders aufgeregte Atmosphäre erzeugt sich, und das Pathos des öffentlichen Lebens wird lebt ebenso herrschend wie im Frieden das des Privatlebens.
Diese öffentliche Stimmung des Volkes, die dann eintritt, darf durchaus nicht verwechselt werden mit der „öffentlichen Meinung“ der Zeitungen.
Mir erscheint es mehr als gewagt, diese Stimmung eintreten lassen zu wollen solange Sie zum Lande Ihre gegenwärtige negative Stellung einnehmen. Sie werden nach dem Kriege das Wahlrecht nicht mehr geben können, denn schon w ä h r e n d des Krieges werden, wenn er zu einem Krieg von einiger Dauer und einigen Umrissen wird – und es ist niemand gegeben dies zu verhüten – Emeuten und Insurrektionen ausbrechen. Angenommen und zugegeben selbst, Sie besiegen diese mit militärischer Gewalt – so ist, sowie von neuem Bürgerblut geflossen ist, die ganze Entwicklung der Dinge geändert und die von Ihnen gewollte zur Unmöglichkeit geworden. Von beiden Seiten. Von Seiten des Königs, der dann entweder in Ihrer Person die Ursache des geflossenen Blutes sähe und Sie fallen ließe, oder aber, wenn dies nicht eintritt, nicht mehr zu bewegen wäre, sich dem allgemeinen Wahlrecht anzuvertrauen. Von Seiten des Volkes in noch höherem Grade. Denn ist erst von neuem Bürgerblut geflossen, so ist durch das Volksgefühl jede Verbindung mit Ihrer Regierung und mit dem Königtum überhaupt zur Unmöglichkeit geworden und die Geschichte wird ihren vielleicht nicht gar raschen aber verhängnisvollen Verlauf nehmen.
Diese Insurrektionen, ich wiederhole es, werden kommen, dieses Bürgerblut wird fließen, wenn wir einen Krieg von nur einiger Dauer und nur einigen Umrissen bekommen solange noch die gegenwärtige Antipathie gegen die Regierung im Volk besteht.
Die Dinge werden dann ihren düstern vorher bestimmten Lauf nehmen – und das einzige Phantasma, dessen idt mich vielleicht schuldig fühle, ist, gewünscht und versucht zu haben, diesen traurigen Verlauf abzuwenden.
Mehr kann ich nicht sagen, aber Ew. Excellenz werden das hier Vorhergesagte zu meiner sehr traurigen Befriedigung eintreten sehen.
Man bestellt sein Haus, ehe man in den Krieg zieht. Ew. Excellenz werden das allgemeine und direkte Wahlrecht vor dem Kriege octroyieren oder nie mehr! Auf diese Versicherung glaube ich die ganze Ehre meines geschichtlichen Blickes, auf den ich bisher einigermaßen stolz zu sein Grund hatte, setzen zu dürfen.
Dixi et salvavi animam meam.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ew. Excellenz
ergebenster
F. Lassalle.
1. Der Originalbrief liegt nicht vor. Die Interpunktion mußte ergänzt werden.
2. Was hier kursiv ist, hat Lassalle unterstrichen.
Zuletzt aktualisiert am 16.10.2004