MIA > Deutsch > Bernstein > Die deutsche Revolution
„Remember, remember, the fifth of November –“ Gedenket, gedenket des fünften November!
Dieser Ruf, mit dem in England die Kinder am 5. November den Jahrestag der Endeckung der großen Pulververschwörung vom Jahre 1605 ausrufen, kann nun in Deutschland ein Gegenstück erhalten. Einen Ruf, der einer Sache von ganz anderer Bedeutung gelten würde, als der Errettung eines Königs und seines Parlaments vom politisch aussichtslosen Anschlag einer kleinen Bande religiöser Fanatiker. Für Deutschland ist der 9. November 1918 der Geburtstag der demokratischen Republik, das heißt, der Selbstregierung seines Volkes.
Schon der Vormittag brachte die Entscheidung. Spät um Mitternacht des 8. November hatte noch der Staatssekretär Dr. Solf den Vorsitzenden des Vorstands der Mehrheitssozialisten Fritz Ebert angerufen und sich erboten, sofort ins Hauptquartier abzureisen, um die Kaiserfrage zur Entscheidung zu bringen. Die Antwort aber war gewesen, er könne sich die Mühe sparen, es sei jetzt zu spät. Der folgende Vormittag werde den Generalstreik sehen.
Und so geschah es. Am Morgen des 9. November um acht Uhr früh traten der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Mehrheitssozialisten) und die Berliner Vertrauensmäner noch einmal zusammen, um den entscheidenden Entschluß zu fassen. Die Besprechung war kurz. Da vom Hauptquartier noch immer keine zufriedenstellende Erklärung eingelaufen war, kam man ohne viel Reden überein, nicht länger zu warten, sondern die Arbeiter ohne Verzug zum Generalstreik aufzurufen und mit der Parteileitung der Unabhängigen Sozialdemokratie in Verbindung zu treten. Sendboten eilten nach allen Richtungen, den Beschluß in den Fabriken kundzutun. Bis zur Frühstückspause waren gemäß ausgegebener Weisung die Arbeiter in den Fabriken verblieben. Nun folgten sie, die großen Elektrizitätswerke und Maschinenfabriken voran, bereitwillig der Parole: „Heraus aus den Betrieben! Auf die Straße!“ Waren doch auch von Seiten eines aus unabhängigen Sozialisten und Spartakusleuten zusammengesetzten Revolutionsausschusses, der in fast allen großen Fabriken Berlins seine Vertreter hatte, Handzettel folgenden Inhalts in den Betrieben und auf der Straße zur Verbreitung gelangt:
Arbeiter, Soldaten, Genossen!
Die Entscheidungsstunde ist da! Es gilt der historischen Aufgabe gerecht zu werden.
Während an der Wasserkante die Arbeiter- und Soldatenräte die Gewalt in Händen haben, werden hier rücksichtslos Verhaftungen vorgenommen. Däumig und Liebknecht sind verhaftet.
Das ist der Anfang der Militärdiktatur, das ist der Auftakt zu nutzlosem Gemetzel.
Wir fordern nicht Abdankung einer Person, sondern Republik! Die sozialistische Republik mit allen ihren Konsequenzen. Auf zum Kampfe für Friede, Freiheit und Brot.
Heraus aus den Betrieben! Heraus aus den Kasernen!
Reicht Euch die Hände.
Es lebe die Republik.
Der Vollzugsauschuß des Arbeiter- und Soldatenrates.
Barth, Brühl, Eckert, Franke, Haase, Ledebour, Liebknecht, Neuendorf, Pick, Wegmann.
Von dieser Seite hatte man schon am 4. November die Erhebung ins Werk setzen wollen, dann aber den Termin um einige Tage hinausgeschoben, während deren die Polizei von dem Vorhaben Kenntnis erhielt und verschiedene Verhaftungen, zuletzt – am 8. November – die von E. Däumig vornahm. Auf die Nachricht von dieser waren die Vertrauensleute – die revolutionären Obleute – schleunigst zusammengetreten, hatten beschlossen, nun nicht länger zu zaudern, und den vorstehenden Aufruf vereinbart, dessen Stil die Eile verrät, in der er abgefaßt worden war. Er war unter den gegebenen Verhältnissen natürlich nur geeignet, die Bereitwilligkeit der Massen noch zu steigern.
Ungeheure Züge bildeten sich, die mit roten Fahnen dem Stadtinnern zuströmten und die großen Verkehrsstraßen durchzogen. Berlin füllte sich mit Massen, denen gegenüber selbst einer ihrer Truppen sicheren Regierung die Lust zum Widerstand vergangen wäre.
Aber solche Truppen gab es für die Regierung Wilhelms II. nicht. Der neue Oberbefehlshaber in den Marken, General von Linsingen, und der Polizeipräsident von Berlin hatten es an Sicherheitsmaßnahmen verschiedenster Art nicht fehlen lassen. Das Rathaus war stark mit Polizei besetzt. Hauptpost und Telegraphenamt hatten militärische Besatzung, das königliche Schloß war abgesperrt, an wichtigen Stellen wurden Maschinengewehre aufgefahren, reichlich Militär war in der Hauptstadt zusammengezogen, dagegen der Eisenbahnverkehr vom Norden und Nordwesten her, wo der Aufstand siegreich war, vollständig eingestellt. Indes was halfs? Abgesandte der Sozialdemokratie, die nach den Kasernen zogen, mit den verschiedenen Regimentern zu verhandeln, erhielten überall die Zusicherung, daß man unter keiner Bedingung auf das Volk schießen werde. Von dieser Stimmung der Truppen unterrichtet, ließ sich der Reichskanzler von einer an ihn entsandten Deputation leicht zu einem Erlaß bewegen, der in einer Extra-Ausgabe des Vorwärts wie folgt bekannt gegeben wurde:
„Es wird nicht geschossen!
Der Reichskanzler hat angeordnet, daß seitens des Militärs von der Waffe kein Gebrauch gemacht werde.“
Ein weiteres, vom Vorwärts herausgegebenes Flugblatt lautete:
„Generalstreik!
Der Arbeiter- und Soldatenrat von Berlin hat den Generalstreik beschlossen. Alle Betriebe stehen still. Die notwendige Versorgung der Bevölkerung wird aufrecht erhalten. Ein großer Teil der Garnison hat sich in geschlossenen Truppenkörpern mit Maschinengewehren und Geschützen dem Arbeiter- und Soldatenrat zur Verfügung gestellt. Die Bewegung wird gemeinschaftlich geleitet von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Arbeiter, Soldaten, sorgt für Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung, Es lebe die soziale Republik!
Der Arbeiter- und Soldatenrat.“
Das Flugblatt eilte in etwas den Tatsachen voraus. Die Leitung der Unabhängigen Sozialdemokratie war am Vormittag des 9. November nicht zusammengetreten und hatte auch nicht herangezogen werden können. Die an den Reichskanzler entsandte Deputation bestand aus den mehrheitssozialistischen Abgeordneten Fritz Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Braun und den mehrheitssozialistischen Mitgliedern des Zwölferausschusses Fritz Brolat und Gustav Heller. Sie begab sich in die Reichskanzlei, wo der Reichskanzler und die übrigen Kabinettsmitglieder gerade Sitzung abhielten, und ward alsbald vorgelassen. Ebert als Sprecher der Deputation eröffnete den Herren, das arbeitende Volk wolle jetzt seine Geschicke selbst in die Hand nehmen. Es wisse die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung hinter sich und sei entschlossen, die volle Demokratie zur Verwirklichung zu bringen. An einen erfolgreichen Widerstand der Regierung sei nicht zu denken, ein großer Teil der Garnison sei bereits zum Volk übergegangen.
Auf die Frage des Kanzlers an Ebert, ob er glaube, die Aufrechterhaltung der Ordnung verbürgen zu können, antwortete dieser mit ja. Der Kanzler teilte nun mit, daß nach einem soeben eingegangenen Telegramm der Kaiser zurückgetreten sei, und nach kurzer daran sich anknüpfenden Besprechung erklärten die Kabinettsmitglieder insgesamt gleichfalls ihren Rücktritt, und Max von Baden trat seine Befugnisse als Reichskanzler in aller Form an Fritz Ebert ab. Die Tatsache wurde von letzterem in folgendem Wortlaut der Öffentlichkeit bekannt gegeben:
Mitbürger! Der bisherige Reichskanzler Prinz Max von Baden hat mir unter Zustimmung der sämtlichen Staatssekretäre die Wahrnehmung der Geschäfte des Reichskanzlers übertragen. Ich bin im Begriffe, die neue Regierung im Einvernehmen mit den Parteien zu bilden, und werde über das Ergebnis der Öffentlichkeit in Kürze berichten.
Die neue Regierung wird eine Volksregierung sein. Ihr Bestreben wird sein müssen, dem Deutschen Volke den Frieden schnellstens zu bringen und die Freiheit, die es errungen hat, zu befestigen.
Mitbürger! Ich bitte euch alle um eure Unterstützung bei der schweren Arbeit, die unser harrt. Ihr wißt, wie schwer der Krieg die Ernährung des Volkes, die erste Voraussetzung des politischen Lebens, bedroht.
Die politische Umwälzung darf die Ernährung der Bevölkerung nicht stören. Es muß die erste Pflicht aller in Stadt und Land bleiben, die Produktion von Nahrungsmitteln und ihre Zufuhr in die Städte nicht zu hindern, sondern zu fördern.
Nahrungsmittelnot bedeutet Plünderung und Raub mit Elend für alle. Die Ärmsten würden am schwersten leiden, die Industriearbeiter am bittersten getroffen werden.
Wer sich an Nahrungsmitteln oder sonstigen Bedarfsgegenständen oder an den für ihre Verteilung benötigten Verkehrsmitteln vergreift, versündigt sich aufs schwerste an der Gesamtheit.
Mitbürger! Ich bitte euch alle dringend, verlaßt die Straßen, sorgt für Ruhe und Ordnung!
Berlin, den 9. November 1918. |
Der Reichskanzler |
Soweit Wilhelm II. als wollende Persönlichkeit in Betracht kam, war die Mitteilung von seinem Rücktritt eine fromme Vorwegnahme kommender Ereignisse. Tatsächlich hatte er sich noch zu nichts entschlossen, sondern suchte noch immer nach Möglichkeiten, sich und seiner Dynastie die Krone zu retten. In der Erkenntnis, daß längeres Zögern die Situation nur verschlimmern könne, hatte Max von Baden ein Telegramm, das eine halbe Zusage enthielt, für voll ausgelegt. Wie sein Erlaß durchblicken läßt, hoffte er auf diese Weise, wenn nicht für Wilhelm Vater und Sohn, so doch vielleicht für ein anderes Mitglied der Familie Hohenzollern die Krone zu retten. Das sollte nun freilich vergebene Liebesmühe sein.
Von der Deputation der Mehrheitssozialisten eilten Scheidemann und Otto Braun in den Reichstag zurück. Die andern waren gerade im Begriff, das Gebäude der Reichskanzlei zu verlassen, als sie auf die eben in es eingetretenen Abgeordneten der Unabhängigen Sozialdemokratie Oskar Cohn, W. Dittmann und Ewald Vogtherr stießen. Sie machten ihnen von dem Geschehenen Mitteilung, und Ebert schlug ihnen vor, es solle ein zu gleichen Teilen aus Mehrheitlern und Unabhängigen zusammengesetztes Kabinett gebildet werden, dem Mitglieder der bürgerlichen Parteien der Linken als Fachminister zur Seite stehen könnten; Deutschland solle als Republik mit tiefgreifendem sozialistischen Programm und dem Ziel der Erstellung einer sozialistischen Republik ausgerufen werden. Damit erklärten sich die genannten Abgeordneten grundsätzlich einverstanden, setzten aber hinzu, daß sie keine Vollmacht hatten, eine ihre Partei bindende Abmachung zu treffen, sondern dies dem Zentralvorstand überlassen müßten. Sie schlugen für diesen eine Bedenkzeit bis Nachmittag vier Uhr vor, worauf die andern willig eingingen.
Das Anerbieten von Ebert und Genossen an die Unabhängigen hat auf eine gerechte Würdigung Anspruch. Als es gemacht wurde, hatten die Mehrheitssozialisten nicht nur im Lande die übergroße Mehrheit der sozialistischen Arbeiter hinter sich, selbst in Berlin war ihnen die Unterstützung der Mehrheit des sozialistischen Proletariats noch sicher. Da war es ein Beweis großer Einsicht in die Erfordernisse des Augenblicks und ein Beispiel versöhnlichen Entgegenkommens, daß sie von jedem Gedanken einer Verteilung der Stellungen im Kabinett nach den Stärkeverhältnissen der Reichstagsvertretung oder der Mitgliederzahl der sozialistischen Parteien ohne weiteres Abstand nahmen und der organisatorisch noch sehr viel schwächeren sozialistischen Rivalin die gleiche Zahl Mitglieder der Regierung anboten die sie für ihre Partei beanspruchten. Auch unterließen sie jeden Versuch ihr hinsichtlich der Auswahl der Vertreter Bedingungen zu stellen. Auf die Frage Oskar Cohns: „Wie denken Sie über den Eintritt noch weiter links stehender Sozialisten in das Kabinett? Ich will ganz offen reden: wie denken Sie über den Eintritt von Karl Liebknecht?“ antwortete Ebert: „Bitte, bringen Sie uns Karl Liebknecht, er soll uns angenehm sein. Von Personenfragen machen wir die Bildung der Regierung nicht abhängig.“ Trotzdem stieß ihr Anerbieten m der Leitung der Unabhängigen Sozialdemokratie keineswegs auf einhellige Annahme.
Mittlerweile rückte der Nachmittag heran. Auf dem Platz vor dem Reichstag hatten sich ungeheure Züge von Arbeitern und Soldaten, denen sich ein nicht minder zahlreiches gemischtes Publikum zugesellt hatte mit wehenden roten Fahnen und Plakaten, auf denen die Worte „Frieden! Freiheit! Brot!“ standen, aufgestellt, eine unabsehbare singende und rufende Menschenmenge. Vor sie tritt an einem Fenster des Reichstags Philipp Scheidemann, gibt ein Zeichen, das Ruhe eintreten läßt, und verkündet dann:
„Mitbürger! Arbeiter! Genossen!
Das monarchische System ist zusammengebrochen. Ein großer Teil der Garnison hat sich uns angeschlossen. Die Hohenzollern haben abgedankt. Es lebe die große deutsche Republik! Fritz Ebert bildet eine neue Regierung, der alle sozialdemokratischen Richtungen angehören Dem Mihtäroberbefehlshaber ist der sozialdemokratische Abgeordnete Göhre beigeordnet, der die Verordnungen mit unterzeichnen wirdjetzt besteht unsere Aufgabe darin, den vollen Sieg des Volkes nicht beschmutzen zu lassen, und deshalb bitte ich Sie, sorgen Sie dafür, daß keine Störung der Sicherheit eintrete. Sorgen Sie dafür, daß die Republik die wir errichten, von keiner Seite gestört werde. Es lebe die freie deutsche Republik!“
Nachdem schon an verschiedenen Stellen der Ansprache stürmische Beifallsrufe die Ankündigung unterbrochen hatten, löste der Schlußruf brausende, sich immer wiederholende Hochs aus, denen dann erneutes Absingen sozialistischer Lieder folgte.
Im Reichstag selbst hielten nun die beiden sozialdemokratischen Fraktionen Sonderberatungen ab, um zu dem Vorschlag der Bildung eines paritätischen Kabinetts Stellung zu nehmen, und bejahendenfalls ihre Vertreter „n diesem zu bestimmen. Die große Mehrheitsfraktion brauchte dazu keine lange Zeit. Sie erklärte sich ohne Zaudern mit dem Vorschlag einverstanden und ernannte zu ihren Vertretern im Kabinett die beiden Vorsitzenden der Partei Fritz Ebert und Philipp Scheidemann, der eine als Sattler, der andere als Schriftsetzer aus der Arbeiterklasse hervorgegangen, und den als Juristen hochgeschätzten Otto Landsberg. Alle drei seit Jahrzehnten Mitglieder der Sozialdemokratie.
Nicht so einfach spielten sich die Dinge in der Leitung der Unabhängigen Sozialdemokratie ab, die, Vorstand und Reichtagsfraktion, im Sitzungszimmer der letzteren sich versammelt hatte. Hier stieß schon der bloße Gedanke eines Zusammenarbeitens mit den von den Mehrheitssozialisten ausgewählten Personen auf den leidenschaftlichen Widerspruch eines Teils der führenden Parteivertreter, dessen energischster Sprecher Georg Ledebour war. Nach ihm und Gleichdenkenden waren die Führer der Mehrheitler, die Ebert, Scheidemann, Landsberg und Genossen, Verräter am Sozialismus, mit denen man unter keinen Umständen eine Regierung bilden dürfe. Diese Leute müßten von vornherein abgelehnt werden. Das hätte nun faktisch die Ablehnung der Zusammenarbeit mit den Mehrheitlern überhaupt geheißen. Denn die Partei der Unabhängigen konnte diesen um so weniger Vorschriften über die Auswahl ihrer Vertreter machen, als gerade ihre Wortführer stets auf das Schärfste den Standpunkt vertreten hatten, daß die Partei bei Entsendung von Mitgliedern in eine gemischte Kommission unter keinen Umständen von Außenstehenden sich in die Auswahl hineinreden lassen dürfe. Auch hätten die Mehrheitler sich schwerlich die Ablehnung ihrer anerkanntesten Führer gefallen lassen. Ein Teil der Unabhängigen trat deshalb dafür ein, daß der Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Parteien in bezug auf die Auswahl ihrer Vertreter festgehalten werden müsse und nur das Grundsätzliche der Kabinettsbildung den Gegenstand der Verhandlung zu bilden habe. Die Debatte darüber nahm viel Zeit in Anspruch, sodaß Sendboten der Mehrheitler, die erfragen sollten, ob man zu einer Entscheidung gekommen sei, wiederholt unverrichteter Sache den Rückzug antreten mußten. Indes endete sie mit einem Sieg der letzteren Anschauung. Als man darauf dazu überging, das politische Grundprinzip der neuen Republik zu erörtern, nahm der kurz vorher mit einigen seiner Anhänger ins Zimmer getretene Karl Liebknecht das Wort und diktierte dem Schriftführer der Fraktion fast befehlenden Tones die Worte: „Alle exekutive, alle legislative, alle richterliche Gewalt bei den Arbeiter- und Soldatenräten.“ Er hatte am Nachmittag an der Spitze seines Anhangs auf dem Berliner Schloß die rote Fahne aufziehen lassen und von einem Fenster des Schlosses herab an die unten versammelte, Kopf an Kopf gedrängte Menge eine revolutionäre Ansprache gehalten, die jubelnden Beifall fand und endlose Hochs auslöste. Jetzt folgte auf seine Worte zunächst eine seltsame Pause. Keiner schien ihm rückhaltlos zuzustimmen, keiner sich mit ihm in eine Debatte einlassen zu wollen. [1] Noch war diese nicht wieder aufgenommen, als Philipp Scheidemann, der Hauptsprecher der ob des langen Wartens immer ungeduldiger werdenden Mehrheitler, begleitet von Brolat und Heller selbst in das Fraktionszimmer der Unabhängigen kam und an diese halb vorwurfsvoll die Frage richtete: „Seid Ihr nun endlich zu einem Entschluß gekommen?“ Man sagte ihm, es handle sich noch um die grundsätzlichen Bedingungen des Zusammenarbeitens. Auf die weitere Frage, ob denn ein Vorschlag vorliege, ward ihm die Niederschrift des Liebknecht'schen Diktats gereicht. Er betrachtete sie lange und sagte dann in fast väterlichem Tone: „Ja, aber Leute, wie denkt ihr euch denn das?“ Liebknecht antwortet schroff, es müsse sein, und es entspann sich eine Diskussion zwischen ihm, den zur Linken der Partei zählenden unabhängigen Arbeitern Emil Barth und Richard Müller einerseits und Scheidemann, Brolat und Heller andererseits. Aus der Tatsache, daß die gemäßigteren Mitglieder der Unabhängigen Sozialdemokratie schwiegen, schlössen die Mehrheitler, daß die Partei für die Unterhandlung absichtlich ihren linken Flügel vorgeschoben hatte, um den rechten zu entlasten. So u.a. Friedrich Stampfer in seiner Denkschrift Der 9. November (Berlin, Buchhandlung Vorwärts). Das ist aber, wie man sieht, durchaus irrig. Die gemäßigten Mitglieder der Partei schwiegen, weil sie Liebknecht nicht beipflichten konnten, ihm aber auch nicht vor andern entgegentreten mochten, bevor nicht die Parteileitung unter sich zu einer bestimmten Stellungnahme gelangt war.
Mit welchem Bescheid schließlich Scheidemann und seine Begleiter zur Mehrheitsfraktion zurückkehrten, ersieht man aus der Antwort, die der Parteivorstand dieser um 8½ Uhr abends dem Vorstand der Unabhängigen Sozialdemokratie zugehen ließ. Sie lautet:
„Von dem aufrichtigen Wunsche geleitet, zu einer Einigung zu gelangen, müssen wir unsere grundsätzliche Stellung zu Ihren Forderungen klarlegen.
Sie fordern:
Deutschland soll eine soziale Republik sein. Diese Forderung ist das Ziel unserer eigenen Politik, indessen hat darüber das Volk durch die konstituierende Versammlung zu entscheiden.
In dieser Republik soll die gesamte exekutive, legislative und jurisdiktioneile Macht ausschließlich in den Händen von gewählten Vertrauensmännern der gesamten werktätigen Bevölkerung und der Soldaten sein.
Ist mit diesem Verlangen die Diktatur eines Teils einer Klasse gemeint, hinter dem nicht die Volksmehrheit steht, so müssen wir diese Forderung ablehnen, weil sie unseren demokratischen Grundsätzen widerspricht.
Ausschluß aller bürgerlichen Mitglieder aus der Regierung.
Diese Forderung müssen wir ablehnen, weil ihre Erfüllung die Volksernährung erheblich gefährden, wenn nicht unmöglich machen würde.
Die Beteiligung der Unabhängigen gilt nur für drei Tage als ein Provisorium, um eine für den Abschluß des Waffenstillstands fähige Regierung zu schaffen. Wir halten ein Zusammenwirken der sozialistischen Richtungen mindestens bis zum Zusammentritt der Konstituante für erforderlich.
Die Ressortminister gelten nur als technische Gehilfen des eigentlichen und entscheidenden Kabinetts. Dieser Forderung stimmen wir zu.
Gleichberechtigung der beiden Leiter des Kabinetts. Wir sind für die Gleichberechtigung aller Kabinettsmitgleder, indessen hat die konstituierende Versammlung darüber zu entscheiden.“
Da der nach Kiel entsandte und auf der Rückreise befindliche Vorsitzende des Vorstands und der Fraktion der Unabhängigen Hugo Haase noch nicht in Berlin eingetroffen war, die Parteileitung aber ohne ihn eine so wichtige Entscheidung nicht treffen wollte, mußte die Beantwortung dieses Schreibens auf den nächsten Tag zurückgestellt werden. Während all dieses in den Sitzungszimmern vor sich ging, flutete draußen und in den anderen Räumen des Reichstags noch das Leben einer im Zustand der ersten Lebensäußerung befindlichen Revolution. Wichtige öffentliche Gebäude, darunter das Postamt und das Telegraphenamt wurden von Sozialisten besetzt, andere unter Bewachung genommen. An verschiedenen Stellen der Hauptstadt kam es auch zu Schießereien, die ernstesten davon in der Umgebung kaiserlicher Schlösser. Aus dem oberen Stock des der Ostseite des Berliner Schlosses gegenübergelegenen Marstalls wurden gegen 6 Uhr abends plötzlich Schüsse auf die vorübergehende Menge abgefeuert und forderten ihre Opfer. Mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten und Zivilisten erzwangen nach kurzem, aber schwerem Kampf, bei dem es mehrere Tote gab, den Eingang, fanden aber beim Vordringen keine Besatzung vor. Sie mußte sich aus irgendeinem unbekannten Ausgang geflüchtet haben. Noch mehr Tote gab es, als aus dem Gebäude der ehemaligen Königlichen Bibliothek und dem Gebäude der Universität, das eine neben, das andere gegenüber dem am Opernplatz gelegenen Palais, auf Passanten geschossen wurde und im Anschluß daran sich ein erbittertes Gefecht zwischen Belagerern und Besatzung entwickelte. Wieviel politischer Fanatismus und wieviel nervöse Überreizung oder mißverstandene Aufträge mit diesen und anderen Zwischenfällen gleicher Art zu tun gehabt haben, ist unaufgeklärt geblieben. Von irgendwelchem militärischerseits organisierten Widerstand war keine Rede. Die in Berlin weilenden militärischen Befehlshaber folgten der vom abgetretenen Reichskanzler ergangenen Weisung und ließen es ruhig geschehen, daß auch das Kommandanturgebäude und das Gebäude des Polizeipräsidiums von Sozialisten besetzt wurden.
Es war das Beste, was sie tun konnten. Hatten doch die Truppen der Berliner Garnison sich vorbehaltlos auf die Seite der Revolution gestellt. Voran das Kaiser-Alexanderregiment und das vierte Jägerregiment, die in derselben Kaserne lagen, bei deren Einweihung Wilhelm II. am 28. März 1901 jene Rede gehalten hatte, in der er zu den Soldaten sagte:
„Wie eine feste Burg ragt eure neue Kaserne in der nächsten Nähe des Schlosses auf. Das Kaiser Alexander-Regiment ist berufen, gewissermaßen als Leibwache Tag und Nacht bereit zu sein, um für den König und sein Haus, wenn es gilt, Leben und Blut in die Schanze zu schlagen. Und wenn jemals wieder in dieser Stadt eine Zeit wie damals (Anspielung auf den 18. März 1848) kommen sollte, eine Zeit der frechen Auflehnung gegen den König, dann, davon bin ich überzeugt, wird das Regiment Alexander alle Unbotmäßigkeit und Ungehörigkeit wider seinen Königlichen Herrn mit dem Bajonette zu Paaren treiben.“
Die „Burg“ war noch da, aber die Besatzung hielt es nicht für ihre Aufgabe, als Leibwache gegen das Volk sich zu betätigen. Ziemlich spät am Abend, gegen ½10 Uhr, kamen die gewählten Arbeiter- und Soldatenräte im großen Sitzungssaal des Reichstags zu einer ersten und großen Sitzung zusammen. Sie wird von Emil Barth, der zum Vorsitzenden gewählt wird, mit einer feurigen Ansprache eröffnet, die den siegreichen Aufstand des Berliner Proletariats feiert und der Berliner Garnison Anerkennung und Dank dafür ausspricht, daß sie sich auf die Seite des Volkes gestellt und durch ihr Verhalten der Revolution einen fast unblutigen Sieg gesichert habe. Es wird beschlossen, am folgenden Tage vormittags 10 Uhr in allen Fabriken Berlins Wahlen für den Arbeiterrat und in allen Kasernen und Lazaretten Wahlen für den Soldatenrat regelrecht vorzunehmen. Auf je 1.000 Arbeiter und Arbeiterinnen sollte ein Mitglied des Arbeiterrats und auf jedes Bataillon oder entsprechende Formation ein Mitglied des Soldatenrats gewählt werden, und die Gewählten sollten am Nachmittag behufs Wahl der provisorischen Regierung zusammentreten.
Vom provisorischen Arbeiter- und Soldatenrat, der in einem der Kommissionszimmer des Reichstags ständig versammelt war, war außer dem auf Seite 31 abgedruckten folgender Aufruf ausgegeben worden:
I.
Bürger! Arbeiter!
Zur wirksamen Durchführung der revolutionären Bewegung ist Ordnung und Ruhe nötig.
Die Bevölkerung wird dringend gebeten, Straßen auflaufe zu unter lassen und nach Eintritt der Dunkelheit die Straße zu meiden.
Die Groß-Berliner Magistrate arbeiten in Übereinstimmung mit dem Arbeiter- und Soldatenrat.
Die Groß-Berliner Schutzmannschaft hat sich in den Dienst des Volkes gestellt.
Lebensmittelautos und städtische Autos dürfen nicht angehalten werden.
Die Lebensmittelversorgung Groß-Berlins darf nicht gestört werden. Die Lebensmittelvorräte und Lebensmittelkarten-Verteilungsstellen unterstehen dem Schutze des Volkes. Sämtliche gemeinnützige Einrichtungen, wie Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke, Sparkassen und andere öffentliche Kassen, ebenso die Verkehrsmittel werden ebenfalls dem Schutze des Volkes unterstellt.
Der Volksausschuß zum Schutze der gemeinnützigen Einrichtungen von Groß-Berlin wird diese Einrichtungen durch Beauftragte beschützen. Die geschützten Einrichtungen werden durch Plakate kenntlich gemacht.
Die Beauftragten sind mit roten Armbinden mit dem Aufdruck „Volksausschuß“ versehen. Sie führen außerdem Legitimationskarten. In ihrer Tätigkeit werden sie durch Abgeordnete des Arbeiter- und Soldatenrats unterstützt.
Die Bürgerschaft wird gebeten, die Beauftragten des Volksausschusses in ihrer Tätigkeit zu unterstützen.
Berlin, den 9. November 1918.
Der Bevollmächtigte des Reichskanzlers und des Ministers des Innern
Paul Hirsch.
Der Volksausschuß
Eugen Ernst. Sassenbach. Leid.
Der Soldatenrat
Baumann, Gelberg, Hertel.
Gewerkschaftskommission Berlin und Umgegend
Körsten.
Außerdem erschien in der Nummer des Vorwärts vom 10. November 1918 folgende Bekanntmachung:
„Lebenswichtige Betriebe dürfen nicht streiken.
Es haben sich gestern eine Anzahl Gewerke dem Generalstreik angeschlossen, die nicht streiken dürfen, wenn nicht dadurch die gesamte Existenz der Berliner Bevölkerung auf das allerschwerste gefährdet werden soll. Um eine Fortdauer dieses Zustandes, der zu den schwersten Übelständen führen und eine Katastrophe heraufbeschwören würde, zu verhindern, hat der Arbeiter- und Soldatenrat folgende Bestimmungen erlassen, die hiermit der Arbeiterschaft zur Kenntnis gebracht werden.
Es dürfen nicht streiken:
Handels-, Verkehrs- und Transportgewerbe (insbesondere sämtliche Kutscher und Fahrer der Spedition, Lager, Lebensmittel und Kohlen).
(insbesondere Fleischer, Bäcker, Brauer, Restaurationsbetriebe (außer Cafes).
(insbesondere Gas, Wasser, Elektrizität, Kanalisation, Straßenreinigung, Müllabfuhr und ähnliche).
(auch Hauspersonal) der Krankenhäuser, Pflege- und Heilstätten.
Der Arbeiter- und Soldatenrat.”
Hieran anschließend ward in den Vorwärts vom 10. November 1918 noch folgende Anzeige in starken Lettern eingerückt:
Organisatoren gesucht!
Personen, die imstande sind, die Aufsicht über gemeinnützige und städtische Betriebe aller Art zu übernehmen, werden dringend gesucht.
Wer hierzu bereit ist, möge sich auf dem Büro seiner Organisation melden.
Der Arbeiter- und Soldatenrat.
Dem gleichen Zweck wie dieses Inserat diente der nachstehende, ebenfalls im Vorwärts vom 10. November 1918 veröffentlichte Aufruf:
Arbeiter! Mitbürger!
Die Unterzeichneten sind im Auftrage ihrer Organisationen und im Einvernehmen mit der Stadtverwaltung zu einem „Volksausschuß“ zum Schutze der gemeinnützigen Einrichtungen von Groß-Berlin zusammengetreten. Der Ausschuß wird die gemeinnützigen Einrichtungen, die im Interesse des Volkes ihre Tätigkeit schützen müssen, durch Beauftragte bewachen lassen. Solche Anlagen sind u.a.
die Aufbewahrungsstelle für die Lebensmittelvorräte,
die Lebensmittelkartenverteilungsstellen,
die Volksküchen,
die Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke,
die Sparkasse und andere öffentlichen Kassen,
die Verkehrsmittel.
Diese Einrichtungen sind auf jeden Fall sicherzustellen. Die Bevölkerung wird gebeten, die von uns Beauftragten in Ausübung ihrer Schutzmaßnahmen zu unterstüzen. Das Militär ist aus den städtischen Betrieben zurückgezogen, im Vertrauen darauf, daß das Volk sein Besitztum schützen wird.
Für den Verband sozialdemokratischer Wahlvereine Berlins und Umgegend.
Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
Karl Leid. Dr. Kurt Rosenfeld. Mathilde Wurm.
Für die sozialdemokratische Partei Deutschlands Bezirk Groß-Berlin
Eugen Ernst. Theodor Fischer. Hugo Pötzsch.
Für die Gewerkschaftskommission Berlins und Umgegend
Alwin Körsten. Eugen Brückner. Hermann Mietz. Ernst Schulze. Ludwig Hodagg.
Für den Verband der deutschen Gewerkvereine Hirsch-Duncker
(Berlin und Umgegend)
Franz Neustedt. Ed. Jordan.
Für das Kartell der christlichen Gewerkschaften:
Tränert.
Für die Berliner Stadtverwaltung:
Der Magistrat, Wermuth.
Aus all diesen Kundgebungen ersieht man, wie sehr am Tage der Revolution in der Arbeiterschaft Berlins der alte sozialdemokratische Geist vorherrschte, den die Begründer der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung ihr eingeimpft hatten; wie sehr die siegende Arbeiterschaft und ihre Vertreter darauf bedacht waren, der Revolution selbst im stürmenden Klassenkampf den Charakter einer entschiedenen Kulturbewegung zu bewahren; wie sehr sie von dem Gedanken getragen waren, auch in der Revolution müsse auf Wohl, Sicherheit und Recht der Nichtkämpfenden die größte Rücksicht genommen werden, und daß die Revolution, indem sie neuem Recht die Bahn bricht, sich rein halten müsse von Zugeständnissen an die Qeister der wilden Unordnung und einer niederen Instinkten Ausdruck gebenden Willkür.
Letztes Kapitel | Nächstes Kapitel
1. Der Schreiber dieses kann hier eine persönliche Bemerkung nicht unterdrücken. Ich hatte bis dahin trotz weitgehender Meinungsverschiedenheiten zwischen uns viel Sympathie für Karl Liebknecht gehabt. Als er aber in der geschilderten Weise der Partei das Bolschewistensystem aufzudiktieren sich anschickte, zuckte es mir wie ein Blitz durch den Kopf: „Er bringt uns die Konterrevolution.“
Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008