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Es wurde schon an verschiedenen Stellen dieser Schrift auf den großen Einfluß verwiesen, den die Ueberlieferung bei der Beurtheilung von Thatsachen und Ideen auch in der Sozialdemokratie ausübt. Ich sage ausdrücklich „auch in der Sozialdemokratie“, weil diese Macht der Ueberlieferung eine sehr verbreitete Erscheinung ist, von der keine Partei, keine literarische oder künstlerische Richtung frei ist, und die selbst in die meisten Wissenschaften stark hineinspielt. Sie wird auch kaum jemals völlig auszurotten sein. Es wird stets eine gewisse Zeit vergehen müssen, bis die Menschen die Unvereinbarkeit der Ueberlieferung mit dem Gewordenen soweit erkennen, um die erstere völlig zu den Akten werfen zu können. Bis dies geschieht oder ohne Schaden für die bestimmte Sache geschehen kann, bildet die Ueberlieferung gewöhnlich das kräftigste Mittel, Diejenigen zusammenzuhalten, die kein starkes, unausgesetzt wirkendes Interesse oder äußerer Druck zusammenkettet. Daher die intuitive Vorliebe aller Männer der Aktion, und seien sie in ihren Zielen noch so revolutionär, für die Ueberlieferung. „never swop horses while crossing a stream“ – wechsle niemals die Pferde, während du über einen Strom hinwegsetzest – dieses Motto des alten Lincoln wurzelt in demselben Gedanken wie Lassalles bekanntes Anathem gegen den „nörgelnden Geist des Liberalismus“, die „Krankheit des individuellen Meinens und Besserwissenwollens“. Während die Ueberlieferung wesentlich erhaltend ist, ist die Kritik stets zunächst destruktiv. Im Augenblick einer wichtigen Aktion kann daher selbst die sachlich berechtigtste Kritik vom Uebel und deshalb verwerflich sein. Dies anerkennen, heißt natürlich nicht die Ueberlieferung heilig sprechen und die Kritik verpönen. Parteien sind nicht immer inmitten der Stromsschnelle, wo alle Aufmerksamkeit nur einer Aufgabe gilt. Für eine Partei, die mit der thatsächlichen Entwicklung Schritt halten will, ist die Kritik unentbehrlich und kann die Ueberlieferung zur drückenden Last, aus einer motorischen Kraft eine hemmende Fessel werden.
Nun legen sich aber die Menschen in den wenigsten Fällen gern volle Rechenschaft über die Tragweite der Veränderungen ab, die sich in den Voraussetzungen ihrer Ueberlieferungen vollzogen haben. Gewöhnlich ziehen sie es vor, solchen Veränderungen bloß soweit Rechnung zu tragen, als es sich um Anerkennung unabweisbarer Thatsachen handelt, und sie so gut es geht mit den überkommenen Schlagworten in Einklang zu bringen. Das Mittel dazu heißt Rabulistik, und das Ergebniß für die Phraseologie ist in der Regel Cant.
Cant – das Wort ist englisch und soll im 16. Jahrhundert aufgekommen sein, als Bezeichnung für den frömmelnden Singsang der Puritaner. In seiner allgemeineren Bedeutung bezeichnet es die unwahre, entweder gedankenlos nachgeplapperte oder mit dem Bewußtsein ihrer Unwahrheit für irgend welchen Zweck ausgenutzte Redensart, ob es sich nun um Religion oder Politik, graue Theorie oder grünes Leben handelt. In diesem weiteren Sinne ist der Cant uralt – keine ärgeren Cantdrescher z.B. als die Griechen der nachklassischen Periode – und durchdringt in unzähligen Gestalten unser ganzes Kulturleben. Jede Nation, jede Klasse und jede durch Doktrin oder Interesse verbundene Gruppe hat ihren eigenen Cant. Theilweise ist er so sehr zur reinen Sache der Konvention, zur bloßen Form geworden, daß sich Niemand mehr über seine Inhaltlosigkeit täuscht und der Kampf gegen ihn müßiges Schießen auf Spatzen wäre. Dies gilt aber nicht von dem Cant, der im Gewand der Wissenschaftlichkeit auftritt, und dem Cant gewordenen politischen Schlagwort.
Mein Anspruch, „das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles“, ist vielfach als Ableugnung jedes bestimmten Zieles der sozialistischen Bewegung aufgefaßt worden, und Herr George Plechanow hat sogar entdeckt, daß ich diesen „famosen Satz“ aus dem Buche Zum sozialen Frieden von Gerhard von Schulze-Gävernitz herausgelesen habe. [1] Dort heißt es nämlich an einer Stelle, daß es zwar für den revolutionären Sozialismus unentbehrlich sei, die Verstaatlichung aller Produktionsmittel als Endziel zu nehmen, nicht aber für den praktisch-politischen Sozialismus, der nahe Ziele dem entfernteren voranstelle. Weil also hier eine Art Endziel als für praktische Zwecke entbehrlich hingestellt wird und auch ich geringes Interesse für eine Art Endziel bekannt habe, bin ich „Kritikloser Nachtreter“ von Schulze-Gävernitz. Man muß gestehen, solcher Nachweis zeugt von frappantem Gedankenreichthum.
Als ich vor acht Jahren das Schulze-Gävernitzsche Buch in der Neuen Zeit besprach, habe ich, obwohl meine Kritik noch stark von Voraussetzungen beeinflußt war, die ich heute nicht mehr hege, doch jene prinzipielle Gegenüberstellung von Endziel und praktischer Reformthätigkeit als unwesentlich bei Seite gelassen und – ohne auf Protest zu stoßen – zugegeben, daß für England eine weitere friedliche Entwicklung, so wie Schulze-Gävernitz sie in Aussicht stellte, wenigstens nicht unwahrscheinlich sei. Ich drückte die Ueberzeugung aus, daß bei Fortdauer der freien Entwicklung die englische Arbeiterklasse wohl ihre Forderungen steigern, aber nichts verlangen werde, dessen Nothwendigkeit und Durchführbarkeit nicht jedesmal über allen Zweifel erwiesen sei. Das ist im Grunde nichts anderes als was ich heute sage. Und wenn man mir die inzwischen erzielten Fortschritte der Sozialdemokratie in England entgegenhalten wollte, so erwidere ich darauf, daß mit dieser Ausbreitung eine Entwicklung der englischen Sozialdemokratie aus einer utopistisch-revolutionären Sekte, als die Engels selbst sie wiederholt hingestellt hat, in eine Partei der praktischen Reform Hand in Hand gegangen ist und sie erst möglich gemacht hat. Kein zurechnungsfähiger Sozialist träumt heute noch in England von einem bevorstehenden Sieg des Sozialismus durch eine große Katastrophe, keiner von einer raschen Eroberung des Parlaments durch das revolutionäre Proletariat. Dafür aber verlegt man sich immer mehr auf die Arbeit in den Munizipalitäten und anderen Selbstverwaltungskörpern und hat man die frühere Geringschätzung der Gewerkschaftsbewegung aufgegeben, mit dieser, und hier und da auch schon mit der Genossenschaftsbewegung, engere Fühlung gewonnen.
Und das Endziel? Nun, das bleibt eben Endziel. „Die Arbeiterklasse ... hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. Sie weiß, daß, und ihre eigene Befreiung und mit ihr jene höhere Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigene ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, daß sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits ins Schoße der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben., So Marx im Bürgerkrieg in Frankreich. Nicht in allen Punkten, aber im Grundgedanken war es dieser Ausspruch, an den ich bei Niederschrift des Satzes vom Endziel dachte. Denn was sagt er schließlich anderes, als daß die Bewegung, die Reihe der Prozesse alles, jedes vorher eingehender fixirte Endziel aber ihr gegenüber unwesentlich ist Ich habe seiner Zeit schon erklärt, daß ich die Form des Satzes vom Endziel, soweit sie die Auslegung zuläßt, daß jedes als Prinzip formulirte allgemeine Ziel der Arbeiterbewegung für werthlos erklärt werden soll, gern preisgebe. Aber was an vorgefaßten Theorien vom Ausgang der Bewegung über ein solches allgemein gefaßtes Ziel hinausgeht, das die prinzipielle Richtung und den Charakter der Bewegung bestimmt, wird nothgedrungen stets in Utopisterei verlaufen und zu irgend einer Zeit sich dem wirklichen theoretischen und praktischen Fortschritt der Bewegung hindernd und hemmend in den Weg stellen.
Wer nur ein wenig die Geschichte der Sozialdemokratie kennt, wird auch wissen, daß die Partei groß geworden ist durch fortgesetztes Zuwiderhandeln gegen solche Theorien und Verletzung der auf Grund ihrer gefaßten Beschlüsse. Was Engels im Vorwort zur Neuauflage des Bürgerkriegs hinsichtlich der Blanquisten und Proudhonisten in der Kommune sagt, nämlich daß sie beide durch die Praxis genöthigt wurden, gegen das eigene Dogma zu handeln, hat sich in anderer Gestalt noch oft wiederholt. Eine Theorie oder Grundsatzerklärung, die nicht weit genug ist, um auf jeder Stufe der Entwicklung Wahrnehmung naheliegender Interessen der Arbeiterklasse zu erlauben, wird immer durchbrochen werden, wie noch alle Abschwörungen voll reformerischer Kleinarbeit und von Unterstützung nahestehender bürgerlicher Parteien immer wieder vergessen wurden. Und immer wieder werden die Parteikongresse die Klage zu hören bekommen, es sei hier oder dort im Wahlkampf das Endziel des Sozialismus nicht genug in den Vordergrund gestellt worden.
In dem Zitat aus Schulze-Gävernitz, das Herr Plechanow mir entgegenschleudert, heißt es, durch Aufgeben der Behauptung, daß die Lage des Arbeiters [in der modernen Gesellschaft] hoffnungslos sei, verliere der Sozialismus seine revolutionäre Spitze und werde er zur Begründung gesetzgeberischer Forderungen verwendet. Aus dieser Gegenüberstellung geht deutlich hervor, daß Schulze-Gävernitz den Begriff revolutionär immer im Sinne des auf den gewaltsamen Umsturz abzielenden Strebens gebraucht. Herr Plechanow dreht die Sache um und wirft mich, weil ich die Lage des Arbeiters nicht als hoffnungslos hinstelle, weil ich ihre Verbesserungsfähigkeit und verschiedene andere Thatsachen anerkenne, die bürgerliche Oekonomen festgestellt haben, zu den „Gegnern des wissenschaftlichen Sozialismus“.
„Wissenschaftlicher Sozialismus“ – in der That. Wenn je das Wort Wissenschaft zum reinen Cant herabgewürdigt wurde, so in diesem Falle. Der Satz von der „Hoffnungslosigkeit“ der Lage des Arbeiters ist vor mehr als fünfzig Jahren aufgestellt worden. Er läuft durch die ganze radikal-sozialistische Literatur der dreißiger und vierziger Jahre, und viele festgestellte Thatsachen schienen ihn zu rechtfertigen. So ist es begreiflich, wenn Marx im Elend der Philosophie das Unterhaltsminimum für den natürlichen Arbeitslohn erklärte; wenn es im Kommunistischen Manifest kategorisch heißt, „der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seilnr Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichthum“; und wenn in den Klassenkämpfen gesagt wird, daß die geringste Verbesserung der Lage des Arbeiters „eine Utopie bleibt innerhalb der bürgerlichen Republik“. Ist nun die Lage der Arbeiter heute noch hoffnungslos, so sind natürlich auch diese Sätze noch richtig. Letzteres implizirt der Vorwurf des Herrn Plechanow. Die Hoffnungslosigkeit der Lage des Arbeiters ist danach unumstößliches Axiom des „wissenschaftlichen Sozialismus“. Thatsachen anerkennen, die gegen sie sprechen, heißt nach ihm den bürgerlichen Oekonomen nachtreten, die diese Thatsachen konstatirt haben. Ihnen gebühre daher der Dank, den Kautsky mir zugebilligt hatte. „Richten wir ihn gleich überhaupt an alle Anhänger und Anbeter der ‚wirthschaftlichen Harmonien‘, und vor Allem selbstverständlich an den – unsterblichen Bastiat!“
Der große englische Humorist Dickens hat in einem seiner Romane diese Art zu disputiren sehr gut charakterisirt. „Deine Tochter hat einen Bettler geheirathet“, sagt eine, in dürftigen Verhältnissen lebende, etwas großspurige Dame zu ihrem Manne, und als dieser ihr erwidert, der neue Schwiegersohn sei doch nicht gerade ein Bettler, erhält er die vernichtende sarkastische Antwort: „So! Ich wußte nicht, daß er große Liegenschaften besitzt.“ Eine Uebertreibung bestreiten, heißt die entgegengesetzte Uebertreibung behaupten.
Es giebt überall naive Gemüther, auf die solche Finten Eindruck machen. Etwas anerkennen, was bürgerliche Oekonomen gegen sozialistische Voraussetzungen eingewendet haben – welche Verirrung! Ich bin aber verhärtet genug, die Sarkasmen der Mrs. Wilfer einfach für kindisch zu halten. Ein Irrthum wird dadurch nicht der Forterhaltung werth, daß Marx und Engels ihn einmal getheilt haben, und eine Wahrheit verliert dadurch nicht an Gewicht, daß sie ein antisozialistischer oder nicht vollwichtig sozialistischer Oekonom zuerst gefunden oder dargestellt hat. Auf dem Gebiet der Wissenschaft stellt die Tendenz keine Privilegien oder Ausstoßungsdekrete aus. Seine Einseitigkeiten in der Darstellung der Entwicklungsgeschichte des modernen England, die ich seiner Zeit sicher scharf genug zurückgewiesen habe, haben Herrn von Schulze-Gävernitz nicht verhindert, sowohl in seiner Schrift Zum sozialen Frieden wie in seiner Monographie Der Großbetrieb ein wirthschaftlicher und sozialer Fortschritt Thatsachen festgestellt zu haben, die für die Erkenntniß der wirthschaftlichen Entwicklung der Gegenwart von großem Werthe sind, und weit entfernt, darin einen Vorwurf zu erblicken, erkenne ich gern an, durch Schulze-Gävernitz ebenso wie durch andere, aus der Schule Brentanos hervorgegangene Oekonomen (Herkner, Sinzheimer) auf viele Thatsachen aufmerksam gemacht worden zu sein, die ich vorher nicht oder nur ganz unzulänglich gewürdigt hatte. Ich schäme mich sogar nicht zu gestehen, auch aus Julius Wolffs Buch Sozialismus und sozialistische Gesellschaftsordnung Einiges gelernt zu haben.
Herr Plechanow nennt das „eklektische Verquickung [des wissenschaftlichen Sozialismus] mit den Lehren der bürgerlichen Oekonomen.“ Als ob nicht neun Zehntel der Elemente des wissenschaftlichen Sozialismus aus den Schriften „bürgerlicher Oekonomen“ genommen wären, als ob es überhaupt eine Parteiwissenschaft gäbe. [2]
Zum Unglück für den wissenschaftlichen Sozialismus des Herrn Plechanow sind die vorherzitirten marxistischen Sätze von der Hoffnungslosigkeit der Lage des Arbeiters umgeworfen worden in einem Buche, das den Namen trägt Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Da lesen wir von der durch das Fabrikgesetz von 1847 bewirkten „physischen und moralischeu Wiedergeburt“ der Textilarbeiter von Lancashire, die „das blödeste Auge schlug“. Es war also nicht einmal die bürgerliche Republik nothwendig gewesen, um eine gewisse Verbesserung in der Lage einer großen Kategorie der Arbeiterschaft herbeizuführen. In demselben Buche steht, daß die jetzige Gesellschaft „kein fester Krystall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus, daß auch in der Behandlung der wirthschaftlichen Fragen seitens der offiziellen Vertreter dieser Gesellschaft „ein Fortschritt unverkennbar“ sei. Ferner daß der Verfasser den Resultaten der englischen Fabrikgesetzgebung einen so weiten Raum im Buche gewidmet habe, und auf dem Festlande zur Nachahmung anzuspornen und so dahin zu wirken, daß der Umwälzungsprozeß der Gesellschaft sich in immer humaneren Formen vollziehe. (Vorwort) Was alles nicht Hoffnungslosigkeit, sondern Verbesserungsfähigkeit der Lage des Arbeiters bedeutet. Und da seit 1866, wo dies geschrieben wurde, die geschilderte Gesetzgebung nicht abgeschwächt, sondern verbessert, verallgemeinert und durch in gleicher Richtung wirkende Gesetze und Einrichtungen ergänzt worden ist, kann heute von Hoffnungslosigkeit der Lage der Arbeiter noch weit weniger die Rede sein als damals. Wenn solche Thatsachen konstatiren dem „unsterblichen Bastiat“ nachtreten heißt, so gehört zu den Nachtretern dieses liberalen Oekonomen in erster Reihe – Karl Marx.
Herr Plechanow zitirt mit großem Behagen Liebknechts Ausspruch auf dem Stuttgarter Parteitag : „Ein Geist wie Marx mußte in England sein, um dort sein Kapital zu schreiben, Bernstein aber läßt sich imponiren von der kolossalen Entwicklung der englischen Bourgeoisie.“ Er findet ihn indeß noch viel zu günstig für mich. Man brauche kein Marx zu sein, um in Eugland dem wissenschaftlichen Sozialismus (im Sinne von Marx und Engels) treu zu bleiben. Mein Abfall stamme vielmehr daher, daß ich mit diesem Sozialismus „schlecht vertraut“ sei.
Es kann mir selbstverständlich nicht einfallen, über Letzteres mit einem Manne zu streiten, dessen Wissenschaft es verlangt, bis zum großen Umsturz unter allen Umständen die Lage des Arbeiters für hoffnungslos zu erklären. Anders mit Liebknecht. Wenn ich dessen Ausspruch recht verstanden habe, so lief er darauf hinaus, mir mildernde Umstände zuzubilligen. So gern ich das anerkenne, so muß ich doch erklären, daß ich die mildernden Umstände nicht acceptiren kann. Natürlich liegt es mir fern, mich mit dem Denker Marx zu messen. Aber es handelt sich hier nicht um meine größere oder geringere Inferiorität gegenüber Marx. Es kann Jemand gegen Marx Recht haben, der ihm an Wissen und Geist nicht entfernt das Wasser reicht. Worum es sich handelt, ist, ob die von mir konstatirten Thatsachen richtig sind oder nicht, und ob sie die Konsequenzen rechtfertigen, die ich aus ihnen gezogen habe. Wie aus dem Vorstehenden ersichtlich, ist auch ein Geist wie Marx nicht von dem Schicksal verschont geblieben, seine vorgefaßten Meinungen in England erheblich zu modifiziren, ist auch er in England gewissen Ansichten, die er dorthin brachte, abtrünnig geworden.
Nun kann man mir entgegenhalten, Marx habe allerdings jene Verbesserungen anerkannt, wie wenig jedoch diese Einzelheiten seine Grundanschauung beeinflußt hätten, beweise das Kapitel über die geschichtliche Tendenz der kapitalistische Akkumulation am Schlusse des ersten Bandes Kapital. Worauf ich zu erwidern habe, daß, soweit das richtig ist, es gegen jene Kapitel spricht und nicht gegen mich.
Man kann dies vielzitirte Kapitel in sehr verschiedenartigem Sinne auffassen. Ich glaube der Erste gewesen zu sein, der es, und zwar wiederholt, als summarische Kennzeichnung einer Entwicklungstendenz gedeutet hat, die der kapitalistischen Akkumulation innewohne, die aber in der Praxis sich nicht rein durchsetze und daher auch nicht zur dort geschilderten Zuspitzung der Gegensätze zu treiben brauche. Engels hat sich niemals gegen diese meine Auslegung gewendet, sie weder mündlich noch im Drucke für falsch erklärt. Er hat auch kein Wort dagegen einzuwenden gehabt, als ich 1891 in einer Abhandlung über eine Schulze-Gävernitzsche Arbeit mit Bezug auf die einschlägigen Fragen schrieb: „Es ist klar, daß wo die Gesetzgebung, die planmäßige und bewußte Aktion der Gesellschaft, entsprechend eingreift, das Walten der Tendenzen der wirthschaftlichen Entwicklung durchkreuzt, unter Umstäuden sogar aufgehoben werden kann. Marx und Engels haben das nicht nur nie geleugnet, sondern im Gegentheil stets betont.“ (Neue Zeit, IX, 1, S. 736) Liest man das erwähnte Kapitel in dieser Auffassung, so wird man auch bei seinen einzelnen Sätzen immer stillschweigend das Wort „Tendenz“ hinzusetzen und sich dadurch der Nothwendigkeit enthoben sehen, sie durch sinnverrenkende Auslegungskünste mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Jedoch würde oder wird alsdann das Kapitel selbst, je mehr die thatsächliche Entwicklung fortschreitet, immer bedeutungsloser werden. Denn seine theoretische Bedeutung liegt nicht in der Feststellung der allgemeinen Tendenz zu kapitalistischer Zentralisation und Akkumulation, die ja lange vor Marx von Bonrgeois-Oekonomen und Sozialisten konstatirt worden war, sondern in der Marx eigenen Darstellung der Umstände und Formen, unter denen sie sich auf höherer Stufe verwirkliche, und der Resultate, zu denen sie führen sollte. In dieser Hinsicht aber zeitigt die faktische Entwicklung immer neue Einrichtungen und Kräfte, immer neue Thatsachen, angesichts deren die dortige Darstellung ungenügend erscheint und in entsprechendem Maße an Fähigkeit einbüßt, als Vorzeichnung der kommenden Entwicklung zu diene. Dies meine Auffassung.
Man kann indeß das Kapitel auch anders verstehen. Man kann es dahin auffassen, daß all die erwähnten und etwa noch erfolgenden Verbesserungen nur zeitweilige Abhilfe gegen die niederdrückenden Tendenzen des Kapitalismus schaffen, daß sie unbedeutende Modifikationen bedeuten, die gegen die von Marx konstatirte Zuspitzung der Gegensätze auf die Dauer nichts Gründliches ausrichten können, diese vielmehr schließlich doch – wenn auch nicht buchstäblich, so doch im Wesentlichen – in der geschilderten Weise eintreten und zu der angedeuteten katastrophenmäßigen Umwälzung führen werde. Diese Auffassung könnte sich auf die kategorische Fassung der Schlußsätze des Kapitels berufen und erhält eine gewisse Bekräftigung dadurch, daß am Ende doch wieder auf das Kommunistische Manifest verwiesen wird, nachdem kurz vorher auch Hegel erschienen ist mit seiner Negation der Negation – Wiederherstellung des von der kapitalistischen Produktionsweise negirten individuellen Eigenthums auf neuer Grundlage.
Es ist nach meiner Ansicht unmöglich, schlechthin die eine Auffassung für richtig und die andere für absolut falsch zu erklären. Für mich illustrirt vielmehr das Kapitel einen Dualismus, der durch das ganze monumentale Marxsche Werk geht, und in weniger prägnanter Weise auch an anderen Stellen zum Ausdruck kommt. Einen Dualismus, der darin besteht, daß das Werk wissenschaftliche Untersuchung sein und doch eine, lange vor seiner Konzipirung fertige These beweisen will, daß ihm ein Schema zu Grunde liegt, in dem das Resultat, zu dem hin die Entwicklung führen sollte, schon von vornhinein feststand. Das Zurückkomnien auf das Kommunistische Manifest weist hier auf einen thatsächlichen Rest von Utopismus im Marxschen System hin. Marx hatte die Lösung der Utopisten im Wesentlichen acceptirt, aber ihre Mittel und Beweise für unzulänglich erkannt. Er unternahm also deren Revision, und zwar mit dem Fleiß, der kritischen Schärfe und der Wahrheitsliebe des wissenschaftlichen Genies. Er verschwieg keine wichtige Thatsache, er unterließ es auch, solange der Gegenstand der Untersuchung keine unmittelbare Beziehung zum Endziel des Beweisschemas hatte, die Tragweite dieser Thatsachen gewaltsam zu verkleinern. Bis dahin bleibt sein Werk von jeder, der Wissenschaftlichkeit nothwendig Abbruch thuenden Tendenz frei. [3] Denn die allgemeine Sympathie mit den Emanzipationsbestrebungen der arbeitenden Klasse steht an sich der Wissenschaftlichkeit nicht im Wege. Aber wie sich Marx solchen Punkten nähert, wo jenes Endziel ernsthaft in Frage kommt, da wird er unsicher und unzuverlässig, da kommt es zu solchen Widersprüchen, wie sie in der vorliegenden Schrift u.A. im Abschnitt über die Einkommensbewegung in der modernen Gesellschaft aufgezeigt wurden, da zeigt es sich, daß dieser große wissenschaftliche Geist doch schließlich Gefangener einer Doktrin war. Er hat, um es bildlich auszudrücken, im Rahmen eines vorgefundenen Gerüsts ein mächtiges Gebäude aufgerichtet, bei dessen Aufbau er sich solange streng an die Gesetze der wissenschaftlichen Baukunst hielt, solange sie nicht mit den Bedingungen kollidirten, die ihm die Konstruktion des Gerüsts vorschrieb, sie aber vernachlässigte oder umging, wo das Gerüst zu eng war, um ihre Beobachtung zu erlauben. Statt da, wo es dem Bau Schranken setzte, kraft deren dieser es nicht zum Freistehen bringen konnte, das Gerüst selbst zu zertrümmern, änderte er am Bau selbst auf Kosten der Proportion herum, und brachte ihn so erst recht in Abhängigkeit vom Gerüst. War es das Bewußtsein dieses irrationellen Verhältnisses, das ihn von der Fertigstellung des Werkes immer wieder zu Verbesserungen an Einzeltheilen gehen ließ? Wie dem auch sei, meine Ueberzeugung ist, daß, wo immer jener Dualismus sich zeigt, das Gerüst fallen muß, wenn das Gebäude zu seinem Rechte kommen soll. Im Letzteren und nicht im Ersteren liegt das, was werth ist, von Marx fortzuleben.
Nichts bestätigt mich in dieser Auffassung mehr als die Aengstlichkeit, mit der gerade die tiefer angelegten derjenigen Marxisten, die sich noch nicht vom dialektischen Schema des Werkes – dies das besagte Gerüst – haben trennen können, an gewissen, von der Wirklichkeit überholten Aufstellungen des Kapitals festzuhalten suchen. So wenigstens kann ich es mir nur erklären, wie ein sonst dem Thatsächlichen so zugewandter Kopf wie Kautsky mir in Stuttgart auf die Bemerkung, daß die Zahl der Besitzenden seit Jahr und Tag zu- nicht abnehme, entgegenrufen konnte: „Wenn das richtig wäre, dann wäre der Zeitpunkt unseres Sieges nicht nur sehr weit hinausgeschoben, dann kämen wir überhaupt nicht ans Ziel. Wenn die Kapitalisten zunehmen und nicht die Besitzlosen, dann entfernen wir uns immer mehr vom Ziel, je mehr die Entwicklung vor sich geht, dann festigt sich der Kapitalismus, nicht der Sozialismus.“
Ohne den Zusammenhang mit dem Marxschen Beweisschema wäre mir der vorstehende Satz, der natürlich von Herrn Plechanow als „trefflich“ voll und ganz unterschrieben wird, im Munde eines Kautsky unbegreiflich. In ähnlicher Auffassmig hatte mir schon Fräulein Luxemburg in ihren früher erwähnten Artikeln, die ja überhaupt in Bezug auf Methode zum Besten gehören, das gegen mich geschrieben wurde, entgegengehalten, daß bei meiner Auffassungsweise der Sozialismus aufhöre, eine objektive historische Nothwendigkeit zu sein und eine idealistische Begründung erhalte. Trotzdem ihre Beweisführung einige haarsträubende logische Quersprünge aufzeigt und in eine ganz willkürliche Gleichsetzung von Idealismus und Utopismus ausläuft, trifft sie doch insofern den Kern der Sache, als ich in der That den Sieg des Sozialismus nicht von dessen „immanenter ökonomischer Nothwendigkeit“ abhängig mache, es vielmehr weder für möglich, noch für nöthig halte, ihm eine rein materialistische Begründung zu geben.
Daß die Zahl der Besitzenden zu- und nicht abnimmt, ist nicht eine Erfindung bürgerlicher Harmonie-Oekonomen, sondern eine von den Steuerbehörden oft sehr zum Verdruß der Betreffenden ausgekundschaftete Thatsache, an der sich heute gar nicht mehr rütteln läßt. Was hat aber diese Thatsache für den Sieg des Sozialismus zu besagen? Warum soll an ihr, beziehungsweise ihrer Widerlegung die Verwirklichung des Sozialismus hängen? Nun, einfach deshalb, weil es das dialektische Schema so vorzuschreiben scheint, weil eine Stange aus dem Gerüst herauszubrechen droht, wenn man zugiebt, daß das gesellschaftliche Mehrprodukt nicht von einer abnehmenden, sondern von einer wachsenden Zahl von Besitzenden angeeignet wird. Aber nur die spekulative Doktrin wird von dieser Frage berührt, für die faktischen Bestrebungen der Arbeiter ist sie ganz nebensächlich. Weder ihr Kampf um die politische Demokratie, noch ihr Kampf um die Demokratie im Gewerbe werden davon betroffen. Die Aussichten dieses Kampfes hängen nicht von der Stange der Konzentration des Kapitals in den Händen einer zusammenschrumpfenden Zahl von Magnaten ab, noch von dem ganzen dialektischen Gerüst, wozu diese Stange gehört, sondern von dem Wachsthum des gesellschaftlichen Reichthums, beziehungsweise der gesellschaftlichen Produktivkräfte in Verbindung mit denn allgemeinen sozialen Fortschritt, insbesondere der intellektuellen und moralischen Reife der Arbeiterklasse selbst.
Hinge der Sieg des Sozialismus von dem unausgesetzten Zusammenschrumpfen der Zahl der Kapitalmagnaten ab, so müßte die Sozialdemokratie, falls sie folgerichtig handeln wollte, wenn nicht die Anhäufung von Kapitalien in immer weniger Händen mit allen Mitteln unterstützen, so doch mindestens Alles unterlassen, was dieses Zusammenschrumpfen aushalten könnte. Faktisch thut sie oft genug das Gegentheil. So, wo es auf ihre Stimmen ankommt, in Fragen der Steuerpolitik. Vom Standpunkt der Zusammenbruchstheorie wäre überhaupt ein großer Theil ihrer praktischen Thätigkeit Penelopenarbeit. Aber nicht sie ist es, die in dieser Hinsicht im Unrecht ist. Der Fehler liegt bei der Doktrin, soweit diese der Vorstellung Raum giebt, daß der Fortschritt von der Verschlechterung der Verhältnisse abhängt.
Kautsky wendet sich im Vorwort seiner Agrarfrage gegen diejenigen, die von der Nothwendigkeit einer Ueberwindung des Marxismus sprechen. Er sehe wohl Zweifel und Bedenken auftauchen, aber diese allein bedeuteten noch keine Entwicklung über die gewonnene Entwicklung hinaus.
Das ist insoweit richtig, als Zweifel und Bedenken noch keine positive Widerlegung sind. Aber sie können der erste Schritt zu solcher sein. Indeß handelt es sich denn überhaupt um Ueberwindung des Marxismus oder nicht vielmehr um Abstoßung gewisser Reste von Utopismus, die der Marxismus noch mit sich herumschleppt, und in denen wir die Urquelle der Widersprüche in Theorie und Praxis zu suchen haben, die dem Marxismus von seinen Kritikern nachgewiesen worden sind? Diese Schrift ist schon umfangreicher geworden als sie sollte, ich muß es mir daher versagen, auf alle hierher gehörigen Punkte einzugehen. Aber umsomehr halte ich es für meine Pflicht, zu erklären, daß ich eine ganze Reihe, von anderer Seite erhobener Einwände gegen gewisse Einzelheiten der Marxschen Lehre für unwiderlegt, einzelne für imwiderlegbar halte. Und ich kaun dies um so eher thun, als diese Einwände für die Bestrebungen der Sozialdemokratie ganz unerheblich sind.
Wir sollten in dieser Hinsicht etwas weniger empfindlich sein. Es ist schon wiederholt vorgekommen, daß von Marxisten Ausführungen, von denen sie glaubten, daß sie den Lehren von Marx diametral widersprächen, mit großem Eifer bekämpft wurden, während sich schließlich herausstellte, daß der vermeintliche Widerspruch zum größten Theile gar nicht bestand. Ich habe da unter Anderem die Polemik im Auge, die sich an die Untersuchungen des verstorbenen Dr. Stiebeling über die Wirkung der Verdichtung des Kapitals auf die Ausbeutungsrate knüpfte. Sowohl in der Ausdrucksweise, als auch in den Einzelheiten seiner Berechnungen ließ sich Stiebeling große Fehler zu Schulden kommen, die aufgedeckt zu haben vor Allem das Verdienst Kautskys ist. Dagegen hat der dritte Band Kapital gezeigt, daß der Grundgedanke von Stiebelings Arbeiten: die Abnahme der Ausbeutungsrate mit der steigenden Verdichtung des Kapitals, nicht in jenem Widerspruch zur Marxschen Lehre stand, wie es den Meisten von uns damals erschien, wenn seine Begründung der Erscheinung auch eine andere ist wie bei Marx. Seinerzeit aber mußte Stiebeling hören, daß wenn, was er ausführe, richtig sei, die theoretische Grundlage der heutigen Arbeiterbewegung, die Marxsche Lehre, falsch sei. Und wirklich konnten sich diejenigen, die so sprachen, auf verschiedene Stellen von Marx berufen. Eine Analyse der Kontroverse, die sich an die Stiebelingschen Aufsätze knüpfte, würde überhaupt sehr gut zur Veranschaulichung verschiedener Widersprüche der Werthlehre dienen können. [4]
Aehnliche Widersprüche bestehen hinsichtlich der Abschätzung des Verhältnisses von Oekonomie und Gewalt in der Geschichte, und sie findel ihr Gegenstück in den Widersprüchen in der Beurtheilung der praktischen Aufgaben und Möglichkeiten der Arbeiterbewegung, die an anderer Stelle schon erörtert wurden. Es ist dies indeß ein Punkt, auf dem es nöthig ist, hier noch einmal zurückzukommen. Jedoch soll nicht die Frage untersucht werden, wie weit ursprünglich und im weiteren Verlauf der Geschichte die Gewalt die Oekonomie bestimmt hat und umgekehrt, sondern lediglich die Frage der schöpferischen Kraft der Gewalt in der gegebenen Gesellschaft. Während früher gelegentlich von Marxisten der Gewalt hierin eine rein negative Rolle zugewiesen wurde, macht sich heute eine Uebertreibung in der entgegengesetzten Richtung bemerkbar, wird der Gewalt nahezu schöpferische Allmacht zugewiesen und erscheint die Betonung der politischen Thätigkeit geradezu als die Quintessenz des „wissenschaftlichen Sozialismus“ oder auch „wissenschaftlichen Kommunismus“, wie eine neue Mode den Ausdruck, nicht gerade zum Vortheil seiner Logik, verbessert hat.
Nun wäre es abgeschmackt, auf die Vorurtheile früherer Generationen hinsichtlich der Fähigkeiten der politischen Macht zurückzugehen, denn es hieße auch hier, noch hinter jene zurückgehen. Die Vorurtheil, welche die Utopisten z.B. in dieser Hinsicht hegten, hatten ihren guten Grund, ja, mal kann kaum sagen, daß sie Vorurtheile waren, denn sie beruhten auf der faktischen Unreife der arbeitenden Klassen der Epoche, angesichts deren nur vorübergehende Pöbelherrschaft auf der einen und Rückfall in Klassenoligarchie auf der anderen möglich war. Unter diesen Umständen mußte die Verweisung auf die Politik als eine Ableitung von dringenderen Aufgaben erscheinen. Heute sind diese Voraussetzungen zum Theil gehoben, und darum wird kein zurechnungsfähiger Mensch daran denken, die politische Aktion mit den Argumenten jener Epoche kritisiren zu wollen.
Der Marxismus drehte, wie wir gesehen haben, zunächst die Sache um und predigte, unter Hinweis auf die potentiellen Fähigkeiten des industriellen Proletariats, die politische Aktion als vornehmste Aufgabe der Bewegung. Aber er bewegte sich dabei in großen Widersprüchen: Auch er erkannte, und unterschied sich dadurch von den demagogischen Parteien, daß die Arbeiterklasse die zu ihrer Emanzipation erforderte Reife noch nicht erlangt hatte und daß auch die ökonomischen Vorbedingungen dazu noch nicht gegeben waren. Trotzdem aber wandte er sich immer wieder einer Taktik zu, die beide Vorbedingungen als nahezu erfüllt annahm. Wir stoßen in seinen Publikationen auf Stellen, wo die Unreife der Arbeiter mit einer Schärfe betont wird, die sich wenig vom Doktrinarismus der ersten Sozialisten unterscheidet, und bald hinterher auf Stellen, nach denen man annehmen sollte, daß alle Kultur, alle Intelligenz, alle Tugend nur in der Arbeiterklasse zu finden sei, die es unerfindlich machen, warum die extremsten Sozialrevolutionäre und Gewaltanarchisten nicht Recht haben sollen. Dementsprechend ist die politische Aktion immer wieder auf die baldigst erwartete revolutionäre Katastrophe gerichtet, der gegenüber die gesetzliche Arbeit lange nur als ein pis aller, eine bloß zeitweilige Auskunft erscheint. Und wir vermissen jegliches prinzipielle Eingehen auf die Frage, was von der gesetzlichen, und was von der revolutionären Aktion erwartet werden kann.
Daß in letzterer Hinsicht große Unterschiede vorwalten, leuchtet auf den ersten Blick ein. Aber sie werden gewöhnlich nur darin gesucht, daß das Gesetz oder der Weg gesetzlicher Reform der langsamere, der der Revolutionsgewalt der schnellere und radikalere sei. [5] Dies trifft jedoch nur bedingt zu. Es kommt ganz auf die Natur der Maßregeln an, auf ihre Beziehung zu den verschiedenen Volksklassen und Volksgewohnheiten, ob der gesetzliche oder der revolutionäre Weg der verheißendere ist.
Im Allgemeinen kann man hier sagen, daß der revolutionäre Weg (immer im Sinne von Revolutionsgewalt) schnellere Arbeit leistet, soweit er sich um das Hinwegräumen von Hindernissen handelt, die eine privilegirt Minderheit dem sozialen Fortschritt in den Weg stellt; daß seine Stärke auf der negativen Seite liegt.
Die verfassungsmäßige Gesetzgebung arbeitet in dieser Hinsicht in der Regel langsamer. Ihr Weg ist gewöhnlich der des Kompromisses, nicht der Abschaffung, sondern der Abfindung erworbener Rechte. Aber sie ist da stärker als die Revolution, wo das Vorurtheil, der beschränkte Horizont der großen Masse dem sozialen Fortschritt hindernd in den Weg tritt, und sie bietet da die größeren Vorzüge, wo es sich um die Schaffung dauernd lebensfähiger ökonomischer Einrichtungen handelt, mit anderen Worten für die positive sozialpolitische Arbeit.
In der Gesetzgebung dominirt in ruhigen Zeiten der Intellekt das Gefühl, in der Revolution das Gefühl den Intellekt. Wenn aber das Gefühl oft ein mangelhafter Dirigent ist, so der Intellekt ein schwerfälliger Motor. Wo die Revolution durch Uebereilung, sündigt die alltägliche Gesetzgebung durch Verschleppung. Die Gesetzgebung wirkt als planmäßige, die Revolution als elementarische Gewalt.
Sobald eine Nation einen politischen Zustand erreicht hat, wo das Recht der besitzenden Minderheit aufgehört hat, ein ernsthaftes Hinderniß für den sozialen Fortschritt zu bilden, wo die negativen Aufgaben der politischen Aktion zurücktreten hinter den positiven, da wird die Berufung auf die gewaltsame Revolution zur inhaltlosen Phrase. [6] Man kann eine Regierung, eine privilegirte Minderheit stürzen, aber nicht ein Volk.
Selbst das Gesetz, mit allem Einfluß der durch die bewaffnete Macht geschützten Autorität hinter sich, ist oft ohnmächtig gegen eingewurzelte Sitten und Vorurtheile des Volkes. Die Mißwirthschaft im heutigen Italien hat ihren letzten Grund keineswegs im bösen Willen oder mangelnden guten Willen des Hauses Savoyen. Gegenüber der Tradition gewordenen Korruption des Beamtenthums und der Leichtlebigkeit der Volksmasse versagen häufig die bestegemeinten Gesetze und Verordnungen. Aehnlich in Spanien, in Griechemand, und in noch potenzirterem Maße im Orient. Selbst in Frankreich, wo die Republik Großes für den Fortschritt der Nation geleistet hat, hat dieselbe doch gewisse Krebsschäden des nationalen Lebens nicht nur nicht ausgerottet, sondern noch gesteigert. Was unter dem Bourgeoiskönigthum als unerhörte Korruption erschien, liest sich heute wie harmlose Spielerei. Eine Nation, ein Volk, ist nur im Begriff eine Einiheit, die gesetzlich proklamirte Souveränetät des Volkes macht dieses noch nicht in Wirklichkeit zum bestimmenden Faktor. Sie kann die Regierung in Abhängigkeit bringen gerade von denen, gegeuüber denen sie stark sein sollte: den Beamten, den Geschäftspolitikern, den Eigenthümern der Presse. Und das gilt für revolutionäre nicht minder wie für konstitutionelle Regierungen.
Die Diktatur des Proletariats heißt, wo die Arbeiterklasse nicht schon sehr starke eigene Organisationen wirthschaftlichen Charakters besitzt und durch Schulung in Selbstverwaltungskörpern einen hohen Grad von geistiger Selbständigkeit erreicht hat, die Diktatur von Klubrednern und Literaten. Ich möchte denjenigen, die in Unterdrückung und Chikanirung der Arbeiterorganisationen und Ausschluß der Arbeiter aus der Gesetzgebung und Verwaltung den Gipfel der Regierungskunst erblicken, nicht wünschcn, einmal den Unterschied in der Praxis zu erfahren. Ebenso wenig würde ich es für die Arbeiterbewegung selbst wünschen.
Trotz der großen Fortschritte, welche die Arbeiterklasse in intellektueller, politischer und gewerblicher Hinsicht seit den Tagen gemacht hat, wo Marx und Engels schrieben, halte ich sie doch selbst heute noch nicht für entwickelt genug, die politische Herrschaft zu übernehmen. Ich sehe mich um so mehr veranlaßt, dies offen auszusprechen, als gerade in dieser Hinsicht ein Cant sich in der sozialistischen Literatur einschleicht, der alles verständige Urtheil zu erdrücken droht, und ich weiß, daß ich nirgends so sicher bin, auf eine objektive Beurtheilung meiner Ausführungen zu stoßen, als bei den Arbeitern, welche die Vorhut im Befreiungskampfe ihrer Klasse bilden. Noch von keinem Arbeiter, mit dem ich über sozialistische Probleme gesprochen, habe ich in diesem Punkte wesentlich abweichende Ansichten gehört. Nur Literaten, die nie in intimer Beziehung zur wirklichen Arbeiterbewegung gestanden haben, können in dieser Hinsicht anders urtheilen. Daher die – um keinen schärferen Ausdr|ick zu gebrauchen – komische Wuth des Herrn Plechanow gegen alle Sozialisten, die nicht in die ganze Klasse des Proletariats das von vornherein hineinlegen, was zu werden ihr geschichtlicher Beruf ist, die noch Probleme sehen, wo er schon die Lösungen hat. Denn – das Proletariat bin Ich! Wer nicht so über die Bewegung denkt wie er, ist ein Gelehrter und ein Spießbürger. Es ist ein altes Lied, das aber durch sein Alter keineswegs an Reiz gewonnen hat.
Man hat den Utopismus noch nicht überwunden, wenn man das, was in der Zukunft werden soll, spekulativ in die Gegenwart verlegt, bezw. der Gegenwart andichtet. Wir haben die Arbeiter so zu nehmen wie sie sind. Und sie sind weder so allgemein verpaupert, wie es im Kommunistischen Manifest vorausgesehen ward, noch so frei von Vorurtheilen und Schwächen, wie es ihre Höflinge uns glauben machen wollen. Sie haben die Tugenden und die Laster der wirthschaftlichen und sozialen Bedingungen, unter denen sie leben. Und weder diese Bedingungen noch ihre Wirkungen lassen sich von einem Tage auf den anderen beseitigen.
Die gewaltigste Revolution kann das allgemeine Niveau der großen Mehrheit einer Nation nur sehr langsam ändern. Es ist ganz gut, Gegnern des Sozialismus auf die famosen Berechnungen, wie wenig eine gleichmäßige Vertheilung der Einkommen an dem Einkommen der großen Masse ändern würde, zu antworten, eine solche gleichmäßige Vertheilung bilde den kleinsten Theil dessen, was der Sozialismus zu verwirklichen suche. Aber man darf darüber nicht vergessen, daß das Andere, die Steigerung der Produktion, keine Sache ist, die sich so leicht improvisirt. „Erst auf einem gewissen, für unsere Zeitverhältnisse sogar sehr hohen Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Produktivkräfte wird es möglich, die Produktion so hoch zu steigern, daß die Abschaffung der Klassenunterschiede ein wirklicher Fortschritt, daß sie von Dauer sein kann, ohne eineu Stillstand oder gar Rückgang in der gesellschaftlichen Produktionsweise herbeizuführen.“ Welcher Spießbürger, welcher Gelehrte dies geschrieben hat, Herr Plechanow? Nun, kein anderer als Friedrich Engels. [7]
Haben wir die zur Abschaffung der Klassen erforderte Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte schon erreicht? Gegenüber den phantastischen Zahlen, die früher in dieser Hinsicht aufgestellt wurden und auf Verallgemeinerungen der Entwicklung besonders begünstigter Industrien beruhen, haben in der Neuzeit sozialistische Schriftsteller sich bemüht, auf Grund sorgfältiger, in die Details eindringender Berechnungen zu sachgemäßen Schätzungen der Produktionsmöglichkeiten einer sozialistischen Gesellschaft zu gelangen, und ihre Resultate lauten denn auch von jener Zahlen sehr verschieden. [8] Von einer allgemeinen Reduktion der Arbeitszeit auf fünf und vier oder gar drei und zwei Stunden täglich, wie ehedem augenommen wurde, kann in absehbarer Zeit gar keine Rede sein, wenn das allgemeine Lebensniveau nicht bedeutend ermäßigt werden soll. Selbst bei kollektivistischer Organisation der Arbeit würde sehr jung mit dem Arbeiten angefangen werden müssen Und erst in sehr vorgerücktem Alter aufgehört werden können, wenn bei gleicher Produkten- und Dienstmenge erheblich unter den Achtstundenarbeitstag soll herunter gegangen werden können.
Kurz, man kann nicht die ganze arbeitende Klasse im Laufe von ein paar Jahren in Verhältnisse bringen, die sich sehr wesentlich von denen unterscheiden, in denen sie heute lebt. Dies sollten eigentlich gerade diejenigen zuerst einsehen, die hinsichtlich des Zahlenverhältnisses der besitzlosen zu den besitzenden Klassen sich gern in den weitgehendsten Uebertreibungen ergehen. Aber wer in dem einen Punkte irrationell denkt, thut es eben gewöhnlich auch im anderen. Und darum wundert es mich auch gar nicht, wenn derselbe Plechanow, den es empört, die Lage der Arbeiter als nicht hoffnungslos dargestellt zu sehen, für meine Ausführungen über die Unmöglichkeit, in absehbarer Zeit das Prinzip der wirthschaftlichen Selbstverantwortlichkeit der Arbeitsfähigen preiszugeben, nur das vernichtende Urtheil „spießbürgerlich“ hat. Man ist nicht umsonst Philosoph der Unverantwortlichkeit.
Wer aber sich in der wirklichen Arbeiterbewegung umsieht, der wird auch finden, daß die Freiheit von denjenigen Eigenschaften, die dem aus der Bourgeoisie stammenden Affektationsproletarier als spießbürgerlich erscheinen, dort sehr gering eingeschätzt wird, daß man dort keineswegs das moralische Proletarierthum hätschelt, sondern ihn Gegentheil sehr darauf aus ist, aus dem Proletarier einen „Spießbürger“ zu machen. Mit dem unstäten, heimaths-, und familienlosen Proletarier wäre keine andauernde, solide Gewerkschaftsbewegung möglich; es ist kein Bourgeoisvorurtheil, sondern in Jahrzehnten der Organisationsarbeit gewonnene Ueberzeugung, die so viele der englischen Arbeiterführer – Sozialisten und Nichtsozialisten – zu eifrigen Anhängern der Mäßigkeitsbewegung gemacht hat. [9] Die Arbeitersozialisten kennen die Fehler ihrer Klasse, und weit entfernt, sie zu glorifiziren, suchen die gewissenhaften unter ihnen, sie mit allen Kräften zu bekämpfen.
Ich muß hier noch einmal auf Liebknechts Wort zurückkommen, daß ich mir habe durch das großartige Wachsthum der englischen Bourgeoisie imponiren lassen. Das ist nur insoweit richtig, als ich mich von der Unrichtigkeit der früher in unserer Literatur kursirenden, auf mangelhafter Statistik beruhenden Angaben über das Verschwinden der Mittelklassen überzeugt habe. Aber es allein hat nicht genügt, mich zur Revision meiner Anschauungen über die Schnelligkeit und die Natur der Entwicklung zum Sozialismus zu bewegen. Viel wichtiger war, was genauere Bekanntschaft mit der klassischen Arbeiterbewegung der Neuzeit mich gelehrt hat. Und ohne kritiklos zu verallgemeinern, habe ich mich überzeugt und es von vielen Seiten bestätigt erhalten, daß es auf dem Festland prinzipiell nicht anders ist wie in England. Es handelt sich nicht um nationale, sondern um soziale Erscheinungen.
Wir können nicht von einer Klasse, deren große Mehrheit eng behaust lebt, schlecht unterrichtet ist, unsicheren und ungenügenden Erwerb hat, jenen hohen intellektuellen und moralischen Stand verlangen, den die Einrichtung und der Bestand eines sozialistischen Gemeinwesens voraussetzen. Wir wollen sie ihr daher auch nicht andichten. Freuen wir uns des großen Fonds von Intelligenz, Entsagungsmuth und Thatkraft, den die moderne Arbeiterbewegung theils enthüllt und theils erzeugt hat, aber übertragen wir nicht, was von der Elite – sage, von Hunderttausenden – gilt, kritiklos auf die Massen, auf die Millionen. Ich will die Aeußerungen nicht wiedergeben, die mir von Arbeitern in Bezug auf diesen Punkt mündlich und schriftlich zu Theil geworden sind, ich brauche mich auch vor verständigen Leuten nicht gegen den Verdacht des Pharisäerthums und Schulmeisterdünkels zu vertheidigen. Aber ich gestehe gerne, daß ich hier etwas mit zweierlei Maß messe. Gerade weil ich von der Arbeiterklasse viel erwarte, beurtheile ich Alles, was auf Korruption ihres moralischen Urtheils abzielt, sehr viel strenger, als was in dieser Hinsicht in den oberen Klassen geschieht, und sehe ich mit den größten Bedauern, wie sich in der Arbeiterpresse hier und da ein Ton des literarischen Dekadententhums breit macht, der nur verwirrend und schließlich korrumpirem wirken kann. Eine aufstrebende Klasse braucht eine gesunde Moral und keine Verfallsblasirtheit. Ob sie sich ein ausgemaltes Endziel setzt, ist, sobald sie mit Energie ihre naheliegenden Ziele verfolgt, schließlich untergeordnet. Das Wichtige ist, daß ihre Ziele erfüllt sind von einen bestimmten Prinzip, daß eine höhere Stufe der Wirthschaft und des ganzen gesellschaftlichen Lebens ausdrückt, daß sie durchdrungen sind von einer sozialen Auffassung, die in der Entwicklung der Kultur einen Fortschritt, eine höhere Moral und Rechtsauffassung bezeichnet.
In dieser Auffassung kann ich den Satz: „die Arbeiterklasse hat keine Ideale zu verwirklichen“, nicht unterschreiben, erblicke ich in ihm vielmehr nur das Produkt einer Selbsttäuschung, wenn er nicht eine bloße Wortspielerei seines Verfassers ist. und im diesem Sinne habe ich seinerzeit gegen den Cant, der sich in die Arbeiterbewegung einzunisten sucht und dem die Hegelsche Dialektik bequeme Unterkunft bietet, den Geist des großen Königsberger Philosophen, des Kritikers der reinen Vernunft, angerufen. Die Wuthanfälle, in die ich damit Herrn Plechanow versetzt habe, haben mich nur in der Ueberzeugung bestärkt, daß der Sozialdemokratie ein Kaut noththut, der einmal mit der überkommenen Lehrmeinung mit voller Schärfe kritisch-sichtend ins Gericht geht, der aufzeigt, wo ihr scheinbaren Materialismus die höchste und darum am leichtesten irreführende Ideologie ist, daß die Verachtung des Ideals, die Erhebung der materiellen Faktoten zu den omnipotenten Mächten der Entwicklung Selbsttäuschung ist, die von denen, die sie verkünden, durch die That bei jeder Gelegenheit selbst als solche aufgedeckt ward und wird. Ein solcher Geist, der mit überzeugender Schärfe, bloslegte, was von dem Werke unserer großen Vorkämpfer werth und bestimmt ist fortzuleben, und was fallen muß und fallen kann, würde uns auch ein unbefangeneres Urtheil über diejenigen Arbeiten ermöglichen, die, obwohl nicht von den Ausgangspunkten ausgehend, die uns heute als maßgebend erscheinen, doch denselben Zwecken bestimmt sind, für welche die Sozialdemokratie kämpft. Das die sozialistische Kritik es hierin manchmal noch sehr fehlen läßt und alle Schattenseiten des Epigonenthums offenbar, wird kein unparteisch Denkender leugnen. Ich habe in dieser Richtung selbst mein Redliches geleistet und werfe daher auf Niemand einen Stein. Aber gerade weil ich von der Schule bin, glaube ich berechtigt zu sein, dem Bedürfniß nach Reform Ausdruck zu geben. Wenn ich nicht fürchten müßte, falsch verstanden zu werden (auf das falsch gedeutet werden, bin ich natürlich vorbereitet), würde ich das „zurück auf Kant“ in ein „zurück auf Lange“ übersetzen. Denn so wenig es sich für die Philosophen und Naturforscher, die zu jenem Motto stehen, um ein Zurückgehen bis auf den Buchstaben dessen handelt, was der Königsberger Philosoph geschrieben, sondern nur um das fundameutale Prinzip seiner Kritik, so könnte es sich auch für die Sozialdemokratie nicht um ein Zurückgehen auf alle sozialpolitischen Ansichten und Urtheile eines Friedrich Albert Lange handeln. Was ich im Auge habe, ist die Lange auszeichnende Verbindung von aufrichtiger und unerschrockener Parteinahme für die Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterklasse mit einer hohen wissenschaftlichen Vorurtheilslosigkeit, die stets bereit war, Irrthümer zu bekennen und neue Wahrheiten anzuerkennen. Vielleicht ist eine so große Weitherzigkeit, wie sie uns aus Langes Schriften entgegenleuchtet, nur bei Leuten zu finden, die jener durchdringenden Schärfe ermangeln, welche das Eigenthum bahnbrechender Geister wie Marx ist. Aber nicht jede Epoche bringt einen Marx hervor, und selbst für einen Mann von gleichem Genie wäre die heutige Arbeiterbewegung zu groß, um ihm jene Stelle einzuräumen, die Karl Marx in ihrer Geschichte einnimmt. Heute braucht sie, neben den streitbaren, die ordnenden und zusammenfassenden Geister, die hoch genug stehen, um die Spreu vom Weizen sondern zu können, und groß genug denken, auch das Pflänzchen anzuerkennen, das auf anderem Beete als dem eigenen gewachsen ist, die vielleicht nicht Könige, aber warmherzige Republikaner auf dem Gebiet des sozialistischen Gedankens sind.
1. In einer Reihe von Artikeln Wofür sollen wir ihm dankbar sein. Offener Brief an Karl Kautsky, veröffentlicht in Nr.253 bis 255 der Sächsischen Arbeiter-Zeitung von 1898. Kautsky hatte auf dem Stuttgarter Parteitag geäußert, daß wenn die Sozialdemokratie meinen Ansichten auch nicht folgen könne, sie doch mir für die Anregungen dankbar sein könne, die ich durch meine Aufsätze gegeben. Das war in den Augen des Herrn Plechanow eine viel zu milde Kritik. Es genügte ihm nicht, daß ich, wie er wähnte, in Stuttgart von der erdrückenden Mehrheit der Parteitagsdelegirten desavouirt worden war, ich mußte auch als Ignorant von „frappanter Gedankenarmuth“ und „kritikloser Nachtreter“ bürgerlicher Reformen, der „der sozialistischen Theorie Faustschläge ins Gesicht versetzt, und – bewußt oder unbewußt, was hier gleichgiltig ist – bestrebt ist, diese Theorie zum Gaudium der ‚vereinigten reaktionären Masse‘ zu begraben“, mit Schimpf und Schande aus der Gemeinschaft aller Gerechten ausgestoßen oder, wie es bei Herrn Plechanow heißt, „von der Sozialdemokratie begraben werden“.
Ich versage es mir, hier den Ausdruck zu gebrauchen, den das Sprichwort für solche Art Nachrichterthum hat. Jeder folgt seiner Natur, und vom Pfau erwartet Niemand melodische Töne. Aber die Phrase, daß ich zum „Gaudium“ der „vereinigten reaktionären Masse“ mein mörderisches Handwerk treibe, nöthigt mich zu einer kurzen Bemerkung.
Ich habe an anderer Stelle dieser Schrift einige sozialistische Blätter zitirt, die meine Schlußfolgerungen acceptirt oder sich selbst ähnlich wie ich geäußert haben. Die Liste ließe sich sehr verlängern, indeß kommt es mir nicht darauf an, meine Argumente durch das Gewicht der Zahl und des Ansehens der Gleichgesinnten zu bekräftigen. Um jedoch die Kampfesweise des Herrn Plechanow in ihr rechtes Licht zu stellen, muß ich doch noch erwähnen, daß auch ein großer, wenn nicht der größte Theil der in Rußland wirkenden russischen Sozialdemokraten, darunter die Redaktion der russischen Arbeiterzeitung, sich entschieden für einen, dem meinen sehr verwandten Standpunkt erklärt haben, und daß von dieser Seite verschiedene meiner „inhaltsleeren“ Artikel ins Russische übersetzt und in Sonderabzügen verbreitet wurden. Nicht zum „Gaudinm“ Plechanows, das mag sein. Aber welche geschmackvolle Manier, unter diesen, ihm sehr wohl bekannten Umständen von „vereinigter“ reaktionärer Masse zu reden – beiläufig ein Ausdruck, der die von Marx nnd Engels stets zurrckgewiesene Phrase von der einen reaktionären Masse zehnfach an Widersinn überbietet.
2. Ein meinen Ansichten sehr nahestehender russischer Sozialist, S. Prokopowitsch, macht mir in der Revue der belgischen Sozialdemokratie in einem sehr scharfsinnigen Artikel über den Stuttgarter Parteitag den Vorwurf, daß ich in meinem Kampfe gegen den Unfug, die Wissenschaft zur Parteisache machen zu wollen, nicht konsequent sei. Dadurch daß ich der Theorie einen Einfluß auf die Taktik der Partei einräumte, trage ich selbst zur Konfusion bei, die in dieser Beziehung in der Sozialdemokratie herrsche. „Die Taktik der Partei, schreibt er, wird weit mehr als das theoretische Wissen von den thatsächlichen sozialen Verhältnissen bestimmt. Es ist nicht das theoretische Wissen, was den Einfluß auf die Taktik der Partei ausübt, sondern im Gegentheil, die Taktik der Partei ist es, die unbestreitbar die Doktrinen beeinflußt, die in der Partei Kurs haben. Für die modernen Bewegungen der Massen sind es immer die Vollmars, die den Bernsteins vorangehen ... die Wissenschaft wird stets ‚Parteisache‘ sein, wenn die Männer der Aktion an der Idee festhalten, daß irgendwelche Auffassung von der ökonomischen Entwicklung die Taktik der Partei beeinflussen könne. Die Wissenschaft wird erst von dem Moment an frei sein, wo man erkannt haben wird, daß sie den Zielen der Partei zu dienen, nicht aber sie zu bestimmen hat.“ Statt mich dagegen zu wenden, daß man die Taktik der Partei von einer, von mir für falsch betrachteten Doktrin abhängig mache, hätte ich mich dagegen wenden müssen, daß man sie überhaupt von irgend einer Theorie der sozialen Entwicklung abhängig mache. (Avenir Sociale, 1899, I, S. 15/16.)
Ich kann einem großen Theile des hier Gesagten rückhaltlos zustimmen, wie ich dies ja auch im ersten Kapitel bei Erörterung der Rolle der Eklektik angedeutet habe, das schon gedruckt war, als ich den Artikel Prokopowitschs erhielt. Wo die Doktrin sich zur Herrscherin aufwirft, ist es die Eklektik, die als Rebellin für die freie Wissenschaft Bresche legt. Aber ich kann mir kein dauerndes kollektives Wollen ohne einen kollektiven Glauben denken, der, wie viel immer das Interesse zu seiner Ausbildung beitragen mag, doch zugleich von irgend welcher verbreiteten Ansicht oder Erkenntniß dessen abhängig ist, was allgemein wünschbar und durchführbar ist. Ohne solche kollektive Ueberzeugung daher auch kein beharrliches kollektives Handeln. Diese Thatsache ist es, die mein von Prokopowitfch angefochtener Satz feststellt. „Das zweite Moment (bei der Bestimmung taktischer Fragen) ist intellektueller Natur: der Höhegrad der Erkenntniß des Gesellschaftszustandes, die erlangte Einsicht in die Natur und die Entwicklungsgesetze des Gesellschaftskörpers und seiner Elemente.“ (Neue Zeit, XVI, I, S. 485.) Von der Ansicht ausgehend, daß dies der Fall, kann ich die Heranziehung der theoretischen Erkenntniß bei der Erörterung taktischer Fragen nicht verfehmen, sondern nur mich dagegen wenden, daß man die Wissenschaft als solche anders denn als außerhalb der Partei stehende Sache behandle. Uebrigens heißt einer Sache dienen ebenfalls sie beeinflussen. „Am Ende hängen wir doch ab von Kreaturen, die wir machten“, sagt schon Mephistopheles.
3. Ich sehe hier allerdings von jener Tendenz ab, wie sie in der Behandlung von Personen und der Darstellung von Vorgängen zum Ausdruck kommt, und die mit der ökonomischen Entwicklung keinen nothwendigen Zusammenhang hat.
4. Ich möchte in dieser Verbindung auf den sehr bemerkenswerthen, „Lxbg.“ gezeichneten Artikel über die Stiebelingsche Arbeit im Jahrgang 1887 der Neuen Zeit aufmerksam machen, wo unter Anderem die Lösung des Problems der Profitrate vorweg genommen wurde. Der mir unbekannte Verfasser sagt hinsichtlich des Mehrwerths sachlich genau dasselbe, was ich im Abschnitt über die Werththeorie ausgeführt habe, wenn er schreibt: „Die Mehrwerthsrate, das Verhältniß des Totalprofits zum Totalarbeitslohn, ist ein Begriff, der .auf die einzelnen Produktionszweige nicht angewendet werden kann.“ (S. 129) Was Kautsty dem damals entgegenhielt, war sicher das Beste, was auf Grund der vorliegenden Bände Kapital überhaupt gesagt werden konnte, und traf auch die Form, in die Lxbg. seine Gedanken kleidete. Denn der Begriff der Mehrwerthsrate läßt sich zweifelsohne auf die einzelnen Produktionszweige anwenden. Aber was Lxbg. wirtlich meinte, war doch richtig. Die Mehrwerthsrate ist eine meßbare Größe nur für die als Einheit genommene Gesammtwirthschaft und kann daher, solange diese nicht realisirt ist, für die einzelnen Produktionszweige nicht fest gestellt werden – wenigstens so lange nicht, als man den Arbeitswerth nicht in direkte Beziehung zum Arbeitslohn setzt. Mit anderen Worten, es giebt kein wirkliches Maß für die Mehrwerthsrate der einzelnen Produktionszweige.
5. In diesem Sinne spricht Marx im Kapitel über den Arbeitstag von den „eigenthümlichen Vorzügen der französischen revolutionären Methode“, die sich in den französischen Zwölfstundengesetz von 1848 gezeigt hätten. Es diktire für alle Arbeiter und alle Fabriken ohne Unterschied denselben Arbeitstag. Das ist richtig. Es ist aber festgestellt worden, daß dies radikale Gesetz über ein Menschenalter todte Buchstabe blieb.
6. „Zum Glück hat der Revolutionarismus in diesem Lande aufgehört, mehr als eine affektirte Phrase zu sein.“ Monatsbericht der Unabhängigen Arbeiterpartei Englands, Januar 1899.
7. Vergl. Soziales aus Rußland, Vorwärts-Ausgabe, S. 50.
8. Vergl. Atlanticus, Ein Blick in den Zukunftsstaat, Produktion und Konsum im Sozialstaat (Stuttgart, Dietz), sowie die Aufsätze Etwas über Kollektivismus von Dr. Josef Ritter von Neupauer in Pernerstorfers Deutsche Worte, Jahrgang 1897/98. Beide Arbeiten sind nicht einwandfrei, aber sind denjenigen, die sich über die einschlägigen Fragen zu unterrichten wünschen, sehr warm zu empfehlen. Neupauer meint, daß wenn man die Leistung aller Maschinen im Durchschnitt berechnete, es sich zeigen würde, daß sie schwerlich ein Drittel der menschlichen Arbeitskraft ersparen.
9. Auch der Vorstand der unabhängigen sozialistischen Arbeiterpartei hat neulich in einem Rundschreiben seinen Sektionen warm ans Herz gelegt, in ihren Klublokalen keine spirituösen Getränke zu führen.
Zuletzt aktualisiert am 10 February 2010