MIA > Deutsch > Marxisten > Zetkin
Quelle: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Gotha vom 11. bis 16. Oktober 1896, Berlin 1896, S. 60–168.
Gekürzt in: Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, Berlin 1957, S. 95–112.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Durch die Forschungen von Bachofen, Morgan und anderen scheint es erwiesen, dass die soziale Unterdrückung der Frau mit der Entstehung des Privateigentums zusammenfällt. Der Gegensatz innerhalb der Familie zwischen dem Mann als Besitzer und der Frau als Nichtbesitzerin wurde die Grundlage für die wirtschaftliche Abhängigkeit und die soziale Rechtlosigkeit des weiblichen Geschlechts. In dieser sozialen Rechtlosigkeit liegt nach Engels eine der ersten und ältesten Formen der Klassenherrschaft, er sagt:
„Er ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat.“ [1]
Trotzdem konnte von einer Frauenfrage im modernen Sinn des Wortes nicht die Rede sein. Erst die kapitalistische Produktionsweise hat gesellschaftliche Umwälzungen gezeitigt, welche die moderne Frauenfrage entstehen ließen; sie schlugen die alte Familienwirtschaft in Trümmer, die in der vorkapitalistischen Zeit der großen Masse der Frauenwelt Lebensunterhalt und Lebensinhalt gewährt hatte. Wir dürfen freilich auf die alte hauswirtschaftliche Tätigkeit der Frauen nicht jene Begriffe übertragen, die wir mit der Tätigkeit der Frau in unserer Zeit verbinden, den Begriff des Nichtigen und Kleinlichen. Solange die alte Familie noch bestand, fand die Frau in derselben einen Lebensinhalt durch produktive Tätigkeit, und daher kam ihre soziale Rechtlosigkeit ihr nicht zum Bewusstsein, wenn auch der Entwicklung ihrer Individualität enge Schranken gezogen waren.
Die Zeit der Renaissance ist die Sturm- und Drangperiode des Erwachens der modernen Individualität, die sich nach den verschiedensten Richtungen voll und ganz ausleben kann. Da treten uns Individualitäten entgegen, riesengroß im Guten und Bösen, die die Satzungen von Religion und Moral mit Füßen traten und Himmel und Hölle in gleicher Weise verachteten; wir finden Frauen als Mittelpunkt des gesellschaftlichen, des künstlerischen, des politischen Lebens. Und trotzdem nicht die Spur einer Frauenbewegung. Das ist umso charakteristischer, als zu jener Zeit die alte Familienwirtschaft zu zerbröckeln anfing unter dem Einfluss der Arbeitsteilung. Tausende und Tausende von Frauen fanden ihren Lebensunterhalt und -inhalt nicht mehr in der Familie. Aber diese Frauenfrage, soweit davon die Rede sein konnte, wurde damals soviel wie möglich gelöst durch Klöster, Stifte, Ordensgesellschaften.
Die Maschinen, die moderne Produktionsweise grub dann aber nach und nach der eigenen Produktion im Haushalt den Boden ab, und nicht für Tausende, sondern für Millionen von Frauen entstand nun die Frage: Wo nehmen wir den Lebensunterhalt her, wo finden wir einen ernsten Lebensinhalt, eine Betätigung auch nach der Gemütsseite? Millionen wurden jetzt darauf verwiesen, Lebensunterhalt und Lebensinhalt draußen in der Gesellschaft zu finden. Da wurde ihnen bewusst, dass die soziale Rechtlosigkeit sich der Wahrung ihrer Interessen entgegenstellt, und von dem Augenblicke an war die moderne Frauenfrage da. Wie die moderne Produktionsweise arbeitet, die Frauenfrage weiter zu verschärfen, dafür einige Zahlen. 1882 zählte man in Deutschland auf 23 Millionen Frauen und Mädchen 5½ Millionen Erwerbstätige, das heißt, fast ein Viertel der weiblichen Bevölkerung konnte seinen Lebensunterhalt nicht mehr in der Familie finden. Nach der Volkszählung von 1895 hat in der Landwirtschaft im weitesten Sinne die Zahl der erwerbstätigen Frauen seit 1882 um mehr als 8 Prozent zugenommen, in der Landwirtschaft im engeren Sinne um 6 Prozent, während gleichzeitig die Zahl der erwerbstätigen Männer um 3 beziehungsweise 11 Prozent abgenommen hat. Auf dem Gebiete der Industrie und des Bergbaus haben die erwerbstätigen Frauen um 35 Prozent zugenommen, die Männer nur um 28 Prozent; im Handel die Zahl der Frauen sogar um mehr als 94 Prozent, die der Männer nur um 38 Prozent. Diese trockenen Zahlen sprechen weit beredter von der Dringlichkeit der Lösung der Frauenfrage, als es überschwängliche Deklamationen könnten.
Aber die Frauenfrage ist nur innerhalb jener Klassen der Gesellschaft vorhanden, welche selbst Produkte der kapitalistischen Produktionsweise sind. Wir finden deshalb keine Frauenfrage in den Kreisen der Bauernschaft mit ihrer, wenn auch stark eingeschränkten und durchlöcherten Naturalwirtschaft. Wohl aber finden wir eine Frauenfrage innerhalb derjenigen Klassen der Gesellschaft, die die eigensten Kinder der modernen Produktionsweise sind. Es gibt eine Frauenfrage für die Frauen des Proletariats, des Mittelbürgertums und der Intelligenz und der oberen Zehntausend; je nach der Klassenlage dieser Schichten nimmt sie eine andere Gestalt an.
Wie ist die Frauenfrage bei den Frauen der oberen Zehntausend gestaltet? Die Frau der oberen Zehntausend kann vermöge ihres Besitzes ihre Individualität frei entfalten, sie kann leben, wie es ihren Neigungen entspricht. Als Ehefrau aber ist sie noch immer vom Manne abhängig. Die Geschlechtsvormundschaft früherer Zeiten hat sich als Überbleibsel hinübergerettet ins Familienrecht, wo noch immer der Satz gilt: Und er soll dein Herr sein. Und wie ist die Familie der oberen Zehntausend beschaffen, in der die Frau dem Manne rechtlich unterworfen ist? Schon bei ihrer Gründung entbehrt eine solche Familie der sittlichen Voraussetzung. Nicht die Individualität, sondern das Geld entscheidet über ihre Schließung. Da heißt es: Was das Kapital zusammenfügt, das soll eine sentimentale Moral nicht scheiden. (Bravo) So gelten in der Heiratsmoral zwei Prostitutionen für eine Tugend. Dem entspricht auch die Art und Weise des Familienlebens. Wo die Frau nicht mehr zur Pflichtleistung gezwungen ist, wälzt sie ihre Pflichten als Gattin, Mutter und Hausfrau auf bezahltes Mietpersonal ab. Wenn die Frauen jener Kreise den Wunsch hegen, ihrem Leben einen ernsten Inhalt zu geben, so müssen sie zunächst die Forderung der selbständigen, freien Verfügung über ihr Eigentum erheben. Diese Forderung steht deshalb im Mittelpunkt der Forderungen, welche die Frauenbewegung der oberen Zehntausend erhebt. Diese Frauen kämpfen für die Verwirklichung dieser Forderung gegen die Männerwelt ihrer Klasse genau den nämlichen Kampf, den die Bourgeoisie gegen alle bevorrechtigten Stände gekämpft hat, einen Kampf um die Beseitigung aller sozialen Unterschiede, welche auf dem Vermögensbesitz begründet sind. Dass es sich bei der Verwirklichung dieser Forderung nicht um die Rechte der Person handelt, beweist das Eintreten des Herrn von Stumm im Reichstage für dieselbe. Wann wäre Herr von Stumm je eingetreten für die Rechte einer Person? Dieser Mann bedeutet in Deutschland mehr als eine Persönlichkeit, er ist das Fleisch und Blut gewordene Kapital (Sehr richtig!), und wenn er im billigen Mummenschanz eines Freundes der Frauenrechte aufgetreten ist, so geschah es, weil er gezwungen war, vor der Bundeslade des Kapitals zu tanzen. Derselbe Herr von Stumm ist ja jederzeit bereit, seinen Arbeitern den Brotkorb höher zu hängen, sobald sie nicht nach seiner Pfeife tanzen, und er würde es mit wohlgefälligem Schmunzeln begrüßen, wenn der Staat als Arbeitgeber den Professoren und Doktoren, die es wagen, in Sozialpolitik zu machen, den Brotkorb etwas höher hängte. Herr von Stumm erstrebt nichts anderes als eine Art Fideikommiss für das bewegliche Vermögen und mit weiblicher Erbfolge, denn es gibt auch Väter, die Vermögen erworben haben, aber in der Wahl ihrer Kinder nicht vorsichtig gewesen sind und nur Töchter als Erben haben. Das Kapital heiligt auch die niedere Weiblichkeit und befähigt sie, über ihr Vermögen verfügen zu können. Es ist das die letzte Stufe der Emanzipation des Privateigentums.
Wie zeigt sich nun die Frauenfrage in den klein- und mittelbürgerlichen Kreisen und innerhalb der bürgerlichen Intelligenz? Hier ist es nicht der Besitz, welcher die Familie auflöst, hier sind es wesentlich die Begleiterscheinungen der kapitalistischen Produktion. In dem Maße, wie diese ihren Triumphmarsch vollzieht, wird das mittlere und das kleine Bürgertum mehr und mehr zugrunde gerichtet. Innerhalb der bürgerlichen Intelligenz führt wieder ein anderer Umstand zur Verschlechterung der Lebensbedingungen: Das Kapital bedarf der intelligenten und wissenschaftlich geschulten Arbeitskräfte, es hat deshalb eine Überproduktion an Proletariern der Kopfarbeit begünstigt und dazu beigetragen, dass die frühere angesehene und einträgliche gesellschaftliche Stellung der Angehörigen liberaler Berufe mehr und mehr schwindet. In demselben Maße nimmt aber die Zahl der Eheschließungen immer mehr ab, denn während auf der einen Seite die materiellen Grundlagen verschlechtert sind, steigen auf der anderen Seite die Ansprüche des einzelnen an das Leben, und da überlegt es sich der Mann jener Kreise selbstverständlich zweimal und dreimal, ehe er sich zur Ehe entschließt. Die Altersgrenze für die Gründung einer eigenen Familie wird immer höher hinaufgeschraubt, und der Mann wird umso weniger zur Eheschließung gedrängt, als in unserer Zeit genug gesellschaftliche Einrichtungen dem Hagestolz ein behagliches Leben, auch ohne legitime Frau, ermöglichen. Die kapitalistische Ausbeutung der proletarischen Arbeitskraft sorgt schon durch Hungerlöhne dafür, dass ein großes Angebot von Lustdirnen der Nachfrage nach denselben seitens der Männerwelt entspricht. So nimmt die Zahl der unverheirateten Frauen in mittelbürgerlichen Kreisen immer mehr zu. Die Frauen und Töchter jener Kreise werden in die Gesellschaft hinaus gestoßen, um sich eine Existenz zu gründen, die ihnen nicht nur Brot verschafft, sondern auch ihren Geist zu befriedigen vermag. In diesen Kreisen ist die Frau dem Manne nicht gleichberechtigt als Besitzerin von Privatvermögen wie in den höheren Kreisen; sie ist auch nicht gleichberechtigt als Proletarierin, wie in den Proletarierkreisen; die Frau jener Kreise muss vielmehr ihre wirtschaftliche Gleichstellung mit dem Mann erst erkämpfen, und sie kann das nur durch zwei Forderungen, durch die Forderung auf gleiche Berufsbildung und durch die Forderung auf gleiche Berufstätigkeit für beide Geschlechter. Dies bedeutet wirtschaftlich nichts anderes als die Verwirklichung der Gewerbefreiheit und die freie Konkurrenz zwischen Mann und Frau. Die Verwirklichung dieser Forderung entfesselt einen Interessengegensatz zwischen den Frauen und Männern des Mittelbürgertums und der Intelligenz. Die Konkurrenz der Frauen in den liberalen Berufen ist die treibende Kraft für den Widerstand der Männer gegen die Forderungen der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen. Es ist die reine Konkurrenzfurcht; alle sonstigen Gründe, die gegen die geistige Frauenarbeit geltend gemacht werden, das kleinere Gehirn der Frau, ihr angeblich natürlicher Beruf als Mutter, sind nur Vorwände. Dieser Konkurrenzkampf drängt die Frau dieser Schichten dazu, politische Rechte zu verlangen, damit sie im politischen Kampfe alle Schranken niederreißen kann, die ihrer wirtschaftlichen Betätigung noch entgegenstehen.
Ich habe hiermit nur das ursprüngliche, rein wirtschaftliche Moment gezeichnet. Wir würden der bürgerlichen Frauenbewegung Unrecht tun, wenn wir sie nur auf rein wirtschaftliche Motive zurückführen wollten. Nein, sie hat auch eine tiefernste geistige und sittliche Seite. Die bürgerliche Frau verlangt nicht nur ihr eigenes Brot, sondern sie will sich auch geistig ausleben und ihre Individualität entfalten. Gerade in diesen Schichten finden wir jene tragischen, psychologisch interessanten Noragestalten, wo die Frau es müde ist, als Puppe im Puppenheim zu leben, wo sie teilnehmen will an der Weiterentwicklung der modernen Kultur; und sowohl nach der wirtschaftlichen als nach der geistig-sittlichen Seite hin sind die Bestrebungen der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen vollständig berechtigt.
Für die proletarische Frau ist es das Ausbeutungsbedürfnis des Kapitals, unaufhörlich Rundschau zu halten nach den billigsten Arbeitskräften, das die Frauenfrage geschaffen hat ... Dadurch ist auch die Frau des Proletariats einbezogen in den Mechanismus des wirtschaftlichen Lebens unserer Zeit, ist sie in die Werkstatt, an die Maschine getrieben worden. Sie ist hinausgegangen in das wirtschaftliche Leben, um dem Manne einige Hilfe im Erwerb zu bringen, und die kapitalistische Produktionsweise verwandelte sie in eine Schmutzkonkurrentin; sie wollte Wohlstand in die Familie bringen, und als Folge zog eine größere Not in die proletarische Familie ein; die Proletarierfrau wurde selbsttätig erwerbend, weil sie ihren Kindern das Leben sonniger und freundlicher gestalten wollte, und sie wurde ihren Kindern zum großen Teil entrissen. Sie wurde dem Mann als Arbeitskraft vollständig gleich: Die Maschine machte die Muskelkraft überflüssig, und überall konnte die Frauenarbeit sich mit den gleichen Ergebnissen für die Produktion betätigen wie die Männerarbeit. Und da sie eine billige Arbeitskraft war und vor allen Dingen eine willige Arbeitskraft, die nur in den seltensten Fällen wagte zu löcken wider den Stachel der kapitalistischen Ausbeutung, so haben die Kapitalisten die Möglichkeit vervielfältigt, um die industrielle Frauenarbeit in der höchsten Stufe anwenden zu können. Die Frau des Proletariers hat infolgedessen ihre wirtschaftliche Selbständigkeit errungen. Aber wahrhaftig! sie hat sie teuer erkauft und hat praktisch für den Augenblick nichts dabei gewonnen. Wenn im Zeitalter der Familie der Mann das Recht hatte – denken Sie an das kurbayrische Recht –‚ gelegentlich mäßig die Frau mit der Peitsche zu züchtigen, so züchtigt sie der Kapitalismus jetzt mit Skorpionen. Damals wurde die Herrschaft des Mannes über die Frau gemildert durch die persönlichen Beziehungen, zwischen Arbeiter und Unternehmer aber gibt es nur ein Warenverhältnis. Die Frau des Proletariats hat ihre wirtschaftliche Selbständigkeit erlangt, aber weder als Mensch noch als Frau, noch als Gattin hat sie die Möglichkeit, ihre Individualität voll ausleben zu können. Für ihre Aufgabe als Gattin, als Mutter bleiben ihr nur die Brosamen, die die kapitalistische Produktion ihr vom Tische fallen lässt.
Deshalb kann der Befreiungskampf der proletarischen Frau nicht ein Kampf sein wie der der bürgerlichen Frau gegen den Mann ihrer Klasse; umgekehrt, es ist der Kampf mit dem Mann ihrer Klasse gegen die Kapitalistenklasse. Sie braucht nicht darum zu kämpfen, gegen die Männer ihrer Klasse die Schranken niederzureißen, die ihr bezüglich der freien Konkurrenz gezogen sind. Das Ausbeutungsbedürfnis des Kapitals und die Entwicklung der modernen Produktionsweise nahmen ihr diesen Kampf vollkommen ab. Umgekehrt – es gilt, neue Schranken zu errichten gegen die Ausbeutung der proletarischen Frau; es gilt, ihr ihre Rechte als Gattin, als Mutter wiederzugeben und zu sichern. Das Endziel ihres Kampfes ist nicht die freie Konkurrenz mit dem Manne, sondern die Herbeiführung der politischen Herrschaft des Proletariats. Hand in Hand mit dem Manne ihrer Klasse kämpft die proletarische Frau gegen die kapitalistische Gesellschaft. Allerdings stimmt sie auch den Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung zu. Aber sie betrachtet die Erfüllung dieser Forderungen nur als Mittel zum Zweck, damit sie gleich ausgestattet an Waffen mit dem Proletarier in den Kampf ziehen kann.
Die bürgerliche Gesellschaft steht den Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, das beweisen die Reformen, die auf dem Gebiet des Privat- wie des öffentlichen Rechtes in verschiedenen Staaten schon zugunsten der Frau eingeführt sind. Wenn es in Deutschland so besonders langsam mit diesen Reformen geht, so liegt die Ursache einmal in dem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf in den liberalen Berufen, den die Männer fürchten, und zweitens in der sehr langsamen und schwächlichen Entwicklung der bürgerlichen Demokratie in Deutschland, die unter dem Banne der Klassenfurcht vor dem Proletariat ihrer historischen Aufgabe nicht gerecht wird. Sie fürchtet, dass die Durchführung solcher Reformen nur der Sozialdemokratie Vorteil bringt. Je weniger eine bürgerliche Demokratie sich hypnotisieren lässt von dieser Furcht, desto bereiter ist sie zu Reformen. Das sehen wir an England. England ist das einzige Land, das noch eine wirklich kraftvolle Bourgeoisie besitzt, während die deutsche Bourgeoisie in schlotternder Furcht vor dem Proletariat darauf verzichtet, auf politischem und sozialem Gebiete zu reformieren. Dazu tritt für Deutschland noch die weit verbreitete spießbürgerliche Auffassung; der Philisterzopf des Vorurteils hängt dem deutschen Bürgertum schwer im Nacken. Gewiss ist die Furcht der bürgerlichen Demokratie sehr kurzsichtig. Wird den Frauen die politische Gleichberechtigung gewährt, so wird an den tatsächlichen Machtverhältnissen nichts geändert. Die proletarische Frau geht ins Lager des Proletariats, die bürgerliche ins Lager des Bürgertums. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen durch sozialistische Anläufe in der bürgerlichen Frauenbewegung, die nur so lange auftreten, wie sich die bürgerlichen Frauen als Unterdrückte fühlen.
Je weniger nun die bürgerliche Demokratie ihre Aufgabe begreift, desto mehr ist es Sache der Sozialdemokratie, für die politische Gleichberechtigung der Frau einzutreten. Wir wollen uns nicht besser machen, als wir sind. Nicht um der schönen Augen eines Prinzips stellen wir diese Forderung auf, sondern im Klasseninteresse des Proletariats. Je mehr die Frauenarbeit ihren verhängnisvollen Einfluss auf die Lebenshaltung der Männer ausübt, desto brennender wird die Notwendigkeit, sie in den wirtschaftlichen Kampf einzubeziehen. Je mehr der politische Kampf eingreift in die Existenz jedes einzelnen, desto dringender wird die Notwendigkeit, dass auch die Frau teilnimmt am politischen Kampfe. Das Sozialistengesetz hat Tausenden von Frauen erst klargemacht, was die Worte Klassenrecht, Klassenstaat und Klassenherrschaft bedeuten, hat Tausende von Frauen erst das Bedürfnis gelehrt, sich über die Macht aufzuklären, die so brutal in das Familienleben eingriff. Das Sozialistengesetz hat eine Arbeit geleistet, die Hunderte von Agitatorinnen nicht zu leisten imstande gewesen wären, und wir sind dem Vater des Sozialistengesetzes sowie allen Staatsorganen, die an seiner Durchführung beteiligt waren, vom Minister bis zum Schutzmann hinab, aufrichtig dankbar für ihre unfreiwillige agitatorische Tätigkeit. Und da wirft man uns Sozialdemokraten Undankbarkeit vor! (Heiterkeit)
Noch ein anderes Ereignis ist in Betracht zu ziehen. Ich meine das Erscheinen von August Bebels Buch Die Frau und der Sozialismus. Es darf nicht nach seinen Vorzügen oder Mängeln bewertet werden, es muss beurteilt werden nach der Zeit, in der es erschien. Und da war es mehr als ein Buch, es war ein Ereignis, eine Tat. (Sehr richtig!) Zum ersten Male wurde darin den Genossen klargelegt, in welchem Zusammenhange die Frauenfrage mit der geschichtlichen Entwicklung steht, zum ersten Male ertönte aus diesem Buche der Ruf: Wir können die Zukunft nur erobern, wenn wir die Frauen als Mitkämpferinnen gewinnen. Wenn ich das anerkenne, so spreche ich nicht als Frau, sondern als Parteigenossin.
Welch praktische Schlussfolgerungen haben wir nun für unsere Agitation unter den Frauen zu ziehen? Es kann nicht die Aufgabe des Parteitages sein, ins einzelne gehende praktische Vorschläge zu machen, sondern nur die allgemeine Richtungslinie für die proletarische Frauenbewegung zu ziehen.
Und da muss der leitende Gedanke sein: Wir haben nicht spezielle Frauenagitation, sondern sozialistische Agitation unter den Frauen zu treiben. Nicht die kleinlichen Augenblicksinteressen der Frauenwelt dürfen wir in den Vordergrund stellen, unsere Aufgabe muss sein, die moderne Proletarierin in den Klassenkampf einzureihen. (Sehr wahr!) Wir haben für die Agitation unter den Frauen keine Sonderaufgaben. Soweit für die Frauen innerhalb der heutigen Gesellschaft Reformen durchzusetzen sind, werden sie in dem Minimumprogramm unserer Partei bereits gefordert.
Die Frauenagitation muss anknüpfen an alle jene Fragen, die von dringender Wichtigkeit für die allgemeine Bewegung des Proletariats sind. Ist es doch die Hauptaufgabe, in der Frau das Klassenbewusstsein wachzurütteln und sie in den Klassenkampf einzubeziehen. Die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiterinnen ist äußerst erschwert. In den Jahren 1892 bis 1895 wuchs die Zahl der in Zentralverbänden organisierten Arbeiterinnen auf rund 7000. Rechnen wir noch die in Lokalvereinen organisierten Arbeiterinnen hinzu, und vergleichen wir dann hiermit die Tatsache, dass allein in der Großindustrie 700.000 Arbeiterinnen tätig sind, so gewinnen wir ein Bild von der großen Arbeit, die wir noch zu leisten haben. Erschwert wird uns diese Arbeit dadurch, dass viele Frauen in der Hausindustrie tätig und deshalb schwer heranzuziehen sind. Dann haben wir auch noch mit der weit verbreiteten Anschauung der jungen Mädchen zu kämpfen, dass die industrielle Tätigkeit für sie vorübergehend ist und mit der Ehe aufhört. Vielen Frauen erwächst die doppelte Pflicht, sie müssen in der Fabrik und in der Familie tätig sein. Umso notwendiger ist für die Arbeiterinnen die Festsetzung eines gesetzlichen Arbeitstages. Während in England alle darin übereinstimmen, dass die Beseitigung der Hausindustrie, die Festsetzung eines gesetzlichen Arbeitstages und die Herbeiführung höherer Löhne von der größten Bedeutung sind, um die Arbeiterin gewerkschaftlich zu organisieren, kommt in Deutschland zu den geschilderten Hindernissen noch die Handhabung unserer Vereins- und Versammlungsgesetze dazu. Die volle Koalitionsfreiheit, die von rechts her die Reichsgesetzgebung den Arbeiterinnen gewährleistet, wird von links her durch landesgesetzliche Bestimmungen einzelner Bundesstaaten illusorisch gemacht. Darauf, wie in Sachsen das Vereinsrecht, soweit man dort überhaupt von einem Recht sprechen kann, gehandhabt wird, will ich nicht hinweisen, aber in den zwei größten Bundesstaaten, in Bayern und Preußen, werden die Vereinsgesetze so gehandhabt, dass den Frauen die Teilnahme an gewerkschaftlichen Organisationen mehr und mehr zur Unmöglichkeit wird. In Preußen hat in neuester Zeit besonders der Regierungsbezirk des „liberalen“ ewigen Ministerkandidaten Herrn von Bennigsen in der Auslegung des Vereins- und Versammlungsrechts das Menschenmögliche geleistet. In Bayern sind die Frauen von allen öffentlichen Versammlungen ausgeschlossen. Erklärte doch Herr von Feilitzsch in der Kammer ganz offen, dass bei der Handhabung des Vereinsgesetzes nicht nur der Wortlaut in Betracht kommt, sondern auch die Absicht des Gesetzgebers, und Herr von Feilitzsch befindet sich in der glücklichen Lage, genau zu wissen, welche Absicht die Gesetzgeber gehabt haben, die lange gestorben sind, ehe sich Bayern das Glück träumen ließ, eines Tages Herrn von Feilitzsch seinen Polizeiminister nennen zu dürfen. Das wundert mich nicht, denn wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand, und in unserem Zeitalter des Spiritismus hat eben Herr von Feilitzsch seinen Amtsverstand erhalten und auf dem Wege der vierten Dimension die Absicht der längst verstorbenen Gesetzgeber erkannt. (Heiterkeit)
Dieser Stand der Dinge aber macht es den proletarischen Frauen nicht möglich, sich zusammen mit den Männern zu organisieren. Bis jetzt hatten sie einen Kampf gegen Polizeimacht und gegen Juristenweisheit zu führen, und formell haben sie in diesem Kampf den kürzeren gezogen. Aber in Wirklichkeit sind sie Sieger geblieben; denn alle jene Maßregeln, die angewendet sind, um die Organisation der proletarischen Frau zu zertrümmern haben nur darauf hingewirkt, ihr Klassenbewusstsein immer mehr zu erwecken. Wenn wir danach streben, eine kräftige Frauenorganisation auf wirtschaftlichem und politischem Gebiete zu bekommen, dann müssen wir zuerst für die Möglichkeit der Bewegungsfreiheit sorgen, indem wir gegen die Hausindustrie ankämpfen, für kürzere Arbeitszeit eintreten und vor allen Dingen uns gegen das wenden, was die herrschenden Klassen das Vereinsrecht zu nennen belieben.
In welchen Formen die Frauenagitation sich zu bewegen hat, können wir auf diesem Parteitag nicht festlegen; wir haben erst zu lernen, wie wir unter den Frauen agitieren müssen. In der Resolution, die Ihnen vorgelegt ist, wird vorgeschlagen, Vertrauenspersonen unter den Frauen zu wählen, die die Aufgabe haben, die gewerkschaftliche und wirtschaftliche Organisation unter den Frauen anzuregen, einheitlich und planmäßig zu gestalten. Der Vorschlag ist nicht neu; er ist im Prinzip auf dem Parteitag in Frankfurt angenommen und in einzelnen Gegenden bereits mit bestem Erfolg durchgeführt worden; es wird sich zeigen, dass derselbe, auf größerer Stufe durchgeführt, geeignet ist, die proletarische Frau in größerem Umfange zur proletarischen Bewegung heranzuziehen.
Aber nicht nur mündlich soll die Agitation betrieben werden. Eine große Zahl von Indifferenten kommt nicht in unsere Versammlungen, zahllose Gattinnen und Mütter können gar nicht in unsere Versammlungen kommen – es darf auch unmöglich die Aufgabe der sozialistischen Frauenagitation sein, die proletarische Frau ihren Pflichten als Mutter und Gattin zu entfremden; im Gegenteil, sie muss darauf wirken, dass sie diese Aufgabe besser erfüllt als bisher, und das im Interesse der Befreiung des Proletariats. Je besser die Verhältnisse in der Familie, die Wirksamkeit in ihrem Heim, umso kampffähiger wird sie. Je mehr sie die Erzieherin und Bildnerin ihrer Kinder sein kann, umso mehr kann sie sie aufklären, kann sie dafür sorgen, dass sie mit der gleichen Begeisterung und Opferfreudigkeit wie wir in Reih und Glied weiterkämpfen für die Befreiung des Proletariats. Wenn der Proletarier dann sagt: „Mein Weib!“ setzt er in Gedanken hinzu: „die Genossin meiner Ideale, die Gefährtin meiner Kämpfe, die Bildnerin meiner Kinder zum Zukunftskampfe!“ So manche Mutter, so manche Gattin, die Mann und Kinder mit Klassenbewusstsein erfüllt, leistet genauso viel wie die Genossinnen, die wir in unseren Versammlungen sehen. (Lebhafte Zustimmung)
Wenn daher der Berg nicht zu Mohammed kommt, muss Mohammed zum Berg gehen: Wir müssen den Frauen den Sozialismus durch eine planmäßige schriftliche Agitation bringen. Und dazu schlage ich ihnen die Verteilung von Flugblättern vor; nicht von traditionellen Flugblättern, die auf einer Quartseite das ganze sozialistische Programm zusammenstopfen, die ganze Wissenschaft unseres Jahrhunderts geben – nein, kleine Flugblätter, die eine einzige praktische Frage unter einem einzigen Gesichtswinkel erörtern, vom Standpunkt des Klassenkampfes aus, das ist die Hauptsache. Und die Frage der technischen Herstellung der Flugblätter darf uns auch nicht gleichgültig sein. Nicht traditionell das schlechteste Papier und der schlechteste Druck – ein solch schlecht ausgestaltetes Flugblatt knüllt die proletarische Frau, die nicht den Respekt vor dem gedruckten Wort hat wie der Proletarier, einfach zusammen und wirft es weg –‚ sondern, wie es die amerikanischen und englischen Temperenzler tun, kleine Büchelchen von 4 bis 6 Seiten Inhalt, deren Ausstattung nett ist. Denn soweit ist auch die Proletarierin Frau, dass sie sagt: Ach, das Dingelchen ist so nett, das muss ich aufheben! (Heiterkeit und Zurufe) Und wir müssen die Sätze, auf die es ankommt, mit großen, fetten Buchstaben drucken; dann wird sie nicht vom Lesen abgeschreckt, ihre geistige Aufmerksamkeit wird sozusagen an einem Nagel aufgehängt.
Den Plan, eine besondere Frauenzeitung zu gründen, kann ich nicht befürworten, weil ich persönliche Erfahrungen gemacht habe; nicht etwa als Redaktrice der Gleichheit – die ist nicht für die Massen der Frauen bestimmt, sondern für die Vorgeschrittenen –‚ aber als Verteilerin von Literatur unter den Arbeiterinnen. Angeregt durch das Vorgehen der Frau Gnauck-Kühne, habe ich wochenlang Zeitungen unter den Arbeiterinnen einer bestimmten Fabrik verteilt und habe mich überzeugt, dass sie sich aus dem Inhalt nicht das aneignen, was aufklärend, sondern einzig und allein, was unterhaltend und amüsant ist. Deshalb würden sich die großen Opfer, die eine billige Zeitung erfordert, nicht lohnen.
Aber wir müssen auch eine Reihe von Broschüren schaffen, die der Frau den Sozialismus näher bringen in ihrer Eigenschaft als Proletarierin, als Gattin, als Mutter. Wir haben, ausgenommen die kräftige Broschüre der Frau Popp, keine einzige, die den Anforderungen genügt. Auch unsere Tagespresse muss mehr als bisher tun. Einige Tageszeitungen haben ja den Versuch gemacht, durch die Ausgabe einer besonderen Frauenpost die Frauen aufzuklären; die Magdeburger Volksstimme ist mit gutem Beispiel vorangegangen, und Genosse Goldstein in Zwickau ist mit Geschick und Erfolg in diesen Bahnen weitergegangen. Aber bisher hat die Tagespresse sich angelegen sein lassen, vor allem die proletarische Frau als Abonnentin zu gewinnen, man hat ihrer Unaufgeklärtheit, ihrem schlechten, ungebildeten Geschmack geschmeichelt, statt sie aufzuklären.
Ich wiederhole, das sind nur Anregungen, die ich Ihrer Begutachtung unterbreite. Die Frauenagitation ist schwer, ist mühsam, erfordert große Hingabe und große Opfer, aber diese Opfer werden belohnt werden und müssen gebracht werden. Denn wie das Proletariat seine Befreiung nur erlangen kann, wenn es zusammen kämpft ohne Unterschied der Nationalität, ohne Unterschied des Berufes, so kann es seine Befreiung auch nur erlangen, wenn es zusammensteht ohne Unterschied des Geschlechts. Die Einbeziehung der großen Masse der proletarischen Frauen in den Befreiungskampf des Proletariats ist eine der Vorbedingungen für den Sieg der sozialistischen Idee, für den Ausbau der sozialistischen Gesellschaft.
Erst die sozialistische Gesellschaft löst den Konflikt, der heutigentags gezeitigt wird durch die Berufstätigkeit der Frau. Wenn die Familie als wirtschaftliche Einheit verschwindet und an ihre Stelle die Familie als sittliche Einheit tritt, wird die Frau als gleichberechtigte, gleichschaffende und gleichstrebende, mit dem Manne vorwärts schreitende Gefährtin ihre Individualität fördern, gleichzeitig aber auch ihre Aufgabe als Gattin und Mutter im höchsten Maße erfüllen können. In der Gesellschaft des Neuhellenismus wird es ihr auch möglich sein, ihre Individualität zu einem harmonischen Kunstganzen zu gestalten; und diese Gesellschaft wird sich auf dem ganzen Erdball gestalten, sie wird sich nicht aufbauen auf der Sklaverei von Menschen; sie hat zur Voraussetzung die Sklaverei von Stahl und Eisen, die Leistungen der von der menschlichen Erkenntnis gebändigten Naturkraft. Und die Sozialdemokraten schreiten vorwärts; aber erst, wenn die Masse der Frauen zu ihnen hält, können sie sagen: Mit uns das Volk, mit uns der Sieg! [2] (Stürmischer Beifall und Händeklatschen)
Neue Anregungen sind in der Debatte nicht zutage gefördert worden. Wenn Frau Heinrich behauptet, dass meine Ausführungen nicht populär genug die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation bei den Arbeiterinnen erörtert hätten, so weise ich darauf hin, dass wir uns nicht in einer Volksversammlung befinden, sondern auf einem sozialdemokratischen Parteitag. Wenn mir ferner vorgeworfen wird, ich wäre zu theoretisch gewesen, so hat ja die Debatte bewiesen, wie notwendig es ist, eine prinzipielle Klärung über unsere Stellung gegenüber der bürgerlichen Frauenrechtelei festzulegen. Genossin Löwenherz meint, wir hätten allen Anlass, mit den bürgerlichen Frauenrechtlerinnen Hand in Hand zu gehen, weil sie auch manche Forderungen vertreten, die auch wir vertreten. Ich bin anderer Ansicht. Diese Auffassung entspricht der Überzeugung, dass es eine „Frauenbewegung“ an und für sich und als solche gibt. Wir sind der Auffassung, dass es eine Frauenbewegung nur gibt im Anschluss an die geschichtliche Entwicklung und dass es deshalb eine bürgerliche und eine proletarische Frauenbewegung gibt, die nicht mehr Gemeinsames haben als wie die Sozialdemokratie mit der bürgerlichen Gesellschaft. Wir weisen die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen nicht etwa deshalb zurück, weil wir das bisschen nicht wollen, sondern weil sie das mehr nicht wollen, was gerade den wesentlichen Inhalt unserer Forderungen ausmacht, nicht bloß mit Rücksicht auf unsere Zukunftsforderungen, sondern auch mit Rücksicht auf die recht minimalen Forderungen, die wir jetzt auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft vertreten. Der Fortbildungsunterricht zum Beispiel ist illusorisch, wenn die Proletarierkinder gleichzeitig für ihren Lebensunterhalt erwerbstätig sein müssen. Wir fordern nicht nur das Brot des Geistes, sondern gleichzeitig auch das Brot des Körpers. Und es wäre töricht, wenn wir, hinter denen die kompakte soziale Macht der Sozialdemokratie steht, uns den bürgerlichen Frauen, hinter denen keine Macht steht, anschließen wollten. Und noch eins trennt uns: die Taktik: verlangt man, dass die klassenbewussten Proletarierinnen mit Petitionen an den Thron des Kaisers und an die Regierungen gehen? – Wir sollen die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen für uns agitieren lassen, weil wir keine geschulten Agitatorinnen haben, sagt Genossin Löwenherz. Auf jedem Parteitag wird geklagt über den Mangel an Agitatoren. Wenden wir uns etwa deshalb an Eugen Richter und Genossen? (Heiterkeit) Es kommt nicht darauf an, was man verlangt, sondern zu welchem Zweck man es verlangt. Wenn die bürgerlichen Frauen Forderungen erheben, tun sie es nicht, um das Proletariat wehrfähiger zu machen für den Befreiungskampf, sondern sie tun es, getrieben von dem bösen Gewissen der Bourgeoisie, um mit ihren Forderungen dem Proletariat den Mund zu stopfen. Wir aber wollen, dass in der Stunde, wo am Ende der kapitalistischen Entwicklung die bürgerliche Gesellschaft in sich selbst zusammenbricht, der Proletarier nicht dasteht wie der Sklave, der die Kette bricht, sondern als körperlich, geistig und sittlich vollkommene Persönlichkeit. Und von diesem Standpunkt aus ist zwischen proletarischer und bürgerlicher Gesellschaft keine Gemeinschaft möglich. Mit guten Absichten, mit schönen Gefühlen, hat man noch keine neue Gesellschaft gezimmert; sie erweisen sich als brüchiger Schiefer, welcher zersplittert, wenn die wirtschaftlichen Tatsachen, die Geldsack-Interessen an sie herantreten. Nur die klare Erkenntnis ist der Granit, auf welchen das Proletariat rechnen kann, um die Kirche der Zukunft darauf zu bauen. (Stürmischer Beifall)
1. Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, (1884), in Marx-Engels, Werrke, Bd. 21, S. 25–173 hier S. 75.
2. „Mit uns das Volk, mit uns der Sieg“: aus dem Refrain des damals beliebten Arbeiterliedes Sozialistenmarsch.
Zuletzt aktualisiert am 20. März 2020