Clara Zetkin

 

Frauenarbeit und gewerkschaftliche Organisation

(1. November 1893)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 1. November 1893.
Aus: Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, Berlin 1957, S. 31 44.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Kölner Parteitag wird sich bekanntlich mit der Frage der Gewerkschaftsorganisation zu beschäftigen haben beziehungsweise mit dem Verhältnis zwischen politischer und gewerkschaftlicher Bewegung. Die Frage gelangt zur Erörterung auf besondere Anregung aus gewerkschaftlichen Kreisen heraus. In letzter Zeit war leider ein Rückgang der Gewerkschaften zu verzeichnen, und dafür machte man innerhalb der Gewerkschaftsbewegung unter anderen Umständen auch die Haltung verantwortlich, welche die politische Bewegung zur gewerkschaftlichen angeblich einnehme. Die politische Arbeiterpresse wies die betreffenden Vorwürfe unseres Erachtens mit Recht als unbegründet zurück und begrüßte es, daß der Kölner Parteitag durch eine abermalige Erörterung der Frage das auf gewerkschaftlicher Seite vorhandene Mißtrauen zerstreuen werde.

Die Tatsache steht über allem Zweifel fest, daß in allen kapitalistisch produzierenden Ländern die Frauenarbeit in der Industrie eine immer größere Rolle spielt. Die Zahl der Industriezweige, in denen heutzutage Frauen von früh bis spät schuften und schanzen, nimmt mit jedem Jahre zu. Und die den Frauen bereits seit längerer Zeit erschlossenen Gewerbe beschäftigen immer mehr weibliche Arbeitskräfte. Nicht nur die Zahl der überhaupt gewerblich tätigen Frauen wächst stetig, sondern auch ihre Zahl im Verhältnis zu derjenigen der in Industrie und Handel usw. tätigen Männer. Einige Industriezweige – wir erinnern nur an die Textilbranche – werden geradezu von der Frauenarbeit beherrscht, welche stetig die Männerarbeit zurück- und verdrängt. Sogar und aus begreiflichen Gründen gerade in den Perioden wirtschaftlichen Rückgangs wie in der, welche wir jetzt durchleben, hat die Zahl der Arbeiterinnen relativ und absolut dort zugenommen, wo die Zahl der beschäftigten männlichen Arbeitskräfte zurückgegangen ist. In Sachsen zum Beispiel nahm, wie wir bereits meldeten, 1892 die Zahl der Arbeiter über 6 Jahre um 1.633 ab, die der gleichaltrigen Arbeiterinnen dagegen um 2.466 zu.

Nach dem Wiener Privatdozenten J. Singer waren in Deutschland in den letzten Jahren fünf Millionen Frauen erwerbsmäßig tätig.

Die Gewerbezählung von 1882 stellte fest, daß es in Deutschland auf 7.340.789 gewerblich tätige Personen überhaupt 1.509.167 Frauen gab, also 20,6 Prozent, das heißt, auf je 100 gewerblich Tätige kamen fast 21 Frauen. [1]

Welchen Umfang die industrielle Frauenarbeit angenommen hat, das erhellt auch deutlich aus den letzten Jahresberichten der Fabrikinspektoren. In den dem gesetzlichen Schutz unterstellten Betrieben waren beschäftigt: in Sachsen 241.088 Arbeiter und 123.548 Arbeiterinnen, in Baden 84.806 Arbeiter und 41.491 Arbeiterinnen, in Hessen 41.778 Arbeiter und 12.210 Arbeiterinnen, in Sachsen-Altenburg 9.553 Arbeiter und 4.043 Arbeiterinnen usw. In Württemberg zählte man 27.719 erwachsene Arbeiterinnen, in Preußen deren über 250.000, die in der Hausindustrie und im Bergbau beschäftigten Frauen nicht eingerechnet, usw.

Diese Zahlen geben nur einen annähernden Begriff von der Ausdehnung, welche die Verwendung weiblicher Arbeitskraft erfahren hat. Denn es sind nicht mitgezählt all jene Tausende und aber Tausende von Frauen, welche in Betrieben arbeiten, die nicht gesetzlich "geschützt" sind, die mithin der Fabrikinspektion nicht unterstehen. Wie groß ist nicht allein die Zahl der in der Hausindustrie sich abpbgenden Frauen.

Es ist an dieser Stelle wiederholt darauf hingewiesen worden, welches die Ursachen der steigenden Verwendung weiblicher Arbeitskräfte sind: ihre Billigkeit und die Vervollkommnung der mechanischen Produktionsmittel und der Produktionsmethoden. Die selbsttätige, oft nicht einmal mehr der Regelung bedürfende Maschine, welche mit der Kraft eines Riesen und märchenhafter Geschicklichkeit, Geschwindigkeit und Genauigkeit arbeitet, macht die muskelstarke und gelernte Arbeit überflüssig. Der kapitalistische Unternehmer kann weibliche Arbeiter nun dort einstellen, wo er früher männliche verwenden mußte. Und er stellt sie mit Vorliebe ein, denn die Arbeitskraft der Frauen ist billig, billiger als die der Männer.

Obgleich die produktive Leistungsfähigkeit der Arbeiterin meist hinter jener der Arbeiter nicht zurücksteht, so ist doch der Unterschied zwischen Männer- und Frauenlöhnen ein seht bedeutender. Vielfach betragen letztere nur die Hälfte, oft auch nur ein Drittel der ersteren.

Nach den Mitteilungen der Leipziger Handelskammer wurden Wochenlöhne gezahlt:

 

  

Männer
(Mark)

  

Frauen
(Mark)

in der Spitzenfabrikation

20–35

7–15

in einer Fabrik für Papierlaternen

16–22

7,50–10

in der Wollkämmerei

15–27

7,20–10,20

in der Stoffhandschuhfabrik

12–30

6–15

in der Leder- u. Lederwarenfabrikation

12–28

7–18

in der Leinen- und Juteweberei

12–27

5–10

in einer Zuckerfabrik

10,50–31

7,50–10

in den Gummiwarenfabriken

9–27

6–17

Die Leipziger Ortskrankenkasse nahm 1892 eine statistische Erhebung über die Löhne vor und stellte fest, daß 6o Prozent der Arbeiterinnen einen Wochenverdienst haben unter und bis zu 9 Mark, 32 Prozent bis zu 12 Mark und nur 7 Prozent bis zu 15 beziehungsweise 19 und 21 Mark. Die Männer sind zwar im Punkte des Verdienens auch nicht glänzend gestellt, aber doch immerhin besser als die Arbeiterinnen. Von ihnen verdienen 37 Prozent bis zu 15 Mark, 30 Prozent bis zu 19 Mark und 33 Prozent bis zu 21 Mark.

Höchst ungünstig sind die Lohnverhältnisse der Arbeiterinnen, welche in Berlin in der chemischen Industrie tätig sind. 74 Prozent von ihnen haben nur einen Wochenverdienst bis zu 10 Mark 50 Pfennig. Von den übrigen 26 Prozent verdienen nur 2 Prozent wöchentlich bis zu 24 Mark.

In Hessen, Bayern, Sachsen, Thüringen, Württemberg, kurz, in allen deutschen Herrgottsvaterländchen, sind laut der Berichte der Fabrikinspektoren die Löhne der Arbeiterinnen weit niedriger als die der Männer. Der badische Fabrik- inspektor Wörrishoffer nahm eine sehr gründliche Untersuchung der sozialen Lage der Fabrikarbeiter vor. Auch aus ihr erhellt mit sinnenfälliger Deutlichkeit, wie ganz miserabel die Erwerbsverhältnisse der industriell tätigen Frauen sind. Wörrishoffer teilte nämlich Arbeiter und Arbeiterinnen ihrem Verdienst nach in drei Lohngruppen, eine niedere mit weniger als 15 Mark Wochenlohn, eine mittlere, wo der wöchentliche Verdienst 15 bis 24 Mark beträgt, und eine hohe mit einem Wochenlohn von über 24 Mark. Von den Mannheimer Arbeiterinnen gehören 99,2 Prozent der niederen, 0,7 Prozent der mittleren und 0,1 Prozent der hohen Lohngruppe an. Mit anderen Worten: Von 100 Arbeiterinnen in Mannheim verdienen mehr als 99 wöchentlich unter 15 Mark, davon haben 54 einen Wochenlohn von nur 3 bis 8 Mark, 27 einen solchen bis zu 10 Mark. Daß die Lebensverhältnisse der Arbeiterinnen den Lohnverhältnissen entsprechend kümmerliche, ja, höchst elende sind, versteht sich angesichts dieser Zahlen am Rande. Und die Tatsache ist mit Händen zu greifen, daß die für weibliche Arbeitskräfte üblichen Hungerlöhne Tausende von Frauen aus dem Proletariat in das Lumpenproletariat stoßen. Die Not zwingt sie, ganz, teilweise oder zeitweilig in der Prostitution einen Erwerb zu suchen, durch den Verkauf ihres Körpers das Stück Brot zu erwerben, das ihnen der Verkauf ihrer Arbeitskraft nicht zu sichern vermag.

Aber nicht nur die Arbeiterinnen selbst leiden unter der erbärmlichen Bezahlung ihrer Arbeitskraft. Auch die Arbeiter werden durch dieselbe in Mitleidenschaft gezogen. Infolge ihrer niederen Löhne werden die Frauen aus Konkurrentinnen zu Schmutzkonkurrentinnen, zu Lohndrückerinnen der Männer. Die billige Frauenarbeit schlägt die Arbeit der Männer aus dem Felde, und wollen diese in Lohn und Brot bleiben, so müssen auch sie sich niedrigen Verdienst gefallen lassen. So ist die weibliche Arbeitskraft nicht bloß eine billige Arbeitskraft, sondern eine die Männerarbeit verbilligende und in dieser ihrer Eigenschaft dem nach Mehrwert heißhungrigen Kapitalisten doppelt schätzbar. Eine ganze große Industrie ist ein Beweis dafür, welche Rolle die Frauenarbeit als Lohndrückerin spielt: die Textilindustrie. Der niedrige Verdienst der Textilarbeiterschaft entspricht zum Teil der ausgedehnten Verwendung weiblicher Arbeitskräfte. Die Woll- und Baumwollbarone haben mittels der billigen und verbilligenden Frauenarbeit die Erwerbs- und Lebensverhältnisse einer ganzen großen Kategorie des Proletariats auf eine kulturwidrig niedrige Stufe herabgedrückt.

Die Übertragung von Hunderttausenden weiblichen Arbeitskräften auf die vervollkommneten modernen Produktionsmittel, welche den Ertrag der Arbeit verzehnfachen, ja verhundertfachen, hätte dem Proletariat erhöhten Wohlstand bringen müssen und auch gebracht – in einer vernünftig organisierten Gesellschaft. In der kapitalistischen Gesellschaft verkehrt sich für das Proletariat der Segen in Fluch, der Reichtum in bittere Armut. Die wirtschaftlichen Vorteile der industriellen Tätigkeit der proletarischen Frauen kommen nur zugute der Meinen Minderheit der neunmalheiligen Gilde der Couponschneider und Mehrwertpresser.

Von den wirtschaftlichen Folgen der Frauenarbeit sowie von anderen mit ihr verbundenen Mißständen erschreckt, erhob die organisierte Arbeiterschaft eine Zeitlang die Forderung auf Verbot der industriellen Frauenarbeit. Sie betrachtete diese lediglich unter dem engen Gesichtswinkel einer Lohnfrage. Dank der sozialistischen Propaganda hat das klassenbewußte Proletariat gelernt, die Frage von einem anderen Gesichtspunkt aus aufzufassen, von dem Gesichtspunkt ihrer geschichtlichen Bedeutung für die Befreiung der Frau und die Befreiung des Proletariats. Es versteht, wie unmöglich es ist, die industrielle Frauenarbeit zu beseitigen. So hat es die frühere Forderung fallengelassen und sucht die schlimmen wirtschaftlichen Folgen, welche mit der Frauenarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft, und nur in ihr, verknüpft sind, durch zwei andere Mittel zu mildern: durch den gesetzlichen Schutz der Arbeiterinnen und durch deren Einbeziehung in die gewerkschaftlichen Organisationen. Wir haben bereits an dieser Stelle die Notwendigkeit und die vorteilhaften Wirkungen des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes erörtert. Die weiter oben angeführten Zahlen über den Umfang der industriellen Frauenarbeit und über die niedrigen Löhne der weiblichen Arbeitskräfte, die allgemein bekannte Tatsache von dem lohndrückenden Einfluß der Frauenarbeit sprechen deutlich genug für die Notwendigkeit und Bedeutung der gewerkschaftlichen Organisation der Berufsarbeiterinnen.

Angesichts der vielen Tausenden von weiblichen Arbeitskräften, welche in der Industrie tätig sind, ist die Einbeziehung der Frau in die Gewerkschaftsbewegung für diese geradezu eine Lebensfrage. In einzelnen Industrien, wo die Frauenarbeit eine bedeutende Rolle spielt, ist jede Bewegung für bessere Löhne, kürzere Arbeitszeit usw. von vornherein unmöglich, weil sie an der Haltung der nichtorganisierten Arbeiterinnen scheitern würde. Aussichtsvoll begonnene Kämpfe verliefen schließlich doch erfolglos, weil die Unternehmer gegen die organisierten Arbeiter die nichtorganisierten Arbeiterinnen ausspielen konnten, welche zu jeden Bedingungen weiter- arbeiteten beziehungsweise die Arbeit aufnahmen, aus Schmutzkonkurrentinnen zu Streikbrecherinnen wurden.

Aber nicht nur mit Rücksicht auf den erfolgreichen Wirtschaftlichen Kampf der gewerkschaftlichen Organisationen ist es dringend nötig, daß die Frauen in sie einbezogen werden. Auch die Aufbesserung der Hungerlöhne der Arbeiterinnen, die Einschränkung der Schmutzkonkurrenz der weiblichen Arbeitskräfte erheischt gebieterisch deren Organisation.

Daß die Frauenarbeit soviel schlechter entlohnt wird als die Männerarbeit, hat ja vielfache Ursachen. Allein nicht wenig kommen die schlechten Frauenlöhne auf Rechnung des Umstandes, daß die Arbeiterinnen so gut wie nicht organisiert sind. Sie entbehren der Stärke, welche die Einigkeit verleiht, des Mutes, des Kraftgefühls, des Widerstandsgeistes und der Widerstandsfähigkeit, welche der Rückhalt an eine Organisation verleiht, das heißt an eine Macht, in der einer für alle und alle für einen eintreten. Sie ermangeln ferner der Aufklärung und Schulung, welche durch die Organisation geboten wird. Ohne Einsicht in das moderne Wirtschaftsleben, in dessen Getriebe sie eingeschraubt sind, verstehen sie weder durch bewußtes, berechnetes und einheitliches Handeln den flotten Geschäftsgang zur Erreichung von Vorteilen auszunützen noch in Zeiten geschäftlichen Niedergangs sich gegen Nachteile zu schützen. Raffen sie sich ja einmal unter dem Drucke unerträglicher Verhältnisse zum Kampf auf; so geschieht dies nicht selten zu unrechter Zeit und in planloser Weise.

Dieser Stand der Dinge ist von großem Einfluß darauf, daß die Erwerbsverhältnisse der Frauen gar so traurige sind und dann ihr Rückschlag in Gestalt von Schmutzkonkurrenz von den Arbeitern bitter empfunden wird. Im Interesse der Arbeiter und Arbeiterinnen ist deshalb die Einbeziehung letzterer in die Gewerkschaften dringend geboten. Je größer die Zahl der organisierten Arbeiterinnen ist, die Schulter an Schulter mit ihren Kameraden aus Fabrik und Werkstatt für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, um so eher und mehr werden sich die Frauenlöhne heben, um so eher kann der Grundsatz verwirklicht werden: gleicher Lohn für gleiche Arbeit ohne Unterschied des Geschlechts. Die organisierte und dem Arbeiter wirtschaftlich gleichgestellte Arbeiterin hört auf, dessen Schmutzkonkurrentin zu sein.

Mehr und mehr drängt sich den organisierten Arbeitern die Erkenntnis auf; von welch tief einschneidender Bedeutung es ist, daß die Arbeiterinnen in Reih und Glied der Organisationen geführt werden. In den letzten Jahren hat man es innerhalb der Gewerkschaften auch nichtan diesbezüglichen Bestrebungen fehlen lassen. Aber doch, wie wenig ist in dieser Hinsicht noch geschehen, und wie unendlich viel bleibt noch zu tun.

Nach dem Bericht der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands haben von 52 Organisationen nur 14 eine aus Arbeitern und Arbeiterinnen bestehende Mitgliedschaft. Dazu kommen noch 2 Organisationen, welche nur Frauen umschließen: die Gewerkschaft der Plätterinnen und der Zentralverein für Frauen und Mädchen Deutschlands. Was will das bedeuten angesichts der großen und stetig steigenden Zahl der Industrien, in denen Frauen tätig sind?

Aber auch in den Gewerben, wo die gewerkschaftliche Organisation der Frauen bereits begonnen hat, ist sie noch nicht über die ersten und schüchternen Anfänge hinausgekommen. [2]

Die Organisation der Tabakarbeiter nimmt hinsichtlich der Zahl ihrer weiblichen Mitgliedschaft die erste Stelle ein, und doch macht dieselbe noch nicht einmal ein Viertel der gesamten Mitgliedschaft aus. Und 1882 waren von den in der Tabakindustrie beschäftigten Arbeitskräften überhaupt 43,1 Prozent Frauen. In den vier folgenden Gewerkschaften, welche verhältnismäßig noch die größte Zahl weiblicher Mitglieder haben, steigt diese bei keiner bis auf volle 10 Prozent. Die Organisation der Gold- und Silberarbeiter zählt noch nicht einmal 5 Prozent weiblicher Mitglieder, und dies trotz der großen Zahl weiblicher Arbeitskräfte, welche in der Gold- und Silberindustrie beschäftigt sind. In der Spinnerei waren 1882 60 Prozent Frauen tätig, in der Weberei 30 Prozent, die Zahl der organisierten Textilarbeiterinnen beträgt dagegen nur rund 9½ Prozent. Diese Zahlen, in Verbindung mit den Jammerlöhnen, welche gerade in der Textilindustrie die Regel sind, reden ganze Bände über die Notwendigkeit, die Arbeiterinnen zu organisieren.

An den Gewerkschaften liegt es, in richtiger Würdigung dieser Notwendigkeit mit aller Energie an der Einreihung der Frauen in die Organisationen zu arbeiten.

Gewiß, wir verkennen nicht die Schwierigkeiten, welche sich seitens der Arbeiterinnen der Lösung dieser Aufgabe entgegenstellen. Stumpfsinnige Ergebung, Mangel an Solidaritätsgefühl, Schüchternheit, Vorurteile aller Art, die Furcht vor dem Fabriktyrann halten viele Frauen von den Organisationen fern. Und mehr als alle die genannten Hindernisse stemmt sich der Mangel an Zeit seitens der Arbeiterinnen deren Massenorganisierung entgegen, denn die Frau ist Fabrik- und Haussklavin, sie muß eine doppelte Arbeitslast tragen. Allein die wirtschaftliche Entwicklung, die schärfere Zuspitzung des Klassenkampfes erziehen Arbeiter und Arbeiterinnen und zwingen sie, mit den angedeuteten Schwierigkeiten fertig zu werden.

Gewiß, wir anerkennen, daß in den letzten Jahren innerhalb der Gewerkschaften ernste Bestrebungen gemacht worden sind, die Arbeiterinnen den Organisationen ihrer Berufs- genossen zuzuführen. Aber was in der Beziehung geleistet und erstrebt worden ist, steht keineswegs im Verhältnis zur Dringlichkeit und Bedeutung der zu vollbringenden Arbeit. In der Theorie geben die meisten Gewerkschaftsmitglieder zu, daß die gemeinsame Organisation von Arbeitern und Arbeiterinnen des nämlichen Berufs eine unabweisbare Notwendigkeit geworden ist. In der Praxis dagegen tun bei weitem nicht alle, was sie tun könnten. Es sind mehr einzelne Gewerkschaften und innerhalb dieser bestimmte einzelne Persönlichkeiten, welche mit Energie und Ausdauer für die Organisation der Arbeiterinnen wirken. Die Masse der Gewerkschaftsmitglieder unterstützt sie dabei nur wenig. Diese hält sich, als ob die diesbezüglichen Bestrebungen eine Liebhaberei wären, die man wohl dulden könne, der man aber keinen Vorschub zu leisten habe, „solange es noch so viele nichtorganisierte, indifferente Arbeiter gibt“. Dieser Standpunkt ist grundfalsch.

Die Organisation der Arbeiterinnen wird erst dann bedeutende Fortschritte machen, wenn sie nicht mehr von einigen wenigen gefördert wird, sondern wenn sich jedes einzelne Mitglied der Gewerkschaften angelegen sein läßt, diesen die Kolleginnen aus Fabrik und Werkstatt zuzuführen. Um diese Aufgabe erfolgreich zu lösen, ist allerdings zweierlei notwendig. Die Arbeiter müssen aufhören, in der Arbeiterin in erster Linie eine Frau zu sehen, der man, je nachdem sie jung, hübsch, sympathisch, heiter oder es nicht ist, den Hof macht und der gegenüber man sich eventuell je nach dem Grade der eigenen Bildung oder Unbildung Roheiten und Zudringlichkeiten erlaubt. Die Arbeiter müssen sich vielmehr gewöhnen, die Arbeiterin in erster Linie als Proletarierin zu behandeln, als Genossin der Arbeit und der Klassensklaverei und als gleichwertige, unentbehrliche Mitstreiterin im Klassenkampf. Anstatt daß man gewerkschaftlicherseits eine Haupt- und Staatsaktion daraus macht, alle Mitglieder und Anhänger der politischen Partei zu Mitgliedern der wirtschaftlichen Organisationen zu haben, sollte man, wie uns scheint, mehr Nachdruck darauf legen, die breite, indifferente Masse der Gewerkschaftsbewegung zuzuführen. Hier, in deren Aufklärung, Disziplinierung, Schulung für den Klassenkampf, liegt unseres Erachtens der Schwerpunkt der Aufgaben, welche die Gewerkschaften zu erfüllen haben. Und angesichts der zunehmenden Verwendung weiblicher Arbeitskräfte und ihrer wirtschaftlichen Folgen begeht die Gewerkschaftsbewegung geradezu einen Selbstmord, wenn ihre Bestrebungen, die indifferente Masse des Proletariats zu gewinnen, die Arbeiterinnen nicht ebensoviel berücksichtigen wie die Arbeiter.

 

 

Fußnoten

1. 1882 waren beschäftigt:

 

Männer

Frauen

Proz. der insg.
Beschäftigten

Spitzenfabrikation

    5.676

  30.204

84,1

Kleidung, Wäsche, Putz

279.975

440.870

61,2

Spinnerei

  69.272

100.459

59,2

Posamentenfabrikation

  13.526

  17.478

56,4

Bedienung und Erquickung

172.841

141.407

45,0

Tabakfabrikation

  64.477

  48.919

43,1

Stickerei und Wirkerei

  42.819

  31.010

42,0

Papierfabrikation

  37.685

  20.847

35,6

Weberei

336.400

155.396

31,6

Lohn- und Botendienst

    9.212

    3.265

25,2

Handelsgewerbe

536.221

181.296

25,3

Buchbinderei und Karton

  31.312

  10.409

24,9

2. [Gewerkschaftliche Organisation der Frauen:]

Organisation

Zahl der
Mitglieder
überhaupt

Zahl der
weiblichen
Mitglieder

Prozent der
weiblichen
Mitglieder

Tabakarbeiter

11.079

2.560

23,1

Textilarbeiter

  2.560

   620

  9,5

Buchbinder

  2.752

   210

  7,6

Bürstenmacher

     858

     59

  6,9

Zigarrensortierer

     480

     30

  6,2

Holzarbeiter

     608

     28

  4,6

Gold- und Silberarbeiter

  1.934

     83

  4,3

Konditoren

     395

     14

  3,5

Vergolder

     555

     16

  2,9

Schneider

  6.272

   131

  2,1

Schuhmacher

10.150

   150

  1,5

Metallarbeiter

26.121

   152

  0,6

Drechsler

  2.288

       1

Sattler

  1.102

       1

Plätterinnen

     100

     100

Zentralverein für Frauen und Mädchen

     200

     200

Die eventuell in Lokalvereinen organisierten Arbeiterinnen sind hier nicht mitgerechnet. Angaben über deren Zahl lagen nicht vor, jedenfalls ist sie nicht bedeutend.

 


Zuletzt aktualisiert am 6. August 2024