Quelle: Lunapark21, Dezember 2019.
Kopiert mit Dank aus der Lunapark21-Webseite.
Transkription & HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die Positionen in der Linken zu China gehen weit auseinander. Für einige – so in der DKP, in Teilen der Redaktion der Tageszeitung junge welt oder in der Redaktion der Zeitschrift Sozialismus – handelt es sich um eine sozialistische Gesellschaft oder um eine Gesellschaft auf dem Weg zum Sozialismus, auch mal um einen „Staatskapitalismus“ mit einer „sozialistischen Marktwirtschaft“. Für andere handelt es sich um ein Land, das seit den 1980er Jahren einen radikalen Wandel erlebt hat von einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft mit sozialistischen Elementen hin zu einer kapitalistischen Gesellschaft, die im ökonomischen Bereich Züge des Manchesterkapitalismus mit einer starken, lenkenden Position von Staat und KP aufweist, während der politische Überbau von einer diktatorisch herrschenden KP-Elite geprägt ist. Wir dokumentieren im Folgenden zwei unterschiedliche Positionen. |
Aus dem US-geführten Westen werden gegen die Volksrepublik China wiederkehrende Kritik-Klischees vorgebracht: „Fehlende Menschenrechte“, „zu hoher Staatseinfluss“, „Überwachungsstaat“. Linke kritisieren, China sei doch „auch nur kapitalistisch“. Alle diese Begriffe zeichnen sich durch naive oder demagogische und immer antihistorische Diffusität aus.
Der US-Geheimdienst OSS arbeitete vor und während des 2. Weltkrieges mit dem feudal-kapitalistischen Diktator Chinas, Tschiang kai-shek, zusammen. OSS-Nachfolger CIA setzte das fort, als Tschiang nach dem Sieg der chinesischen Revolution nach Taiwan geflüchtet war. Die CIA wollte dann ab 1949 von Taiwan, Hongkong, Südkorea und Laos aus die Regierung der Volksrepublik China stürzen. Nationalistische Guerillas wurden in Tibet per Fallschirm ausgerüstet. 1.800 Tibeter wurden in den Rocky Mountains zu Terroristen ausgebildet. Das geistliche Oberhaupt in der traditionellen Feudalregion Tibet, seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama, stattete die CIA standesgemäß mit jährlichen 180.000 Dollar aus und richtete ihm Vertretungen – „Tibethäuser“ – in New York und Genf ein. Noch 1969 beantragte die CIA 2,5 Millionen für ihre tibetischen Terroristen. Aber die fanden in Tibet keine Unterstützung. So beendeten Terrorismusberater Henry Kissinger und Präsident Richard Nixon die verdeckte Operation. Man verlegte sich auf Medienbeeinflussung. Die CIA-Residentur in Hongkong wertete chinesische Provinzzeitungen aus und verbreitete fake news. Übrig blieb das Aushängeschild Dalai Lama: Seine Exiltruppe wurde weiter subventioniert und unter Präsident Jimmy Carter zum ewig lächelnden Menschenrechtler umstilisiert. Er findet mit seinen banalen Weisheiten im Westen unter gutwilligen Hausfrauen, freundlichen Christen und grünen PolitikerInnen immer wieder ein dankbares Publikum. Von Sozial- und Arbeitsrechten und dem Völkerrecht schweigt er: Die Geburt eines „Menschenrechtlers“.
Kissinger und Nixon hatten konstatiert: Selbst im feudal geprägten Tibet kriegen wir keinen Fuß in die Tür. Strategieschwenk: China diplomatisch anerkennen, Billigproduktion hinverlagern und gegen den Hauptfeind Sowjetunion nutzen. Das traf sich mit den Reformern unter Deng Xiao-ping. Der US-Botschafter Winston Lord begleitete die Niederlassung von US-Konzernen in China.
Gleichzeitig nahm die CIA einen neuen Anlauf, von innen. Sie wurde unter James Lilley in der Pekinger US-Botschaft installiert. Er war in China geboren, sein Vater war seit 1916 für Standard Oil im Land und machte unter Diktator Tschiang gute Geschäfte. Sohn James war nach dem Krieg für die CIA in Asien aktiv. In Laos führte er einheimische „Rebellen“ gegen die Befreiungsbewegung: „Es war ein heiliger Krieg, ein guter Krieg.“
1989 zeichnete sich ab, dass Hongkong an China zurückgegeben werden muss. Die Hongkonger Geschäftswelt mit einheimischen und westlichen Unternehmen wurde nervös: Die neoliberale Freihandelszone war in Gefahr. Sie nahmen Kontakt auf zu Studenten in Peking, die gegen die Regierung für mehr Demokratie protestierten. Sie schickten Geld, Zelte, Nahrungsmittel, Telefone, Medikamente, Berater. Mafia-Netzwerke, die von Hongkong aus Schmuggel-Linien mit dem Festland unterhielten, übernahmen die Transporte.
Auf dem Höhepunkt der Proteste löste US-Präsident George W. Bush den bisherigen Botschafter ab und ersetzte ihn blitzartig durch Lilley und seine mehrköpfige CIA-Truppe. Nach der Niederschlagung der Proteste nahmen der britische und der französische Geheimdienst der diskreditierten CIA einige Aufgaben ab. Führende Dissidenten wurden nach Hongkong geschafft, das französische Konsulat stellte falsche Papiere aus. Etwa 200 „Menschenrechtler“ wurden in den Westen ausgeflogen und bekamen Stipendien.
1997 stimmte England der Rückgabe ihrer Kronkolonie an China zu. Aber die westlichen Staaten mit ihren Banken, Konzernen, Beratern und Handelskammern wollten ihren privilegierten Zugriff auf Chinas Wirtschaft behalten – bis 2047 behält die Sonderverwaltungszone ihr kapitalistisches Privatrecht.
Hongkong ist, so die Heritage Foundation, die „freieste Wirtschaft der Welt“ – ein 2019 zum 25. Mal vergebenes Gütesiegel. Die 1843 vom Räuberstaat England annektierte Kronkolonie wurde 154 Jahre lang zur größten neoliberalen Freihandelszone der Welt ausgebaut. „Viele der in der VR China ansässigen Täter, die in Hongkong über Scheingesellschaften und Bankkonten verfügen, nutzen den Status und die räumliche Nähe zur Volksrepublik für ihre kriminellen Zwecke aus – ein Umstand, der die Rechtsverfolgung erschwert“, so die Wirtschaftskanzlei Rödl & Partner.
2019 fordern hunderttausende Jugendliche in Hongkong Menschenrechte und Demokratie, kritisieren den „wachsenden Einfluss Chinas“. Auslöser war das geplante Auslieferungsgesetz für 27 übliche Straftaten wie Mord, aber eben auch Bestechung, Steuerhinterziehung, Insidergeschäfte. Die chinesische Staatsführung bekämpft dies verstärkt auf dem Festland. Sofort erklärte das State Department: Das Gesetz untergrabe Hongkongs Autonomie, schädige den Finanzplatz und unterwerfe US-Bürger in Hongkong der chinesischen Justiz. Mit dem Gesetz „könnte fast jeder Hongkonger Geschäftsmann theoretisch ins Visier der chinesischen Justiz geraten“, so zutreffend die FAZ.
China will die Autorität des Rechts auf dem Festland durchsetzen, gegen chinesische wie ausländische Täterinnen und Täter. Die Herrschaft des Rechts, rule of law, ist ein fundamentaler „westlicher Wert“, den aber der Westen selbst weniger denn je einhält, vielmehr die straflose Schädigung anderer Staaten durch Unternehmen und Banken auch in Hongkong verbissen verteidigt. Genauso bekämpfen die Unternehmenslobby sowie christlich und liberal lackierte Parteien gegenwärtig die Einführung eines Unternehmens-Strafrechts in Deutschland.
Der Westen fordert als Menschenrechte – vor allem im Ausland – die Rechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit: Sie gelten unabhängig vom Inhalt, gelten auch für verfassungsfeindliche Forderungen, etwa dass Hongkong „unabhängig“ werden solle. Neuerdings gelten diese Rechte auch für die freie Wahl des sexuellen Geschlechts (LGBT).
So unterstützt der Westen diese Rechte in Hongkong, während der eigentliche Grund der Proteste ein ganz anderer ist: Die extreme Niedriglöhnerei und die extrem hohen Wohnungs- und Mietpreise gerade für die jungen Hongkonger. „Penthouse-Paradiese für Milliardäre und Käfigwohnungen für die Massen“ – so die Situation in einer Kurzformel. Die Menschenrechte auf sichere und bezahlbare Wohnung und auskömmliches Arbeitseinkommen werden unter den Tisch gekehrt. Die westlichen Arbeitgeber, die mit einigen hunderttausend hochbezahlten Managern vor Ort sind sowie die einheimischen Oligarchen und 170.000 Millionäre, die die teuren Immobilien auf der engen Insel vielfach mit Schwarzgeld finanziert haben, dürfen sich freuen, dass die von ihnen klammheimlich geförderten Proteste sich gegen China richten.
Die chinesische Führung konstatierte: Mit dem massiven Import westlicher Unternehmen haben wir Verhaltensweisen entfesselt und bestärkt, die egoistisch, sozialschädlich bis kriminell sind. Sie sind systemisch für die westliche „liberale“ Kapital-Demokratie. Diese hat zwar viele Gesetze; sie werden aber millionenfach straflos verletzt, vor allem durch Unternehmen, aber auch durch Individuen.
Gerade der extrem schnelle Aufstieg des Kapitalismus, die im Vergleich extrem schnelle Ausweitung der Arbeitseinkommen und der Massenkaufkraft verführte Millionen junger Menschen in China zu kreditfinanzierten Käufen. Deshalb kontrollierte der Staat, zunächst angelehnt an das deutsche Schufa-System, die exzessive Überschuldung vor allem junger Menschen. Das wurde zum Sozialkreditsystem ausgebaut. Erfasst werden etwa Handel mit Kinderpornos, Verletzung von Verkehrsregeln, illegale Beschäftigung von Haushaltshilfen, Bildung von terroristischen Vereinigungen, Schwarzhandel. Das wird sanktioniert, etwa durch Ausschluss von günstigen Flügen und von Fahrten im Hochgeschwindigkeitszug, durch höhere Kreditzinsen, durch blockierten Aufstieg im Betrieb, Gerichtsverfahren. Betrügerische Kreditvermittler werden ins Gefängnis gesteckt. Im Unterschied zum deutschen Schufa-System können Chinesen in der Behörde ihre Einträge einsehen, kostenlos.
Die Überwachung betrifft auch Unternehmen. Deshalb wird in der Volksrepublik die Kriminalität von Unternehmern, Managern und Beratern – ob chinesische oder ausländische – sowie von Parteifunktionären streng verfolgt. Zehntausende wurden und werden wegen Bestechung, Bestechlichkeit, Insiderhandel, Vetternwirtschaft, Zollvergehen, Umweltvergiftung, Nichtzahlung von Mindestlöhnen, Dokumentenfälschung, Steuerhinterziehung verurteilt und teilweise viele Jahre ins Gefängnis gesteckt. Auf solche Straftaten zielt auch, wie geschildert, das geplante Auslieferungsgesetz in Hongkong ab. Das sind typische Straftaten, die im Westen, etwa bei betrügerischen Banken, korrupten Ratingagenturen, Steuerflucht organisierenden Wirtschafts„prüfern“, bei rechtsradikalen Hetzern, bei Pornoanbietern und Waffenhändlern im Darknet nach geltendem Recht ebenfalls verfolgt werden müssten. Nichtzahlung von Mindestlöhnen, Falschauszeichnung von Nahrungsmitteln – so lche verbreitete Taten bleiben im westlichen Kapitalismus meist unbestraft, in China werden sie bestraft.
Dagegen im Westen: Freikauf durch hohe Bußgeldzahlung – ohne Schuldanerkenntnis, das ist die vorherrschende Praxis gegenüber Top-Kriminellen etwa der Großbanken. Die Kanzlei Freshfields etwa zahlt jetzt in Deutschland 50 Millionen Euro – ohne Schuldanerkenntnis. Die Kanzlei hat gegen hohe Honorare die betrügerischen Cum-Ex-Geschäfte hundertfach als rechtmäßig begutachtet, mit denen der deutsche Staat um Milliarden an Steuern gebracht wurde. Genauso wie in Hongkong protestieren jetzt westliche Handelskammern in Festland-China gegen das verschärfte Vorgehen der Justiz, mit Argumenten, die im Westen nicht nur üblich, sondern bei den „liberalen“ Verhältnissen auch immer wieder erfolgreich sind: Schädigung des Standorts! Zuviel Bürokratie!
Insbesondere in Entwicklungsländern haben westliche Unternehmen mit Unterstützung ihrer Staaten einheimische Politiker über Jahrzehnte an teilweise ausgefeilte Bestechungspraktiken gewöhnt, etwa über zwischengeschaltete Berater. Die zentrale Kommission für Disziplin-Kontrolle der Kommunistischen Partei Chinas hat deshalb ihre Schmiergeld-Ermittlungen seit 2019 auch auf Investitions-Projekte im Ausland ausgeweitet, beginnend in Laos und auf den Philippinen. Solche Kontrollen kennen westliche Regierungen nicht. Dass „Kapitalismus“ eine andere Qualität annehmen kann, einschließlich der militärisch unbegleiteten Globalisierung durch China, bleibt denen verborgen, die an China herumnörgeln, es sei halt auch nur „kapitalistisch“.
In China leben mehr als 60 ethnische Minderheiten. Schon von ihnen gehört? Neben den Dalai Lama-Tibetern sind für den Westen die Uiguren wichtig. Sie sprechen einen Turk-Dialekt. Ihr Islam ist schamanisch geprägt. Diese Gruppe kann in der autonomen Region Xinjiang als knappe Hälfte der Bevölkerung ihre Sprache pflegen und in 24.400 Moscheen ihren Ritualen nachgehen – eine Moschee pro 530 Muslime. Der Staat hat lediglich die Sharia verboten.
Vor allem aus den USA und Deutschland werden uigurische Organisationen sowie Terroristen alimentiert. Die Uyghur American Association mit Sitz in Washington arbeitet mit dem Dalai Lama zusammen und tritt für Demokratie, Menschenrechte und Selbstbestimmung der Uiguren ein, besonders deren religiöse Freiheit. Die International Uyghur Human Rights and Democracy Foundation, Sitz ebenfalls in Washington, treibt Spenden ein. Der World Uyghur Congress, 2004 in München gegründet, residiert dort in Räumen der katholischen Kolpingfamilie. Diese Organisationen rühmen das Volk der Uiguren wegen ihrer „über 4.000jährigen Hochkultur“, insbesondere wegen des Königreichs, das bis ins 18. Jahrhundert bestanden hat.
Der Westen kritisiert oft heftig das Sonderrecht der Sharia, fördert aber bei den Uiguren das Gegenteil und nutzt das ethnisch-religiöse Selbstverständnis führender Gruppen gegen den chinesischen Staat. Uiguren sind u. a. wegen illegalen Waffenhandels im Gefängnis. Gleichzeitig kämpfen mit westlicher Förderung zwischen 8.000 bis 20.000 uigurische Gotteskrieger als gute „Rebellen“ gegen die Regierung Syriens.
Werner Rügemer lebt in Köln. Letzte Buchveröffentlichung: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure, Köln 2018. In dem Buch findet sich ab Seite 261 ein knapp 60seitiges Kapitel mit der Überschrift China: der kommunistisch geführte Kapitalismus.
Die aktuelle Debatte zu China in der Linken ist kaum zu verstehen, ohne die jüngere Geschichte des Landes mit-zu-bedenken. Der Sieg der maoistischen Kräfte im Jahr 1949 brachte in China (mit der Ausnahme von Taiwan und Hongkong) die Beseitigung des bislang vorherrschenden Kapitalismus mit sich: Nach dem Sieg der KP unter Mao Tse-tung wurden eine Gesellschaft und eine Ökonomie aufgebaut, in der nicht mehr Profit und Konkurrenz bestimmend waren. Auf dieser Grundlage erlebte das Land bis 1989 auch einen lang andauernden wirtschaftlichen Aufschwung, der den Hunger beseitigte und die Grundbedürfnisse der Massen in wachsendem Umfang befriedigte. Der Vergleich China mit Indien fiel (und fällt auch heute noch) eindeutig aus.
China befand sich lange Zeit in einem Bündnis mit der Sowjetunion. Nach dem Zerwürfnis mit Moskau gab es in der internationalen Linken zwei dieses Schisma widerspiegelnde große Strömungen: eine, die sich weiter an Moskau orientierte, und eine zweite, die an Peking orientiert war. Die vielfach kritiklose Orientierung an einem der beiden „sozialistischen Pole“ hat dazu beigetragen, dass bestehende Gemeinsamkeiten ignoriert oder kleingeredet und problematische Entwicklungen (Stichwort: Kulturrevolution) nicht hinterfragt, teilweise zum Kult erhoben wurden. Moskau und Peking unterstützten jahrzehntelang in der Dritten Welt Befreiungsbewegungen und sozialistische Parteien, die sich in ihrem jeweiligen Land für einen Sturz des Kapitalismus engagierten. Punktuell kam es auch zu faktisch gemeinsamen Engagements – so im Fall der Unterstützung für die FNL („Vietcong“) und die KP Vietnams im Vietnamkrieg.
Die dramatischen Ereignisse 1989–91 haben unbestritten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und in den übrigen Staaten, die bis 1990 Teil des „Warschauer Paktes“ waren, zur Wiederherstellung von bürgerlichen Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise geführt. Dies wird in der Linken in der Regel auch bei denjenigen Ländern so gesehen, in denen die neue, heute politisch dominierende „Elite“ bzw. die politisch herrschende Gruppe aus der vormals politisch herrschenden KP hervorgegangen ist (z. B. in Belarus oder Kasachstan).
In China liegt der Fall anders. Hier gibt es in der Linken einen Disput, inwieweit das Land nicht weiter als ein sozialistisches oder als ein Land, das sich „auf dem Weg zum Sozialismus“ befinde, verstanden werden muss. Das hängt auch damit zusammen, dass die Führung der KP Chinas behauptet, einen sozialistischen Weg zu verfolgen. Sie beruft sich in ihrer Ideologie weiter – wenn auch formalistisch – auf den Marxismus.
Es muss Angelegenheit einer wissenschaftlichen Analyse sein, zu bestimmen, wann es in der jüngeren Entwicklung der chinesischen Gesellschaft zu einem Umschlag von Quantität in die neue Qualität kam. Wann die von Parteiführer Deng angeschobenen „Reformen“ mit ihren kapitalistischen Elementen den nichtkapitalistischen Grundcharakter der Gesellschaft aufgehoben haben. Das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens am 3./4. Juni 1989 bildete hier sicher eine wichtige Zäsur. Kaum bestreitbar ist: China muss heute als eine kapitalistische Gesellschaft bezeichnet werden; die Wirtschaft und die Dynamik des Landes folgen kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten. Was in der Konsequenz längst auch mit imperialistischen Tendenzen verbunden ist – viele davon sind entlang der „neuen Seidenstraße“ zu besichtigen. Den Begriff „Staatskapitalismus“ halte ich nicht für angebracht; die Dynamik des privatkapitalistischen Sektors ist zunehmend bestimmend. Richtig ist, dass es sich um einen Kapitalismus mit noch starker staatlicher Steuerung handelt.
Es ist in China auch kein „sozialistischer Weg“ erkennbar. Im Gegenteil: mit dem Weg, der beschritten wird, werden die gesellschaftlichen Strukturen immer mehr von dem bestimmt, was den Kapitalismus charakterisiert und (negativ) auszeichnet: vorherrschend sind die Profitmaximierung, die Konzentration von Kapital, die Konkurrenz unter den Unternehmen, die Ausbeutung der arbeitenden Schichten und die Aneignung des von diesen produzierten Mehrwerts durch große Unternehmen in staatlichem Besitz und durch die Klasse der neuen privaten Eigentümer großer und kleinerer Produktionsmittel. Vor allem handelt es sich um ein Land, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich enorm ist und sich rasant vergrößert. Es gibt in der Geschichte kaum ein anderes Land, in dem sich in derart kurzer Zeit eine so große gesellschaftliche Spaltung vollzogen hat. Anfang der 1990er Jahre gab es in China keinen erkennbaren großen, privaten Reichtum (wenn es auch bereits reichlich Privilegien der führenden Kader der KP gab). Anfang der Nuller-Jahre hat das Auseinanderdriften von Arm und Reich in großem Maßstab begonnen. 2006 gab es nach den offiziellen Angaben in China 16 US-Dollar-Milliardäre und einige tausend Millionäre. 2017 waren es 324 Dollar-Milliardäre und rund 3,5 Millionen Dollar-Millionäre (Menschen, die über ein Vermögen von mehr als einer Million US-Dollar verfügen). Es geht dabei um einen enormen privaten Reichtum, der in der Regel auch mit konkreter Macht über auszubeutende Arbeiterheere verbunden ist. 2006 verfügten die Dollar-Milliardäre „nur“ über ein addiertes Vermögen von rund 350 Milliarden US-Dollar. Aktuell kontrollieren sie ein Vermögen, das mehr als 1,2 Billionen Dollar wert ist.
Ein größerer Teil der privaten Anlagen der Reichen und Superreichen befindet sich in Bereichen wie Immobilien, Investmentgesellschaften und Lebensmittelbranche. Diese könnte man als wirtschaftliche Randbereiche bezeichnen. Doch längst gibt es privates Kapital in zentralen Bereichen; der Milliardär Li Shufu ist Eigentümer des großen und dynamischsten chinesischen Autoherstellers Geely; er kontrolliert damit gleichzeitig Volvo Car und den malayischen Autoproduzenten Proton; er ist an Volvo Trucks beteiligt und ist bei der Daimler AG der größte Aktionär. Jack Ma wiederum ist Gründer der Alibaba-Group, ein IT- und Internet-Konzern. Er war langjähriger Chef dieses Unternehmens und bis September 2018 dort in leitender Funktion aktiv. Li Shufu und Jack Ma sind bekennende Mitglieder der Kommunistischen Partei (viele der Superreichen, insoweit sie auf dem Festland leben, sind KP-Mitglieder, ein großer Teil macht die Mitgliedschaft jedoch nicht öffentlich).
Die chinesische Gesellschaft ist eine kapitalistische Klassengesellschaft, wenn auch mit Besonderheiten. Sie wird von den folgenden Kasten und Klassen bestimmt: Politisch entscheidend ist – erstens – die Staats- und Parteiführung, die von den führenden Kadern der KP bestimmt wird. Zu ihr zählen auch die Top-Manager der staatlichen Banken und der sonstigen Staatsunternehmen. Es gibt zweitens eine privatkapitalistische Klasse, faktisch eine neue Bourgeoisie. Deren Stärke und Macht wuchs in den letzten 15 Jahren erheblich. Sie ist personell noch punktuell mit der Staats- und Parteiführung verbunden. Allerdings ist diese Verbindung höchst widersprüchlich, da letzten Endes die privatkapitalistische Dynamik der staatlichen Lenkung widerspricht. Es gibt sodann – drittens – die arbeitende Klasse. Es handelt sich dabei um ein zweigeteiltes Proletariat, dessen schwacher und besonders rechtloser Teil aus Leiharbeitskräften und Wanderarbeitern besteht. Die Zahl der Wanderarbeiter ist zwar rückläufig; es handelt sich mit knapp 300 Millionen jedoch immer noch um ein gigantisches Arbeitspotential. Der Kern des Proletariats sind die Direktbeschäftigten, die deutlich besser bezahlt werden und die über einen rechtlich höheren Status verfügen. Schließlich gibt es – viertens – die Landbevölkerung, die immer noch mehr als ein Drittel (oder 550 Millionen Menschen) der chinesischen Gesellschaft umfasst. Addiert bilden die beiden besonders rechtlosen Gruppen Wanderarbeiter und Landbevölkerung immer noch die Mehrheit der Gesamtbevölkerung.
Ein Ausdruck des Erstarkens des privaten Sektors sind jüngere Entscheidungen der chinesischen Staats- und Parteiführung zugunsten der privaten Unternehmer und des ausländischen Kapitals. So können BMW und Tesla seit 2018 ihre neuen Werke ohne jegliche Beteiligung chinesischen Kapitals errichten. Bislang gab es die „eherne“ Regel, dass nur Joint Ventures zugelassen sind, in denen die chinesische Seite über 50 Prozent der Anteile verfügte; meist hatte sie im operativen Bereich auch das Sagen.
Eine Zeit lang galt China als das streik-freudigste Land. Der Kampf in einem Honda-Getriebewerk bei Foshan im Jahr 2010 sorgte für Schlagzeilen. Treibende Kraft waren dort damals Wanderarbeitskräfte. Die Kämpfe weiteten sich auf andere Unternehmen, vornehmlich auf solche in der jungen Autoindustrie, aus. Die chinesische Führung verhielt sich zunächst zurückhaltend. Die Honda-Kolleginnen und Kollegen konnten einen Teilerfolg erzielen. Um eine Ausweitung der Streikwelle zu verhindern, erhöhte die Regierung schließlich die Mindestlöhne deutlich.
In jüngerer Zeit gibt es neue Arbeitskämpfe. So einen solchen 2016 bei FAW-Volkswagen, wo tausend Leiharbeitskräfte „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ und einen Ausgleich für die Unterbezahlung vorausgegangener Arbeit forderten. Es kam zu gerichtlichen Auseinandersetzungen und zur Verhaftung von Streikführern. Einen Hilferuf-Brief der Leiharbeiter an den VW-Betriebsrat in Deutschland und an die IG Metall beantworteten die Angeschriebenen mit dem Hinweis, man möge sich vor Ort an FAW-Volkswagen und die lokalen Behörden wenden. Bei FAW-Volkswagen entstand die Losung: „Den Deutschen ist es egal. Wir müssen selbst kämpfen.“
Aktuelle Kämpfe richten sich gegen „996“. Damit ist Arbeiten von 9 Uhr früh bis 9 Uhr abends und dies an sechs Tagen die Woche gemeint. Eine solche 72-Stunden-Woche ist in vielen Hightech-Betrieben die Norm. Gegen sie richtet sich inzwischen massiver Protest. Auf der Entwicklerplattform GitHub rief im März 2019 eine Gruppe von IT-Fachkräften unter dem Stichwort „996.ICU“ zu einem öffentlichen Protest auf. Die Aktivisten stellten eine schwarze Liste auf die Website mit den Namen von rund 100 Unternehmen, die gegen die geltenden Arbeitsgesetze verstoßen. Unter ihnen befinden sich so gut wie alle führenden chinesischen IT-Unternehmen – Alibaba, Huawei, Tencent, Baidu usw. Der Zusatz „ICU“ steht für „intensive care unit“. Damit wird auf Beschäftigte hingewiesen, die wegen Überarbeitung auf den Intensivstationen von Krankenhäusern landen. Das erinnert an die Selbstmorde beim taiwanesischen (in den chinesischen Sonderwirtschaftszo nen produzierenden) Elektronik-Riesen Foxconn in den Jahren 2010–2012 und an „Karoshi“, das Sich-zu-Tode-Arbeiten“, für das der japanische Kapitalismus berüchtigt ist. Der zitierte Alibaba-Gründer Jack Ma erklärte öffentlich, die 72-Stunden-Woche sei „ein großer Segen“. Ähnlich äußerten sich andere Top-Leute der IT-Branche. Bis schließlich die Regierung in Peking mäßigend eingriff und darauf hinwies, dass eigentlich in China die 40-Stunden-Woche (plus 36 Überstunden im Monat) die Regel sein sollten.
Eine neue Qualität erreichten Arbeitskämpfe 2018/19 im Fall der Auseinandersetzungen in der Schweißgerätefabrik Jasic Technology in den südchinesischen Stadt Shenzhen. Hier hatten Protestierende bessere Arbeitsbedingungen und ein Ende von willkürlichen Entlassungen gefordert. Sie versuchten auch eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen (die offiziellen Gewerkschaften sind Staatsgewerkschaften, die sich der Unternehmensleitung und der Staatsführung verpflichtet fühlen). Die Unternehmensleitung reagierte mit neuen Entlassungen; die Polizei verhaftete mehrere Dutzend Aktivisten. Es kam zu überregionalen Mobilisierungen von linken („maoistischen“) Gruppen für die Jasic-Beschäftigten. Anders als bei den Streiks 2010 reagieren die Behörden zunehmend repressiv. Mitte 2019 befanden sich mehr als 100 Personen, die sich für die Jasic-Belegschaft engagiert hatten, in Haft. Die neue Art von Arbeitskonflikten hat offensichtlich auch etwas mit dem Rückgang der Wachstumsraten, mit den Einbrüchen bei der Autobranche und mit dem Gespür der Partei- und Staatsführung, dass sich aus solchen einzelnen Brandherden ein Flächenbrand entwickeln könnte. Dies bildet den wesentlichen Hintergrund für die massive Repression.
Der Umgang mit Umwelt und Klima unterscheidet sich in China in nichts von der Art und Weise, wie im übrigen Kapitalismus die Natur und knappe Ressourcen (meist rücksichtslos) ausgebeutet und das Klima belastet werden. China ist Vorreiter bei Elektromobilität, was die Städte noch mehr den Autos ausliefern wird – und im Übrigen parallel zur fortgesetzten Automotorisierung mit Verbrenner-Pkw betrieben wird. China ist aktuell dabei, die Zahl der vorhandenen 38 Atomkraftwerke zu verdoppeln.
In der Provinz Xinjiang stellt die Volksgruppe der Uiguren mit mehr als 10 Millionen Menschen knapp die Hälfte der Bevölkerung. Peking betreibt seit Jahrzehnten eine klassische Kolonisierungspolitik mit Umsiedlungen von Millionen Han-Chinesen in diese Region. Ihr Anteil stieg in den letzten zwei Jahrzehnten von 10 auf 40 Prozent. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden derzeit mehr als eine Million Uiguren in Umerziehungslagern gefangen gehalten. Die exakte Zahl lässt sich sicher nicht verifizieren; dass sich jedoch Hunderttausende Uiguren in solchen Lagern befinden, bestreitet auch die chinesische Führung nicht.
Bilanz: China ist ein kapitalistisches Land wie andere auch. Dass wir im Fall einer Aggression z. B. der USA gegen Peking China verteidigen – so wie wir Russland gegen die NATO-Aufrüstung und Einkreisung verteidigen – ist eine Selbstverständlichkeit. Im Übrigen stehen wir aber immer an der Seite der Unterdrückten, der Entrechteten, der Ausgebeuteten. Und wir sagen deutlich: Insbesondere die massive Verletzung von Menschenrechten, die Verweigerung unabhängiger Gewerkschaften ist verwerflich; der Umgang mit den Uiguren ist schändlich.
Zuletzt aktualisiert am 29. Juni 2023