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Am 4. Juli, bereits in den Nachtstunden, während die zweihundert Mitglieder der beiden Exekutiven, der der Arbeiter und Soldaten und der der Bauern, sich zwischen zwei gleich fruchtlosen Sitzungen abmarterten, drang in ihre Mitte ein geheimnisvolles Gerücht: man habe Belege über Lenins Verbindung mit dem deutschen Generalstab aufgefunden; morgen würden die Zeitungen die enthüllenden Dokumente veröffentlichen. Die finsteren Auguren vom Präsidium, die den Saal auf dem Wege hinter die Kulissen durchqueren, wo unaufhörlich Beratungen stattfinden, beantworten unwillig und ausweichend die Fragen sogar ihnen befreundeter Personen. Über das Taurische Palais, das vom außenstehenden Publikum fast verlassen ist, legt sich ein Schauer. Lenin im Dienste des deutschen Generalstabs? Zweifel, Schrecken, Schadenfreude führen die Deputierten zu erregten Gruppen zusammen. „Selbstverständlich“, erinnert sich Suchanow, der in den Julitagen den Bolschewiki sehr feindlich gegenüberstand, „zweifelte von den der Revolution wirklich verbundenen Menschen niemand auch nur einen Augenblick an der Unsinnigkeit dieser Gerüchte.“ Doch Menschen mit revolutionärer Vergangenheit bildeten unter den Mitgliedern des Exekutivkomitees eine unbedeutende Minderheit. Märzrevolutionäre, zufällige Elemente, von der ersten Welle erfaßt, überwogen sogar in den leitenden Sowjetorganen. Unter den Provinzlern, Dorfschreibern, Krämern, Amtsvorstehern stieß man auf Deputierte mit unverkennbarem Geruch nach Schwarzhunderttum. Die sind zuallererst aufgeknöpft: sie haben das vorausgesehen, so war’s auch zu erwarten!
Erschreckt durch die überraschende und allzu jähe Wendung der Sache, suchten die Führer Zeit zu gewinnen. Tschcheidse und Zeretelli empfahlen telephonisch den Zeitungsredaktionen, von der Veröffentlichung der sensationellen Enthüllungen, weil „ungeprüft“, abzusehen. Die Redaktionen wagten nicht, gegen eine aus dem Taurischen Palais kommende „Bitte“ zu verstoßen; alle, außer einer: das kleine gelbe Blatt eines der Söhne Suworins. des gewichtigen Verlegers der Nowoje Wremja, servierte am nächsten Morgen seinen Lesern das offiziös klingende Dokument über den Empfang von Direktiven und Geld der deutschen Regierung durch Lenin. Das Verbot war durchbrochen, und tags darauf war die gesamte Presse von dieser Sensation voll. So setzte die unglaublichste Episode des an Ereignissen reichen Jahres ein: Führer einer revolutionären Partei, deren Leben jahrzehntelang im Kampf mit gekrönten und ungekrönten Herrschern verlaufen war, wurden vor dem ganzen Lande und der ganzen Welt als gemietete Agenten der Hohenzollern hingestellt. Eine Verleumdung von nie dagewesenem Maßstabe wurde in die Tiefe der Volksmassen geschleudert, die in ihrer überwiegenden Mehrheit zum erstenmal nach der Februarrevolution die Namen der bolschewistischen Führer vernahmen. Die Intrige wurde zum erstrangigen politischen Faktor. Das macht eine aufmerksamere Untersuchung ihrer Mechanik notwendig.
Das sensationelle Dokument hatte zu seiner Urquelle die Aussagen eines gewissen Jermolenko. Die Physiognomie dieses Helden wird durch die offiziellen Angaben erschöpft: in der Periode nach dem Japanischen Krieg bis 1913 Agent der Konterspionage; 1913 im Range eines Fähnrichs entlassen aus nicht festzustellenden Gründen; im Jahre 1914 zur aktiven Armee eingezogen; geriet ruhmreich in Gefangenschaft und beschäftigte sich mit polizeilicher Überwachung der Kriegsgefangenen. Doch entspricht das Regime des Konzentrationslagers nicht dem Geschmack des Spitzels, und er tritt „auf Drängen der Kameraden“ – das sind seine Angaben – in Dienst der Deutschen, selbstverständlich zu patriotischen Zwecken. In seinem Leben begann ein neues Kapitel. Am 25. April wurde der Fähnrich von den deutschen Militärbehörden über die russische Front „geworfen“ zum Zwecke, Brücken zu sprengen, Spionageberichte zu liefern, für die Unabhängigkeit der Ukraine zu kämpfen und für den Separatfrieden zu agitieren. Deutsche Offiziere, die Hauptleute Schidizki und Libers, die Jermolenko für diese Zwecke verpflichtet hatten, berichteten ihm darüber hinaus, so nebenbei, ohne jegliche praktische Notwendigkeit, offenbar nur zur Stärkung seines Mutes, außer dem Fähnrich werde in der gleichen Richtung in Rußland noch ... Lenin arbeiten. Das ist das Fundament der ganzen Sache.
Was oder wer gab Jermolenko seine Aussagen über Lenin ein? Deutsche Offiziere jedenfalls nicht. Eine einfache Gegenüberstellung von Daten und Tatsachen führt uns in das geistige Laboratorium des Fähnrichs ein. Am 4. April veröffentlichte Lenin seine berühmten Thesen, die eine Kriegserklärung an das Februarregime bedeuteten. Am 20. bis 21. fand die bewaffnete Demonstration gegen die Verlängerung des Krieges statt. Die Hetze gegen Lenin nahm den Charakter eines Orkans an. Am 25. wurde Jermolenko über die russische Front „geworfen“ und kam in der ersten Maihälfte in Führung mit der russischen Spionage beim Hauptquartier. Die zweideutigen Zeitungsartikel, die nachwiesen, Lenins Politik nütze dem „Kaiser“, führten zu dem Gedanken, Lenin sei deutscher Agent. An der Front genierten sich die Offiziere und Kommissare im Kampfe mit dem unüberwindlichen „Bolschewismus“ der Soldaten noch weniger bei der Wahl ihrer Äußerungen, wenn die Rede auf Lenin kam. Jermolenko tauchte sogleich in diesem Strome unter. Ob er selbst den bei den Haaren herbeigezogenen Satz über Lenin ausgedacht hat, ob ihn irgendein Inspirator ihm vertraulich zugeflüstert oder ihn die Beamten der Konterspionage mit Jermolenko zusammen verfertigt haben – ist ohne große Bedeutung. Die Nachfrage nach Verleumdungen gegen die Bolschewiki erreichte eine solche Spannung, daß das Angebot nicht ausbleiben konnte. Der Generalstabschef Denikin, der spätere Generalissimus der Weißen im Bürgerkriege, der sich selbst nicht sehr über den Horizont der Agenten der zaristischen Konterspionage erhob, verlieh oder tat, als verleihe er, Jermolenkos Angaben große Bedeutung und übermittelte sie mit einem entsprechenden Brief am 16. Mai dem Kriegsminister. Kerenski besprach sich, wie anzunehmen ist, mit Zeretelli und Tschcheidse, die nicht umhin konnten, seinen edlen Eifer etwas zu hemmen; das erklärt offenbar, weshalb die Angelegenheit nicht weiter verfolgt wurde. Kerenski schrieb später, wenn auch Jermolenko auf Lenins Verbindung mit dem deutschen Generalstab hingewiesen habe, so doch „nicht mit ausreichender Bestimmtheit“. Der Bericht Jermolenko-Denikin blieb anderthalb Monate im Verborgenen liegen. Die Konterspionage entließ Jermolenko aus Mangel an Beschäftigung, und der Fähnrich machte sich nach dem Fernen Osten davon, das aus zweierlei Quellen erhaltene Geld zu vertrinken.
Die Ereignisse der Julitage, die die drohende Gefahr des Bolschewismus in ihrer ganzen Größe gezeigt hatten, zwangen jedoch, sich der Enthüllungen Jermolenkos zu erinnern. Er wurde eiligst aus Blagowestschensk herbeigerufen, konnte aber infolge mangelnder Einbildungskraft, trotz allen Ermunterungen, seinen ursprünglichen Angaben kein Wort hinzufügen. Zu dieser Zeit arbeiteten indes Justiz und Konterspionage bereits mit Volldampf. Über eventuelle verbrecherische Verbindungen der Bolschewiki wurden Politiker, Generale, Gendarmen, Kaufleute und eine Menge Personen verschiedenster Berufe vernommen. Die soliden zaristischen Gendarmen verhielten sich bei diesen Untersuchungen bedeutend vorsichtiger als die nagelneuen Vertreter der demokratischen Justiz! „Über Berichte“, schrieb der ehemalige Chef der Petrograder Ochrana, der würdige General Globatschew, „wonach Lenin in Rußland zu dessen Schaden und für deutsches Geld gearbeitet habe, verfügte die Ochrana, mindestens während meiner Dienstzeit, nicht.“ Ein anderer Geheimpolizist, Jakubow, der Chef der Konterspionageabteilung des Petrograder Militärbezirkes, sagte aus: „Mir ist über Verbindungen Lenins und seiner Gesinnungsgenossen mit dem deutschen Generalstab nichts bekannt, auch weiß ich nichts über die Geldmittel, die Lenin zur Verfügung standen.“ Aus den Organen der zaristischen Geheimpolizei, die den Bolschewismus von seinen ersten Anfängen an überwacht hatten, war nichts Nützliches herauszupressen.
Indes, wenn Menschen, besonders mit der Regierungsmacht bewaffnete, lange suchen, finden sie schließlich doch etwas. Irgendein S. Burstein, seinem offiziellen Stande nach Kaufmann, öffnete der Provisorischen Regierung die Augen über die „deutsche Spionageorganisation in Stockholm, mit Parvus an der Spitze“, dem bekannten deutschen Sozialdemokraten russischer Herkunft. Nach Bursteins Angaben stand Lenin durch die polnischen Revolutionäre Ganetzki und Koslowski mit dieser Organisation in Verbindung. Kerenski schrieb später: „Sehr ernsthafte Angaben, aber leider nicht vom Gericht, sondern von Geheimagenten herrührend, sollten mit der Ankunft Ganetzkis in Rußland, der an der Grenze zu verhaften war, eine völlig unwiderlegbare Bestätigung erhalten und sich in ein zuverlässiges Gerichtsmaterial gegen den bolschewistischen Stab verwandeln.“ Kerenski wußte im voraus, was sich in was zu verwandeln hatte.
Die Angaben des Kaufmanns Burstein betrafen geschäftliche Operationen Ganetzkis und Koslowskis zwischen Petrograd und Stockholm. Dieses Geschäft zur Kriegszeit, das sich wahrscheinlich bei der Korrespondenz einer Decksprache bediente, hatte keine Beziehung zur Politik. Die bolschewistische Partei hatte keine Beziehung zu diesen Geschäften. Lenin und Trotzki hatten Parvus, der gute Geschäfte mit schlechter Politik zu verbinden verstand, öffentlich entlarvt und die russischen Revolutionäre aufgefordert, alle Beziehungen zu ihm abzubrechen. Wer hatte aber die Möglichkeit, im Strudel der Ereignisse sich in alledem zurechtzufinden? Eine Spionageorganisation in Stockholm – das klang einleuchtend. Und das Licht, erfolglos angezündet von der Hand des Fähnrichs Jermolenko, entbrannte vom anderen Ende. Zwar stieß man auch hier auf Schwierigkeiten. Der Chef der Konterspionageabteilung des Generalstabs, Fürst Turkestanow, antwortete auf die Anfrage des Untersuchungsrichters für besonders wichtige Angelegenheiten, Alexandrow, daß „S. Burstein eine Person ist, die keinerlei Vertrauen verdient. Burstein stellte den Typus des dunklen Geschäftemachers dar, dem nichts zu schmutzig ist.“ Aber konnte der schlechte Ruf Bursteins den Versuch vereiteln, Lenins Ruf zu verderben? Nein, Kerenski schwankte nicht, Bursteins Aussagen als „sehr ernsthaft“ zu bezeichnen. Die Untersuchung folgte nunmehr den Stockholmer Spuren. Die Enthüllungen des Fähnrichs, der zwei Stäben diente, und des dunklen Geschäftemachers, der „kein Vertrauen verdient“, bildeten das Fundament der allerphantastischsten Beschuldigung gegen eine revolutionäre Partei, die das Hundertsechzigmillionen-Volk an die Macht zu stellen sich anschickte.
Auf welche Weise war indes das Material der Voruntersuchung in die Presse gelangt, dabei gerade in dem Augenblick, wo die zusammengebrochene Offensive Kerenskis an der Front in eine Katastrophe umzuschlagen begann, die Julidemonstration in Petrograd aber das unaufhaltsame Anwachsen der Bolschewiki offenbarte? Einer der Initiatoren des Unternehmens, Staatsanwalt Bessarabow, erzählte später in der Presse offen: als es sich herausstellte, daß die Provisorische Regierung über keinerlei zuverlässige bewaffnete Macht in Petrograd verfügte, wurde im Bezirksstab beschlossen, zu versuchen, mit Hilfe eines stark wirkenden Mittels in den Regimentern einen psychologischen Umschwung hervorzurufen. „Vertretern des Preobraschenski-Regiments, das dem Stabe am nächsten stand, wurde der Inhalt der Dokumente mitgeteilt; die Anwesenden konnten sich überzeugen, welch erschütternden Eindruck diese Mitteilung machte. Von diesem Moment an war es klar, über welch mächtige Waffe die Regierung verfügte.“ Nach einer so gelungenen experimentalen Prüfung eilten die Verschwörer aus Justiz, Stab und Konterspionage, von ihrer Entdeckung den Justizminister in Kenntnis zu setzen. Perewersew antwortete, eine offizielle Mitteilung könne nicht gemacht werden, doch würden seitens der Mitglieder der Provisorischen Regierung „der privaten Initiative keine Hindernisse bereitet werden“. Man hatte nicht ohne Grund erkannt, daß Namen von Stabs- oder Gerichtsbeamten den Interessen der Sache nicht entsprachen: um die sensationelle Verleumdung in Umlauf zu setzen, brauchte man einen „Politiker“. Im Wege der privaten Initiative fanden die Verschwörer mühelos gerade die Person, deren sie bedurften. Ehemaliger Revolutionär, Deputierter der Zweiten Duma, lärmender Redner und leidenschaftlicher Intrigant, hatte Alexinski sich eine Zeitlang auf dem äußersten linken Flügel der Bolschewiki befunden. Lenin war in seinen Augen ein unverbesserlicher Opportunist. In den Jahren der Reaktion hatte Alexinski eine, ultralinke Sondergruppierung geschaffen, an deren Spitze er sich bis zum Kriege in der Emigration hielt, um mit dessen Beginn eine ultrapatriotische Position zu beziehen und sogleich zu seiner Spezialität zu machen, alle und jeden als Mietling des deutschen Kaisers zu entlarven. Auf diesem Gebiete entfaltete er in Paris eine umfangreiche Spitzeltätigkeit im Bunde mit russischen und französischen Patrioten von gleichem Typ. Die Pariser Gesellschaft der ausländischen Journalisten, das heißt Korrespondenten der alliierten und neutralen Länder – sehr patriotisch und durchaus nicht rigoros –, sah sich gezwungen, durch besonderen Beschluß Alexinski für einen „ehrlosen Verleumder“ zu erklären und aus ihrer Mitte zu weisen. Mit diesem Zeugnis nach der Februarumwälzung in Petrograd angekommen, versuchte Alexinski als ehemaliger Linker in das Exekutivkomitee einzudringen. Trotz all ihrer Nachsicht machten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre durch einen Beschluß vom 11. April vor ihm die Türe zu und gaben ihm anheim, vorerst seine Ehre wiederherzustellen. Das war leicht gesagt! In Erwägung, andere zu verleumden sei weitaus erreichbarer, als sich selbst zu rehabilitieren, setzte sich Alexinski mit der Konterspionage in Verbindung und sicherte seinen Intrigeninstinkten staatliches Ausmaß. Schon in der zweiten Julihälfte begann er in die Kreise seiner Verleumdung auch die Menschewiki einzubeziehen. Deren Führer Dan trat aus seiner abwartenden Haltung heraus und veröffentlichte im offiziellen Sowjetorgan Iswestja (am 22. Juli) ein Protestschreiben: „... Es ist Zeit, den Heldentaten eines Menschen ein Ende zu setzen, der offiziell als ehrloser Verleumder erklärt wurde.“ Ist es nicht verständlich, daß die Themis, die Jermolenko und Burstein inspiriert hatte, keinen besseren Vermittler zwischen sich und der öffentlichen Meinung finden konnte als Alexinski? Seine Unterschrift zierte nun das Enthüllungsdokument.
Hinter den Kulissen protestierten die Minister-Sozialisten, wie übrigens auch zwei bürgerliche Minister, Nekrassow und Tereschtschenko, gegen die Auslieferung des Dokuments an die Presse. Am Tage der Veröffentlichung, am 5. Juli, war Perewersew, den die Regierung schon vorher gerne hatte loswerden wollen, zu demissionieren gezwungen. Die Menschewiki deuteten an, daß es ihr Sieg sei. Kerenski behauptete später, der Minister sei entfernt worden wegen übermäßiger Voreiligkeit bei den Enthüllungen, die den Gang der Untersuchung gestört hätten. Wenn nicht mit seinem Verweilen an der Macht, so hat Perewersew jedenfalls mit seinem Verschwinden alle befriedigt.
Am gleichen Tage erschien in der Sitzung des Büros des Exekutivkomitees Sinowjew und forderte im Namen des Zentralkomitees der Bolschewiki, unverzüglich Maßnahmen zu treffen zur Rehabilitierung Lenins und zur Vorbeugung eventueller Verleumdung. Das Büro konnte die Einsetzung einer Untersuchungskommission nicht verweigern. Suchanow schreibt: „Die Kommission selbst begriff, daß hierbei nicht die Frage des Verkaufs Rußlands durch Lenin zu untersuchen war, sondern nur die Quellen der Verleumdung.“ Doch stieß die Kommission mit der eifersüchtigen Rivalität der Justiz- und Konterspionage zusammen, die allen Grund hatten, fremde Einmischung in ihr Handwerk nicht zu wünschen. Allerdings waren die Sowjetorgane bisher stets mit den Regierungsstellen mühelos fertiggeworden, wenn sie die Notwendigkeit hierzu verspürten. Die Julitage jedoch hatten eine ernstliche Verschiebung der Macht nach rechts vollbracht; außerdem eilte die Sowjetkommission nicht im geringsten, eine Aufgabe zu lösen, die den politischen Interessen ihrer Vertrauensleute offensichtlich widersprach. Die ernsthafteren von den Versöhnlerführern, eigentlich nur die Menschewiki, trugen Sorge, ihr formelles Unbeteiligtsein an der Verleumdung sicherzustellen, aber auch nicht mehr. In allen Fällen, wo einer direkten Antwort nicht auszuweichen war, grenzten sie sich mit einigen Worten von den Verleumdern ab; doch rührten sie keinen Finger, den vergifteten Dolch abzuwenden, der über dem Haupt der Bolschewiki schwebte. Ein populäres Beispiel solcher Politik gab einst der römische Prokonsul Pilatus. Konnten sie denn auch anders handeln, ohne sich untreu zu werden? Nur die Verleumdung gegen Lenin hat in den Julitagen einen Teil der Garnison von den Bolschewiki abgestoßen. Würden die Versöhnler einen Kampf gegen die Verleumdung aufgenommen haben, das Bataillon des Ismajlowski-Regiments hätte, wie anzunehmen ist, den Gesang der Marseillaise zu Ehren des Exekutivkomitees abgebrochen und wäre in die Kasernen, wenn nicht zum Kschessinskaja-Palais zurückgekehrt.
In Übereinstimmung mit der Gesamtlinie der Menschewiki hielt es Innenminister Zeretelli, der die Verantwortung für die bald darauf erfolgten Verhaftungen der Bolschewiki übernahm, für nötig, allerdings unter dem Druck der bolschewistischen Fraktion, in der Sitzung des Exekutivkomitees zu erklären, er persönlich verdächtige die bolschewistischen Führer der Spionage nicht, beschuldige sie aber der Verschwörung und des bewaffneten Aufstandes. Als am 13. Juli Liber eine Resolution einbrachte, die die bolschewistische Partei eigentlich außer Gesetz stellte, fand er den Vorbehalt notwendig: „Ich selbst halte die gegen Lenin und Sinowjew gerichtete Beschuldigung für völlig unbegründet.“ Erklärungen solcher Art nahmen alle schweigend und finster auf: den Bolschewiki erschienen sie würdelos ausweichend, den Patrioten überflüssig, da unvorteilhaft.
Bei seinem Auftreten in der Vereinigten Sitzung beider Exekutivkomitees am I7. sagte Trotzki: „Es wird eine unerträgliche Atmosphäre geschaffen, in der ihr ebenso ersticken werdet wie wir. Man schleudert schmutzige Beschuldigungen gegen Lenin und Sinowjew.“ (Eine Stimme: „Mit Recht.“ Lärm. Trotzki fährt fort:) „Es gibt hier im Saale, wie sich herausstellt, Menschen, die mit den Beschuldigungen sympathisieren. Hier gibt es Menschen, die sich an die Revolution nur herangeschmiert haben.“ (Lärm. Die Glocke des Vorsitzenden braucht lange zur Wiederherstellung der Ruhe.) „... Lenin hat für die Revolution dreißig Jahre gekämpft. Ich kämpfe zwanzig Jahre gegen die Unterdrückung der Volksmassen. Und wir können nur Haß gegen den deutschen Militarismus hegen ... Auf diesem Gebiet gegen uns einen Verdacht aussprechen kann nur jemand, der nicht weiß, was ein Revolutionär ist. Ich war vom deutschen Gericht zu acht Monaten Gefängnis verurteilt für den Kampf gegen den deutschen Militarismus ... und das wissen alle. Erlaubt keinem hier in diesem Saale auszusprechen, daß wir Mietlinge Deutschlands seien, denn dies ist nicht die Stimme überzeugter Revolutionäre, sondern die Stimme der Niedertracht.“ (Beifall.) So ist die Episode in der antibolschewistischen Presse jener Zeit dargestellt, – die bolschewistische war bereits verboten. Es muß jedoch erklärt werden, daß der Beifall nur aus dem kleinen linken Sektor kam; ein Teil der Deputierten brüllte haßerfüllt, die Mehrheit schwieg sich aus. Doch niemand, auch nicht einer von den offenen Agenten Kerenskis, bestieg die Tribüne, um die offizielle Version der Beschuldigung zu unterstützen oder auch nur indirekt zu decken.
In Moskau, wo der Kampf zwischen Bolschewiki und Versöhnlern überhaupt milderen Charakter trug, um im Oktober um so erbittertere Formen anzunehmen, verfügte am 10. Juli die Vereinigte Sitzung beider Sowjets, der Arbeiter und der Soldaten, „einen Aufruf herauszugeben und anzuschlagen, in dem darauf verwiesen wird, daß die Beschuldigung der Spionage gegen die Fraktion der Bolschewiki Verleumdung und Intrige der Konterrevolution ist“. Der Petrograder Sowjet, von den Regierungskombinationen unmittelbarer abhängig, unternahm keinerlei Schritte, sondern wartete das Resultat der Untersuchungskommission ab, die indes nicht an die Arbeit heranging.
Am 5. Juli stellte Lenin in einem Gespräch mit Trotzki die Frage: „Werden sie uns nicht einen nach dem anderen abschießen?“ Nur mit solchen Absichten war ja überhaupt der offiziöse Stempel auf der ungeheuerlichen Verleumdung zu erklären. Lenin hielt die Feinde für fähig, die von ihnen angezettelte Sache bis zu Ende zu führen, und kam zu der Schlußfolgerung: sich ihnen nicht in die Hände geben. Am 6. abends traf von der Front Kerenski ein, vollgepfropft von Eingebungen der Generale, und verlangte entschiedene Maßnahmen gegen die Bolschewiki. Etwa um 2 Uhr nachts beschloß die Regierung, alle Führer des „bewaffneten Aufstandes“ zur Verantwortung zu ziehen und die Regimenter, die an der Meuterei teilgenommen, aufzulösen. Das Militärdetachement, das in die Wohnung Lenins geschickt wurde, eine Haussuchung und die Verhaftung vorzunehmen, mußte sich mit der Haussuchung begnügen, da der Wohnungsinhaber bereits nicht mehr zu Hause war. Lenin hielt sich noch in Petrograd auf, verbarg sich aber in einer Arbeiterwohnung und verlangte, daß die Untersuchungskommission des Sowjets ihn und Sinowjew unter Bedingungen vernehme, die eine Falle seitens der Konterrevolution ausschlössen. In einer an die Kommission gerichteten Erklärung schrieben Lenin und Sinowjew: „Morgens [Freitag, den 7. Juli] wurde Kamenjew von der Duma aus mitgeteilt, die Kommission werde heute um 12 Uhr in die verabredete Wohnung kommen. Wir schreiben diese Zeilen um 6½ Uhr abends des 7. Juli und stellen fest, daß die Kommission bis jetzt nicht erschienen ist und nichts von sich hat hören lassen ... Die Verantwortung für die Verzögerung der Vernehmung fällt nicht auf uns.“ Das Ausweichen der Sowjetkommission vor der versprochenen Untersuchung überzeugte Lenin endgültig davon, daß die Versöhnler ihre Hände in Unschuld wuschen und die Abrechnung den Weißgardisten überließen. Offiziere und Junker, die inzwischen Zeit gefunden hatten, die Parteidruckerei zu demolieren, verprügelten und verhafteten in den Straßen jeden, der gegen die Beschuldigung protestierte, die Bolschewiki seien Spione. Da beschloß Lenin endgültig, sich zu verbergen, nicht vor der Untersuchung, sondern vor der möglichen Abrechnung.
Am 15. gaben Lenin und Sinowjew in der Kronstädter bolschewistischen Zeitung, die zu verbieten die Behörden nicht gewagt hatten, eine Erklärung ab, weshalb sie es nicht für angängig hielten, sich den Händen der Behörden auszuliefern: „Aus dem in der Sonntagnummer der Zeitung Nowoje Wremja veröffentlichten Brief des früheren Justizministers Perewersew geht ganz klar hervor, daß die „Sache“ gegen Lenin und Genossen wegen Spionage völlig überlegt, von der Partei der Konterrevolution angezettelt ist. Perewersew gesteht ganz offen, daß er ungeprüfte Beschuldigungen in Umlauf gebracht hat, um die Wut (wörtlicher Ausdruck) der Soldaten gegen unsere Partei auszulösen. Das gesteht der gestrige Justizminister! ... In Rußland gibt es zur Zeit keinerlei Rechtsgarantien. Sich den Händen der Behörden ausliefern, hieße sich den Händen der Miljukow, Alexinski, Perewersew, den Händen wutschnaubender Konterrevolutionäre ausliefern, für die alle Beschuldigungen gegen uns nur eine einfache Episode im Bürgerkriege sind.“ Um heute den Sinn der Worte von der „Episode“ im Bürgerkriege zu erfassen, genügt es, an das Schicksal Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs zu erinnern. Lenin vermochte vorauszusehen.
Während die Agitatoren des feindlichen Lagers in allen Tonarten erzählten, Lenin sei, bald auf einem Torpedoboot, bald auf einem Unterseeboot, nach Deutschland geflüchtet, beeilte sich die Mehrheit des Exekutivkomitees, Lenin wegen seines Ausweichens vor der Untersuchung zu verurteilen. Indem sie die Frage des politischen Sinns der Pogromstimmung umgingen, in der und derentwegen die Beschuldigung erhoben worden war, traten die Versöhnler als Verfechter der reinen Gerechtigkeit auf. Das war die am wenigsten ungünstige von allen Positionen, die ihnen noch übriggeblieben waren. Die Resolution des Exekutivkomitees vom 13. Juli bezeichnete die Haltung von Lenin und Sinowjew nicht nur als „ganz unzulässig“, sondern forderte auch von der bolschewistischen Fraktion „die unverzügliche, kategorische und klare Verurteilung“ ihrer Führer. Die Fraktion lehnte einmütig die Forderung des Exekutivkomitees ab. Indes gab es bei den Bolschewiki, mindestens bei den Spitzen, Schwankungen wegen Lenins Ausweichen vor der Untersuchung. Bei den Versöhnlern, auch den allerlinksten, rief Lenins Verschwinden einmütige Entrüstung hervor, nicht immer heuchlerische, wie Suchanows Beispiel zeigt. Der verleumderische Charakter des Materials der Konterspionage hatte bei ihm, wie wir wissen, von Anfang an außer Zweifel gestanden. „Die sinnlose Beschuldigung“, schrieb er, „verflüchtigte sich wie Dunst. Durch nichts und von niemand wurde sie bestätigt, und man hörte auf, ihr zu glauben.“ Doch für Suchanow blieb es ein Rätsel, wie Lenin sich hatte entschließen können, der Untersuchung auszuweichen. „Das war etwas ganz Außerordentliches, Beispielloses, Unbegreifliches. Jeder gewöhnliche Sterbliche hätte unter den ungünstigsten Bedingungen Gericht und Untersuchung verlangt.“ Ja, jeder gewöhnliche Sterbliche. Aber ein gewöhnlicher Sterblicher hätte auch nicht Gegenstand wildesten Hasses der regierenden Klassen werden können. Lenin war kein gewöhnlicher Sterblicher und vergaß keine Minute die auf ihm lastende Verantwortung. Er wußte aus der Lage alle Schlußfolgerungen zu ziehen und die Schwankungen der „öffentlichen Meinung“ zu ignorieren, im Namen der Aufgaben, denen sein Leben untergeordnet war. Donquichotterie und Pose waren ihm in gleicher Weise fremd.
Zusammen mit Sinowjew verbrachte Lenin einige Wochen in der Umgebung Petrograds; nahe bei Sestroretzk, im Walde in einem Heuschober, mußten sie übernachten und vor Regen Schutz suchen. Als Heizer verkleidet, passierte Lenin auf einer Lokomotive die finnländische Grenze und hielt sich in der Wohnung des Helsingforser Polizeimeisters, eines früheren Petrograder Arbeiters, verborgen; später übersiedelte er näher an die russische Grenze nach Wyborg. Seit Ende September lebte er illegal in Petrograd, um am Tage des Aufstandes, nach fast viermonatiger Abwesenheit, in der offenen Arena zu erscheinen.
Der Juli gestaltete sich zu einem Monat ausschweifender, schamloser und triumphierender Verleumdung; im August schon begann sie sich zu verflüchtigen. Genau einen Monat, nachdem die Verleumdung in Umlauf gesetzt worden war, hielt der sich treue Zeretelli es für nötig, in der Sitzung des Exekutivkomitees zu wiederholen: „Ich habe gleich am Tage nach den Verhaftungen auf die Anfrage der Bolschewiki öffentlich Antwort gegeben und gesagt: die der Anstiftung zum Aufstands vom 3. bis 5. Juli angeklagten Führer der Bolschewiki verdächtige ich der Verbindung mit dem deutschen Generalstab nicht.“ Weniger konnte man nicht sagen. Mehr zu sagen war unvorteilhaft. Die Presse der Versöhnlerparteien ging über Zeretellis Worte nicht hinaus. Da sie aber gleichzeitig erbittert die Bolschewiki als Helfershelfer des deutschen Militarismus entlarvte, so verschmolz die Stimme der Versöhnlerzeitungen politisch mit dem Geheul der übrigen Presse, die von den Bolschewiki nicht als „Helfershelfern“ Ludendorffs, sondern als dessen Mietlingen sprach. Die höchsten Töne in diesem Chor kamen von den Kadetten. Russkije Wedomosti, das Blatt der liberalen Moskauer Professoren, berichtete, bei der Haussuchung in der Redaktion der Prawda sei angeblich ein deutscher Brief gefunden worden, in dem ein Baron aus Haparanda „das Vorgehen der Bolschewiki begrüßt“, und „die Freude, die es in Berlin hervorrufen wird“, voraussieht. Der deutsche Baron von der finnländischen Grenze wußte gut, welche Briefe die russischen Patrioten benötigten. Von solchen Berichten war die Presse der gebildeten Gesellschaft voll, die sich gegen die bolschewistische Barbarei verteidigte.
Glaubten die Professoren und Advokaten ihren eigenen Worten? Dies anzunehmen, mindestens was die wichtigsten Führer betrifft, hieße, ihre politische Urteilskraft gar zu niedrig einschätzen. Wenn nicht prinzipielle und psychologische, so mußten allein schon sachliche Erwägungen ihnen die Sinnlosigkeit der Beschuldigung beweisen, – und vor allem finanzielle Erwägungen. Die deutsche Regierung hätte doch sicher den Bolschewiki nicht mit Ideen, sondern mit Geld helfen können. Aber gerade Geld hatten die Bolschewiki nicht. Das ausländische Zentrum der Partei kämpfte während des Krieges mit der bittersten Not, hundert Franken waren eine Riesensumme, das Zentralorgan erschien einmal im Monat oder gar in zwei Monaten, und Lenin zählte sorgfältig die Zeilen, um das Budget nicht zu überschreiten. Die Ausgaben der Petrograder Organisation in den Kriegsjahren belaufen sich auf wenige tausend Rubel, die hauptsächlich für den Druck illegaler Flugblätter verwandt wurden: während zweieinhalb Jahren sind in Petrograd insgesamt nur dreihunderttausend Exemplare erschienen. Nach der Umwälzung war der Zustrom von Mitgliedern und Mitteln natürlich sehr gewachsen. Die Arbeiter machten mit großer Bereitwilligkeit Lohnabzüge für den Sowjet und die Sowjetparteien. „Spenden, allerhand Beiträge, Sammlungen und Abzüge zugunsten des Sowjets“, berichtete auf dem ersten Sowjetkongreß der Advokat Bramson, ein Trudowik, „gingen gleich am ersten Tage nach unserer Revolution ein ... Man konnte das äußerst rührende Bild einer ununterbrochenen Wallfahrt mit diesen Spenden zu uns ins Taurische Palais vom frühen Morgen bis zum späten Abend beobachten.“ Je weiter, um so bereitwilliger machten die Arbeiter Lohnabzüge zugunsten der Bolschewiki. Jedoch war die Prawda trotz dem schnellen Anwachsen der Partei und der Geldeingänge dem Umfang nach die kleinste von allen Parteizeitungen. Bald nach seiner Ankunft in Rußland schrieb Lenin an Radek nach Stockholm: „Schreiben Sie Artikel für die Prawda über Außenpolitik, das Allerkürzeste, im Geist der Prawda (wenig, wenig Raum, plagen uns mit Erweiterungen ab).“ Trotz dem von Lenin durchgeführten spartanischen Sparregime kam die Partei aus der Not nicht heraus. Die Zuweisung von zwei- bis dreitausend Kriegsrubeln an eine Lokalorganisation bildete jedesmal ein ernstes Problem für das Zentralkomitee. Für den Versand der Zeitungen an die Front mußte man immer neue und neue Sammlungen unter der Arbeiterschaft veranstalten. Und doch erreichten die bolschewistischen Zeitungen die Schützengräben in viel geringerer Anzahl als die Zeitungen der Versöhnler und Liberalen. Klagen darüber kamen dauernd. „Wir leben nur von Gerüchten über eure Zeitung“, schrieben Soldaten. Im April hatte die Stadtkonferenz der Partei die Arbeiter Petrograds aufgerufen, in drei Tagen die fehlenden 75.000 Rubel für den Kauf einer Druckerei zu sammeln. Diese Summe kam mit Überschuß ein, und die Partei erwarb endlich eine eigene Druckerei, jene, die die Junker dann im Juli bis auf den Grund demolierten. Der Einfluß der bolschewistischen Parolen wuchs wie ein Steppenbrand. Doch blieben die materiellen Propagandamittel sehr kärglich. Das persönliche Leben der Bolschewiki gab noch weniger Anhaltspunkte zur Verleumdung. Was blieb da? Nichts letzten Endes als Lenins Reise durch Deutschland. Doch gerade diese Tatsache, die vor unerfahrenen Auditorien am häufigsten als Beweis für Lenins Freundschaft mit der deutschen Regierung in den Vordergrund gestellt wurde, bewies in Wirklichkeit das Gegenteil: ein Agent würde durch das feindliche Land geheim und voller Sicherheit gefahren sein; offen die Gesetze des Patriotismus im Krieg verletzen, dazu konnte sich nur ein seiner selbst völlig sicherer Revolutionär entschließen.
Das Justizministerium machte jedoch vor der Erfüllung der undankbaren Aufgabe nicht halt: nicht umsonst hatte es von der Vergangenheit Kader geerbt, die erzogen waren in der letzten Periode des Selbstherrschertums, als die Morde an liberalen Deputierten, von Schwarzhundert verübt, die dem ganzen Lande namentlich bekannt waren, systematisch unaufgedeckt blieben, während ein jüdischer Handlungsgehilfe aus Kiew beschuldigt wurde, Blut eines Christenknabens gebraucht zu haben. Unterzeichnet vom Untersuchungsrichter für besonders wichtige Angelegenheiten, Alexandrow, und dem Staatsanwalt des Obersten Gerichtshofes, Karinski, wurde am 21. Juli die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens wegen Hochverrates gegen Lenin, Sinowjew, Kollontay und eine Reihe anderer Personen, darunter der deutsche Sozialdemokrat Helphand (Parvus), bekanntgegeben. Die gleichen Artikel des Strafgesetzbuchs 51, 10 und 108 dehnte man dann auf Trotzki und Lunatscharski aus, die am 23. Juli durch Militärabteilungen verhaftet wurden. Nach dem Text des Eröffnungsbeschlusses waren die Führer der Bolschewiki „als russische Bürger nach vorheriger Verabredung untereinander und mit anderen Personen zum Zwecke der Unterstützung von mit Rußland in feindlichen Handlungen befindlichen Staaten mit Agenten der genannten Staaten übereingekommen, an der Desorganisierung der russischen Armee und des Hinterlandes zur Schwächung der Kampffähigkeit der Armee mitzuwirken. Zu welchem Zwecke sie mit den von diesen Staaten erhaltenen Geldmitteln unter Bevölkerung und Truppen eine Propaganda mit der Aufforderung zur sofortigen Verweigerung von Kriegshandlungen gegen den Feind organisierten; mit den gleichen Absichten organisierten sie in der Zeit vom 3. bis 5. Juli 1917 in Petrograd einen bewaffneten Aufstand!“ Obwohl jeder des Lesens kundige Mensch mindestens in der Hauptstadt in jenen Tagen wußte, unter welchen Umständen Trotzki aus New York über Christiania und Stockholm nach Petrograd gekommen war, legte auch ihm der Untersuchungsrichter die Reise durch Deutschland zur Last. Die Justiz wollte offenbar keinen Zweifel übriglassen an der Solidität jenes Materials, das ihr die Konterspionage zur Verfügung gestellt hatte.
Diese Institution ist nirgendwo eine Pflanzstätte der Moral. In Rußland indes bildete die Konterspionage die Kloake des Rasputinschen Regimes. Der Auswurf des Offizierstandes, der Polizei, Gendarmerie, davongejagte Agenten der Ochrana – das waren die Kader dieser talentlosen, niederträchtigen und allmächtigen Institution. Oberste, Hauptleute und Fähnriche, untauglich zu kriegerischen Heldentaten, bezogen in ihr Ressort alle Zweige des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens ein, indem sie im ganzen Lande ein System des Konterspionage-Feudalismus errichteten. „Die Lage wurde direkt katastrophal“, klagt der ehemalige Polizeidirektor Kurlow, „als an den Angelegenheiten der Zivilverwaltung die berühmt gewordene Konterspionage teilzunehmen begann.“ Kurlow selbst hatte nicht wenig dunkle Angelegenheiten auf dem Kerbholz, darunter auch die indirekte Beteiligung an der Ermordung des Premier Stolypin; nichtsdestoweniger ließ die Tätigkeit der Konterspionage sogar seine erprobte Phantasie erschauern. Während „der Kampf gegen die feindliche Spionage ... sehr schwach geführt wurde“, schreibt er, wurden fortwährend bewußt erfundene Verfahren inszeniert gegen völlig unschuldige Personen nur zum Zwecke der Erpressung. Auf eine solche Sache stieß Kurlow: „Zu meinem Entsetzen“, sagte er, „vernahm [ich] das Pseudonym eines mir aus meinem früheren Dienst im Polizeidepartement bekannten, wegen Erpressung davongejagten Geheimagenten.“ Einer der Provinzchefs der Konterspionage, ein gewisser Ustinow, vor dem Kriege Notar, schildert in seinen Erinnerungen die Sitten der Konterspionage ungefähr in den gleichen Farben wie Kurlow: „Im Suchen nach Verfahren fabrizierte die Agentur selbst das Material.“ Um so lehrreicher ist es, das Niveau der Institution am Enthüller selbst nachzuprüfen: „Rußland ging zugrunde“, schreibt Ustinow über die Februarrevolution, „indem es das Opfer einer Revolution wurde, die deutsche Agenten mit deutschem Golde machten.“ Das Verhalten des patriotischen Notars zu den Bolschewiki bedarf keiner Erklärungen. „Berichte der Konterspionage über die frühere Tätigkeit Lenins, über seine Verbindung mit dem deutschen Generalstab, über das von ihm empfangene deutsche Gold waren derart überzeugend, um ihn sofort aufzuhängen.“ Kerenski hatte dies, wie sich erweist, nur deshalb nicht getan, weil er selbst ein Verräter war. „Besonders erstaunte und empörte die Rädelsführerschaft des armseligen Advokaten, des Jüdchen Saschka Kerenski.“ Ustinow bezeugt, daß Kerenski „als Provokateur, der seine Genossen verriet, gut bekannt war“. Der französische General Anselme verließ im März 1919 Odessa, wie sich weiter ergibt, nicht unter dem Drucke der Bolschewiki, sondern weil er eine beträchtliche Bestechung empfangen hatte. Von den Bolschewiki? Nein, „die Bolschewiki haben damit nichts zu tun. Hier sind die Freimaurer am Werk“. So ist diese Welt.
Bald nach der Februarumwälzung wurde die Überwachung der Institution, die aus Gaunern, Fälschern und Erpressern bestand, dem aus der Emigration angelangten patriotischen Sozialrevolutionär Mironow übertragen, den der Ministergehilfe Demjanow, ein „Volkssozialist“, mit folgenden Worten charakterisiert: „Äußerlich machte Mironow einen guten Eindruck ... Doch würde ich mich nicht wundern, wenn ich erfahren sollte, daß es kein ganz normaler Mensch war. Dem kann man beipflichten: ein normaler Mensch wäre wohl kaum bereit gewesen, ein Amt zu repräsentieren, das man einfach auseinanderjagen und dessen Wände man mit Sublimat begießen mußte.“ Infolge des durch die Umwälzung hervorgerufenen administrativen Wirrwarrs ward die Konterspionage dem Justizminister Perewersew unterstellt, einem Menschen von unbegreiflichem Leichtsinn und völliger Unbedenklichkeit in den Mitteln. Der gleiche Demjanow sagt in seinen Erinnerungen, daß sein Minister „im Sowjet fast gar kein Ansehen genoß“. Gedeckt durch Mironow und Perewersew erholten sich die über die Revolution erschrockenen Agenten bald und paßten ihre alte Tätigkeit der neuen politischen Situation an. Im Juni begann sogar der linke Flügel der Regierungspresse Nachrichten zu veröffentlichen über Gelderpressungen und andere Verbrechen der höheren Beamten der Konterspionage, zwei Leiter der Institution, Schtschukin und Broy, die nächsten Gehilfen des unglückseligen Mironow, nicht ausgenommen. Eine Woche vor der Julikrise hatte das Exekutivkomitee unter dem Drucke der Bolschewiki sich an die Regierung mit der Forderung gewandt, eine sofortige Revision der Konterspionage unter Beteiligung von Sowjetvertretern vorzunehmen. Die Geheimagenten hatten folglich ihre amtlichen, oder richtiger, ihre selbstsüchtigen Gründe, gegen die Bolschewiki einen möglichst schnellen und derben Schlag zu führen. Fürst Lwow hatte noch rechtzeitig ein Gesetz unterschrieben, das die Konterspionage berechtigte, einen Verhafteten drei Monate lang hinter Schloß und Riegel zu halten.
Aus dem Charakter der Anklage und der Ankläger selbst ergibt sich unvermeidlich die Frage: wie konnten überhaupt normal denkende Menschen glauben oder auch nur tun, als glaubten sie einer bewußten und durch und durch sinnlosen Lüge? Der Erfolg der Konterspionage wäre tatsächlich undenkbar gewesen außerhalb der durch Krieg, Niederlagen, Desorganisation, Revolution und erbitterten sozialen Kampf geschaffenen Gesamtatmosphäre. Nichts war seit dem Herbst des Jahres 1914 den herrschenden Klassen Rußlands gelungen, der Boden stürzte unter den Füßen ein, alles fiel aus den Händen, ein Unheil löste das andere ab – mußte man da nicht nach einem Schuldigen suchen? Der ehemalige Staatsanwalt des Obergerichtshofs, Sawadski, erinnert sich später, daß „ganz gesunde Menschen in den unruhigen Kriegsjahren dazu neigten, Verrat dort zu wittern, wo er offenbar und manchmal auch zweifellos nicht existierte. Die Mehrzahl solcher Verfahren, die während meiner Amtstätigkeit als Staatsanwalt eingeleitet wurden, erwiesen sich als unhaltbar.“ Neben dem bösartigen Agenten trat als Urheber solcher Verfahren der Spießer auf, der den Kopf verloren hatte. Aber sehr bald schon verband sich die Kriegspsychose mit dem vorrevolutionären politischen Fieber und zeitigte um so wunderlichere Früchte. Gemeinsam mit den erfolglosen Generalen suchten die Liberalen überall und in allem die deutsche Hand. Die Kamarilla galt als germanophil. Die ganze Rasputin-Clique handelte nach Instruktionen aus Potsdam, glaubten die Liberalen oder verkündeten es mindestens. Die Zarin beschuldigte man weit und breit offen der Spionage; ihr schrieb man selbst in Hofkreisen die Verantwortung zu für die durch die Deutschen erfolgte Versenkung des Schiffes, auf dem General Kitchener nach Rußland fuhr. Die Rechten blieben selbstverständlich nichts schuldig. Sawadski erzählt, daß der Gehilfe des Innenministers, Beletzki, zu Beginn des Jahres 1916 versucht hätte, gegen den nationalliberalen Industriellen Gutschkow ein Verfahren zu konstruieren, wobei er ihn „Handlungen, die in Kriegszeiten an Hochverrat grenzen“ – beschuldigte ... Indem er die Heldentaten Beletzkis enthüllt, stellt Kurlow, gleichfalls ein ehemaliger Gehilfe des Innenministers, seinerseits die Frage an Miljukow: „Für welche vom Standpunkte des Vaterlandes ehrenhafte Arbeit hat er zweitausend Rubel „finnländischen“ Geldes erhalten, die ihm per Post auf den Namen seines Hauspförtners überwiesen wurden?“ Die Anführungszeichen bei dem „finnländischen“ Geld sollen sagen, daß es sich um deutsches Geld handelte. Dabei hatte Miljukow den vollauf verdienten Ruf des Deutschenhassers! In Regierungskreisen galt es überhaupt als erwiesen, daß alle oppositionellen Parteien mit deutschem Gelde arbeiteten. Im August 1915, als man im Zusammenhang mit der beabsichtigten Dumaauflösung Unruhen erwartete, sagte der Marineminister Grigorowitsch, der als Beinah-Liberaler galt, in einer Regierungssitzung: „Die Deutschen führen eine verschärfte Propaganda und überschütten mit Geld die regierungsfeindlichen Organisationen.“ Die Oktobristen und Kadetten, entrüstet über diese Insinuation, trugen indes kein Bedenken, sie von sich nach links abzuschieben. Anläßlich der halbpatriotischen Rede des Menschewiken Tschcheidse zu Beginn des Krieges schrieb der Dumavorsitzende Rodsjanko: „Die Folgen haben später Tschcheidses Nähe zu deutschen Kreisen bestätigt.“ Vergeblich wäre, auch nur den Schatten eines Beweises zu erwarten!
In seiner Geschichte der zweiten russischen Revolution sagt Miljukow: „Die Rolle der „dunklen Quellen“ in der Umwälzung vom 27. Februar ist ganz unklar, doch nach allein Weiteren zu folgern, ist sie schwer abzuleugnen.“ Entschiedener äußert sich der frühere Marxist, jetzt reaktionäre Slawophile deutscher Abstammung Peter von Struve: „Als die russische Revolution, vorbereitet und ausgedacht von den Deutschen, glückte, schied Rußland eigentlich aus dem Kriege aus.“ Bei Struve wie bei Miljukow ist die Rede nicht von der Oktober-, sondern von der Februarrevolution. Anläßlich des berühmten Befehls Nr. 1, der großen Charte der Soldatenfreiheiten, ausgearbeitet von den Delegierten der Petrograder Garnison, schrieb Rodsjanko: „Ich zweifle keine Minute an dem deutschen Ursprung des Befehls Nr. 1.„ Der Chef einer der Divisionen, General Barkowski, erzählte Rodsjanko, daß der Befehl Nr. 1, „in riesigen Mengen in den Bereich seiner Truppen aus den deutschen Schützengräben geliefert wurde“. Nachdem er Kriegsminister geworden war, beeilte sich auch Gutschkow, den man unter dem Zaren des Hochverrats zu beschuldigen versucht hatte, diese Beschuldigung nach links abzuschieben. Der Aprilbefehl Gutschkows an die Armee lautete: „Personen, die Rußland hassen und zweifellos im Dienste unserer Feinde stehen, sind in die aktive Armee mit einer Beharrlichkeit eingedrungen, die unsere Gegner charakterisiert, und propagieren, wohl um deren Forderungen zu erfüllen, die Notwendigkeit eines möglichst raschen Kriegsendes.“ Anläßlich der gegen die imperialistische Politik gerichteten Aprilmanifestation schreibt Miljukow: „Die Aufgabe der Beseitigung beider Minister (Miljukow und Gutschkow) war direkt in Deutschland gestellt worden“; die Arbeiter hätten für die Beteiligung an der Demonstration von den Bolschewiki fünfzehn Rubel pro Tag erhalten. Mit dem deutschen Goldschlüssel löste der liberale Historiker alle Rätsel, an denen er als Politiker sich den Kopf zerschlug.
Die patriotischen Sozialisten, die gegen die Bolschewiki als die unfreiwilligen Verbündeten, wenn nicht Agenten des regierenden Deutschland hetzten, standen selbst unter ähnlicher Beschuldigung von rechts. Wir haben Rodsjankos Äußerungen über Tschcheidse gehört. Auch Kerenski fand vor seinen Augen keine Gnade: „Sicherlich hat er aus geheimer Sympathie mit den Bolschewiki, vielleicht aber auch infolge anderer Erwägungen, die Provisorische Regierung veranlaßt“, die Bolschewiki nach Rußland hereinzulassen. Die „anderen Erwägungen“ können nichts anderes bedeuten als die Leidenschaft für das deutsche Geld. In seinen kuriosen, auch in fremde Sprachen übersetzten Memoiren fügt der Gendarmeriegeneral Spiridowitsch, nachdem er die Fülle von Juden unter den regierenden sozialrevolutionären Kreisen vermerkt hat, hinzu: „Unter ihnen glänzten auch russische Namen, in der Art des späteren Bauernministers und deutschen Spions Victor Tschernow.“ Der Parteiführer der Sozialrevolutionäre stand unter Verdacht durchaus nicht nur bei dem Gendarmen. Nach dem Julipogrom gegen die Bolschewiki begannen die Kadetten, ohne Zeit zu verlieren, eine Hetze gegen den Ackerbauminister Tschernow, als der Verbindung mit Berlin verdächtig, und der unglückselige Patriot mußte vorübergehend zurücktreten, um sich von den Beschuldigungen zu reinigen. Im Herbst 1917, als Miljukow über den Auftrag sprach, durch den das patriotische Exekutivkomitee den Menschewiken Skobeljew ermächtigt hatte, an der internationalen sozialistischen Konferenz teilzunehmen, versuchte er von der Tribüne des Vorparlaments herab mittels einer skrupulösen Syntaxanalyse des Textes den offensichtlich „deutschen Ursprung“ des Dokumentes zu beweisen. Der Stil des Auftrages, wie übrigens der gesamten Versöhnlerliteratur, war tatsächlich schlecht. Die verspätete Demokratie, ohne Gedanken, ohne Willen, ängstlich sich nach allen Seiten umschauend, häufte in ihren Schriften Ausreden auf Ausreden und verwandelte sie in eine schlechte Übersetzung aus einer fremden Sprache, wie sie ja selbst nur der Schatten einer fremden Vergangenheit war. Ludendorff indes trifft dafür gar keine Schuld.
Die Reise Lenins durch Deutschland eröffnete der chauvinistischen Demagogie unerschöpfliche Möglichkeiten. Aber gleichsam um die dienende Rolle des Patriotismus in ihrer Politik grell zu beweisen, begann die bürgerliche Presse, die anfangs Lenin mit erkünsteltem Wohlwollen begegnet war, eine zügellose Hetze gegen sein „Germanophilentum“ erst, nachdem sie sich seines sozialen Programms bewußt geworden war. „Land, Brot und Frieden?“ Diese Parole konnte er nur aus Deutschland eingeführt haben. Zu dieser Zeit war noch nicht einmal die Rede von Jermolenkos Enthüllungen.
Nachdem Trotzki und einige andere Emigranten, die sich auf der Rückkehr aus Amerika befanden, von der Militärkontrolle König Georgs in Halifax verhaftet waren, erstattete die britische Gesandtschaft in Petrograd der Presse einen offiziellen Bericht in einer unnachahmlichen anglo-russischen Sprache: „jene russischen Bürger auf dem Dampfer Christianiafjord sind in Halifax angehalten worden, weil der englischen Regierung mitgeteilt wurde, daß sie mit einem von der deutschen Regierung subsidierten Plan, die russische Provisorische Regierung zu stürzen, in Verbindung ständen ...“ Die Mitteilung des Sir Buchanan datierte vom 14. April: zu dieser Zeit war nicht nur Burstein, sondern auch Jermolenko auf dem Horizont noch nicht aufgetaucht. In seiner Eigenschaft als Außenminister war jedoch Miljukow gezwungen, durch den russischen Gesandten Nabokow die englische Regierung zu ersuchen, Trotzki aus der Haft freizugeben und nach Rußland durchzulassen. „Informiert über Trotzki nach dessen Tätigkeit in Amerika“, schreibt Nabokow, „konnte es die englische Regierung nicht fassen: „Was ist es, böser Wille oder Blindheit?“ Die Engländer zuckten die Achseln, begriffen die Gefahr, warnten uns.“ Lloyd George mußte aber nachgeben. In der Antwort auf die Frage, die Trotzki in der Petrograder Presse an den britischen Gesandten richtete, nahm Buchanan verlegen seine ursprüngliche Erklärung zurück und verkündete diesmal: „Meine Regierung hielt die Emigrantengruppe in Halifax zurück nur zwecks und bis zur Feststellung ihrer Persönlichkeit durch die russische Regierung ... Darauf läuft die ganze Sache mit dem Zurückhalten der russischen Emigranten hinaus.“ Buchanan war nicht nur Gentleman, sondern auch Diplomat.
In einer Beratung der Reichsdumamitglieder Anfang Juni forderte Miljukow, der durch die Aprildemonstration aus der Regierung geschleudert worden war, die Verhaftung Lenins und Trotzkis, wobei er unzweideutig auf deren Verbindung mit Deutschland anspielte. Trotzki erklärte am nächsten Tage auf dem Sowjetkongreß: „Solange Miljukow diese Beschuldigung nicht beweist oder zurücknimmt, bleibt auf seiner Stirn das Brandmal des ehrlosen Verleumders.“ Miljukow antwortete darauf in der Rjetsch, er sei „tatsächlich damit unzufrieden“, „daß die Herren Lenin und Trotzki frei herumlaufen“, die Notwendigkeit ihrer Verhaftung aber begründet er „nicht damit, daß sie Agenten Deutschlands seien, sondern damit, daß sie sich gegen das Strafgesetzbuch hinreichend versündigt hätten“. Miljukow war Diplomat, ohne Gentleman zu sein. Die Notwendigkeit der Verhaftung Lenins und Trotzkis war ihm schon vor den Enthüllungen Jermolenskos klar; die juridische Aufmachung der Verhaftung stellte eine Frage der Technik dar. Der Führer der Liberalen spielte politisch mit der scharfen Beschuldigung, lange bevor sie in „juridischer“ Form in Umlauf gesetzt worden war.
Die Rolle des Mythos vom deutschen Golde tritt am plastischsten in der farbigen Episode hervor, die der Geschäftsführer der Provisorischen Regierung, der Kadett Nabokow (nicht zu verwechseln mit dem eben zitierten russischen Gesandten in London), erzählt. In einer der Regierungssitzungen bemerkte Miljukow bei irgendeinem anderen Anlasse: „Es ist für niemand ein Geheimnis, daß das deutsche Geld unter den Faktoren, die zur Umwälzung beigetragen haben, seine Rolle spielte ...“ Das sieht Miljukow sehr ähnlich, obwohl seine Formulierung deutlich gemildert ist. Nach Nabokows Darstellung benahm sich Kerenski, als sei der Teufel in ihn gefahren. Er riß seine Aktenmappe an sich, schlug damit auf den Tisch und schrie: „Nachdem Miljukow es gewagt hat, in meiner Gegenwart die heilige Sache der großen russischen Revolution zu verleumden, wünsche ich keinen Moment länger hierzubleiben.“ Das sieht Kerenski sehr ähnlich, obwohl seine Geste vielleicht stark aufgetragen ist. Ein russisches Sprichwort empfiehlt, nicht in den Brunnen zu spucken, aus dem man eventuell wird trinken müssen. Durch die Oktoberrevolution beleidigt, fand Kerenski nichts Besseres, als den Mythos vom deutschen Golde gegen sie zu richten. Was bei Miljukow eine „Verleumdung der heiligen Sache“ war, verwandelte sich bei Burstein-Kerenski in eine heilige Sache der Verleumdung gegen die Bolschewiki.
Die ununterbrochene Kette von Verdächtigungen wegen Germanophilentum und Spionage, die sich von Zarin, Rasputin und Hofkreisen über Ministerien, Stäbe, Duma, liberale Redaktionen bis zu Kerenski und einem Teil der Sowjetspitzen zog, verblüfft am meisten durch ihre Einförmigkeit. Die politischen Gegner scheinen gleichsam fest beschlossen zu haben, ihre Einbildungskraft nicht zu überanstrengen: sie rollen einfach die gleiche Beschuldigung von Ort zu Ort, vorwiegend von rechts nach links. Die Juliverleumdung war auf die Bolschewiki am allerwenigsten aus heiterem Himmel herabgestürzt, sie war die natürliche Frucht von Panik und Haß, das letzte Glied einer schändlichen Kette, die Verschiebung der fertigen Verleumdungsformel an eine neue, endgültige Adresse, die die gestrigen Ankläger und Angeklagten versöhnte. Alle Kränkungen der Regierenden, alle Ängste, all ihre Erbitterung richteten sich gegen jene Partei, die die äußerste von links war und am vollendetsten die zerschmetternde Kraft der Revolution verkörperte. Konnten denn in der Tat die besitzenden Klassen ihren Platz den Bolschewiki räumen, ohne den letzten verzweifelten Versuch gemacht zu haben, sie in Blut und Schmutz zu treten? Der durch langen Gebrauch verworrene Knäuel der Verleumdung mußte zwangsläufig auf das Haupt der Bolschewiki niederfallen. Die Enthüllungen des Fähnrichs von der Konterspionage waren nur eine Materialisation des Fieberwahns der besitzenden Klassen, die sich in einer Sackgasse erblickten. Deshalb gewann auch die Verleumdung solch schreckliche Kraft.
Die deutsche Agentur an sich war selbstverständlich kein Fieberwahn. Die deutsche Spionage in Rußland war unermeßlich besser organisiert als die russische in Deutschland. Es genügt, daran zu erinnern, daß der Kriegsminister Suchomlinow noch unter dem alten Regime verhaftet wurde als Vertrauensperson Berlins. Es ist auch unzweifelhaft, daß deutsche Agenten sich nicht nur an die Hof- und Schwarzhundertkreise anzuschmieren wußten, sondern auch an Linkskreise. Die österreichischen und deutschen Behörden liebäugelten von den ersten Kriegstagen an stark mit separatistischen Tendenzen, beginnend mit der ukrainischen und kaukasischen Emigration. Es ist bemerkenswert, daß auch Jermolenko, angeworben im April 1917, in den Kampf geschickt wurde für die Lostrennung der Ukraine. Schon im Herbst 1914 fordern sowohl Lenin wie auch Trotzki in der Schweiz öffentlich auf, mit jenen Revolutionären zu brechen, die auf die Angel des deutsch-österreichischen Militarismus gehen. Anfang 19I7 warnte Trotzki von New York aus öffentlich die linken deutschen Sozialdemokraten, Liebknecht-Anhänger, an deren Reihen sich Agenten der britischen Gesandtschaft heranzumachen suchten. Jedoch bei allem Liebäugeln mit den Separatisten in der Absicht, Rußland zu schwächen und den Zaren einzuschüchtern, war die deutsche Regierung vom Gedanken an den Sturz des Zarismus weit entfernt. Das beweist am besten eine Proklamation, die die Deutschen nach der Februarumwälzung in den russischen Schützengräben verbreiteten und die am 11. März in der Sitzung des Petrograder Sowjets bekanntgegeben wurde. „Anfangs gingen die Engländer mit eurem Zaren, jetzt aber haben sie sich gegen ihn erhoben, weil er ihren eigennützigen Forderungen nicht zugestimmt hatte. Sie haben euren euch von Gott gegebenen Zaren vom Throne gestürzt. Weshalb aber ist das geschehen? Weil er den heuchlerischen und heimtückischen Streich Englands durchschaut und bekanntgegeben hat.“ Form wie Inhalt dieses Dokumentes bieten die innere Garantie für dessen Echtheit. Wie man den preußischen Leutnant nicht nachahmen kann, so kann man auch seine historische Philosophie nicht nachahmen. Hoffmann, ein preußischer Leutnant im Generalsrange, war der Meinung, die russische Revolution sei in England ausgedacht und inszeniert worden. Darin liegt immerhin weniger Unsinn als in der Theorie Miljukow-Struve, denn Potsdam fuhr bis zum Schluß fort, auf einen Separatfrieden mit Zarskoje Selo zu hoffen, während man in England am meisten diesen Separatfrieden fürchtete. Erst als sich die Unmöglichkeit der Wiedereinsetzung des Zaren restlos offenbart hatte, setzte der deutsche Stab seine Hoffnungen auf die zersetzende Kraft des revolutionären Prozesses. Aber selbst in der Frage der Reise Lenins durch Deutschland ging die Initiative nicht von deutschen Kreisen aus, sondern von Lenin selbst und in ihrer ursprünglichen Form von dem Menschewiken Martow. Der deutsche Generalstab kam dem nur entgegen, vermutlich nicht ohne Schwanken. Ludendorff sagte sich: vielleicht kommt eine Erleichterung von dieser Seite.
Während der Juliereignisse suchten sogar die Bolschewiki hinter den einzelnen unerwarteten und mit klarem Vorbedacht ausgelösten Exzessen die Arbeit einer fremden und verbrecherischen Hand. Trotzki schrieb in jenen Tagen: „Welche Rolle hat dabei die konterrevolutionäre Provokation oder die deutsche Agentur gespielt? Es ist schwer, jetzt etwas Bestimmtes darüber zu sagen ... Es bleibt nur übrig, die Ergebnisse einer ernsthaften Untersuchung abzuwarten ... Aber schon jetzt läßt sich mit Sicherheit aussprechen: die Resultate einer solchen Untersuchung könnten ein grelles Licht werfen auf die Arbeit der Schwarzhundertbanden und auf die unterirdische Rolle deutschen, englischen oder echt russischen Goldes oder schließlich des einen, des andern und des dritten zusammen; doch den politischen Sinn der Ereignisse könnte keine gerichtliche Untersuchung ändern. Die Arbeiter- und Soldatenmassen Petrograds waren nicht bestochen und konnten nicht bestochen sein. Sie stehen weder bei Wilhelm noch bei Buchanan noch bei Miljukow im Dienste ... Die Bewegung war vorbereitet worden durch Krieg, Kopflosigkeit der Regierung, abenteuerliche Offensive, politisches Mißtrauen und revolutionäre Unruhe der Arbeiter und Soldaten ...“ Alle nach dem Krieg und den zwei Umwälzungen bekanntgewordenen Archivmaterialien, Dokumente, Memoiren beweisen unzweifelhaft, daß die Beteiligung der deutschen Agentur an den revolutionären Prozessen in Rußland sich nicht für eine Stunde aus der militär-polizeilichen Sphäre in das Gebiet der großen Politik erhob. Ist es übrigens noch notwendig, nach der Revolution in Deutschland auf dieser Behauptung zu beharren? Wie kläglich und ohnmächtig erwies sich diese angeblich allmächtige hohenzollernsche Spionageagentur im Herbst 1918 vor dem Angesicht der deutschen Arbeiter und Soldaten! „Die Berechnung unserer Feinde, die Lenin nach Rußland geschickt hatten, erwies sich als vollkommen richtig“, sagt Miljukow. Ganz anders schätzt die Ergebnisse des Unternehmens Ludendorff selbst ein: „Ich konnte das damals nicht für möglich halten“, rechtfertigt er sich, von der russischen Revolution sprechend, „daß sie später auch unsere Kraft untergraben würde.“ Das will nur sagen, daß von den zwei Strategen: Ludendorff, der Lenin die Durchreise erlaubte, und Lenin, der diese Erlaubnis annahm, Lenin besser und weiter gesehen hat.
„Die feindliche Propaganda und der Bolschewismus“, klagt Ludendorff in seinen Kriegserinnerungen, „verfolgten auf deutschem Boden die gleichen Ziele. England gab China das Opium, die Feinde uns die Revolution ...“ Ludendorff sagt der Entente dasselbe nach, dessen Miljukow und Kerenski Deutschland beschuldigten. So grausam rächt sich der geachtete historische Sinn! Aber Ludendorff blieb dabei nicht stehen. Im Februar 1931 gab er der Welt kund, daß hinter dem Rücken der Bolschewiki das internationale, besonders jüdische Finanzkapital stand, geeint durch den Kampf gegen das zaristische Rußland und das imperialistische Deutschland. „Trotzki war von Amerika über Schweden nach Petersburg gelangt, mit reichen Geldmitteln der Weltkapitalisten ausgestattet. Anderes Geld war vom Juden Solmssen aus Deutschland den Bolschewiken zugeflossen.“ (Ludendorffs Volkswarte, 15. Februar 1931.) So sehr die Aussagen Ludendorffs und Jermolenkos auseinandergehen, in einem Punkte decken sie sich indes: ein Teil des Geldes floß, wie sich herausstellt, doch aus Deutschland, zwar nicht von Ludendorff, sondern von dessen Todfeind Solmssen. Nur dieses Zeugnis hatte noch gefehlt, um der ganzen Frage eine ästhetische Vollendung zu verleihen.
Doch weder Ludendorff noch Miljukow noch Kerenski haben das Pulver erfunden, wenn auch der erstere eine weitgehende Anwendung von ihm gemacht hat. „Solmssen“ hatte viele Vorläufer in der Geschichte, sowohl als Jude wie als deutscher Agent. Graf Fersen, schwedischer Gesandter in Frankreich während der Großen Revolution, ein leidenschaftlicher Anhänger der Königsmacht, des Königs und besonders der Königin, hat mehr als einmal seiner Regierung nach Stockholm Berichte folgender Art erstattet: „Der Jude Efraim, der Emissär des Herrn Herzberg aus Berlin (des preußischen Ministers des Auswärtigen), liefert ihnen (den Jakobinern) Geld; vor kurzem hat er wieder sechshunderttausend Pfund bekommen.“ Die gemäßigte Zeitung Pariser Revolutionen sprach die Vermutung aus, daß während der Republik-Umwälzung „Emissäre der europäischen Diplomatie, zum Beispiel in der Art des Juden Efraim, eines Agenten des preußischen Königs, in die bewegte und wandelbare Menge eindrangen ...“ Der gleiche Fersen meldete: „Die Jakobiner ... würden zugrunde gehen ohne die Hilfe des von ihnen bestochenen Pöbels.“ Wenn die Bolschewiki den Teilnehmern der Demonstrationen Taglohn zahlten, folgten sie nur dem Beispiel der Jakobiner, wobei das Geld für die Bestechung des „Pöbels“ in beiden Fällen Berliner Quellen entstammte. Die Übereinstimmung der Handlungsweise der Revolutionäre des XX. und des XVIII. Jahrhunderts müßte verblüffen, wenn sie nicht durch die noch verblüffendere Identität der Verleumdung seitens ihrer Feinde verdeckt wäre. Doch man braucht sich nicht mit den Jakobinern zu begnügen. Die Geschichte aller Revolutionen und Bürgerkriege zeigt unveränderlich, daß die bedrohte oder gestürzte Klasse dazu neigt, den Grund ihres Mißgeschickes nicht bei sich, sondern bei ausländischen Agenten und Emissären zu suchen. Nicht nur Miljukow in seiner Eigenschaft als gelehrter Historiker, sondern auch Kerenski in seiner Eigenschaft als oberflächlicher Leser hätten das wissen müssen. Jedoch in ihrer Eigenschaft als Politiker wurden beide Opfer der eigenen konterrevolutionären Funktion.
Den Theorien von der revolutionären Rolle ausländischer Agenten wie überhaupt allen typischen und Massen-Verirrungen liegt jedoch ein indirektes historisches Fundament zugrunde. Bewußt oder unbewußt macht jedes Volk in kritischen Perioden seines Daseins besonders große und kühne Anleihen in den Schatzkammern der anderen Völker. Nicht selten spielen überdies die führende Rolle in der Fortschrittbewegung Personen, die im Ausland gelebt haben, oder in die Heimat zurückgekehrte Emigranten. Neue Ideen und Institutionen erscheinen deshalb den konservativen Schichten vor allem als fremdartige, als ausländische Produkte. Dorf gegen Stadt, Provinznest gegen Metropole, Kleinbürger gegen Arbeiter verteidigen sich als nationale Kräfte gegen ausländische Einflüsse. Die Bewegung der Bolschewiki erschien Miljukow als „deutsche“ letzten Endes aus denselben Gründen, aus denen der russische Muschik jahrhundertelang jeden städtisch gekleideten Menschen für einen Deutschen hielt. Nur mit dem Unterschiede, daß der Muschik dabei rechtschaffen blieb.
Im Jahre 1918, also bereits nach der Oktoberumwälzung, veröffentlichte das Pressebüro der amerikanischen Regierung feierlich eine Sammlung von Dokumenten über die Verbindung der Bolschewiki mit den Deutschen. Dieser plumpen Falsifikation, die nicht einmal dem Hauche einer Kritik widerstand, glaubten viele gebildete und scharfsichtige Menschen, solange nicht nachgewiesen wurde, daß die angeblich aus verschiedenen Ländern stammenden Originale der Dokumente sämtlich auf ein und derselben Schreibmaschine angefertigt worden waren. Die Fälscher machten mit den Konsumenten keine Umstände: sie waren offenbar sicher, daß der politische Bedarf an Enthüllungen über die Bolschewiki sich als stärker erweisen würde als die Stimme der Kritik. Und sie gingen nicht fehl, denn sie wurden für die Dokumente gut bezahlt. Indes war die amerikanische Regierung, vom Kampfschauplatz durch einen Ozean getrennt, erst in zweiter und dritter Linie an den Ereignissen interessiert.
Aber weshalb ist die politische Verleumdung denn doch so dürftig und eintönig? Deshalb, weil die Gesellschaftspsyche sparsam und konservativ ist. Sie verausgabt nicht mehr Kraft, als für ihre Zwecke unbedingt erforderlich ist. Sie zieht vor, Altes zu entlehnen, sobald sie nicht gezwungen ist, Neues zu bauen, aber auch in diesem Falle kombiniert sie die Elemente des Alten. jede nachfolgende Religion pflegte ihre Mythologie nicht neu zu schaffen, sondern den Aberglauben der Vergangenheit umzuformen. Nach dem gleichen Typus wurden auch die philosophischen Systeme geschaffen, die Doktrinen des Rechts und der Moral. Einzelne Menschen, sogar auch geniale, entwickeln sich ebenso unharmonisch wie die Gesellschaft, die sie erzieht. Kühne Phantasie findet im gleichen Schädel Platz neben sklavischer Anhänglichkeit an überkommene Muster. Verwegene Höhenflüge vertragen sich mit grobem Aberglauben. Shakespeare nährte seine Schöpfung mit Sujets, die aus der Tiefe der Jahrhunderte zu ihm drangen. Pascal bewies die Existenz Gottes mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie. Newton entdeckte die Anziehungsgesetze und glaubte an die Apokalypse. Nachdem Marconi eine Radiosendestation in der Residenz des Papstes errichtet hat, verbreitet der Stellvertreter Christi seinen mystischen Segen durch Radio. In gewöhnlichen Zeiten gehen diese Widersprüche aus dem Schlummerzustande nicht heraus. Aber in Zeiten von Katastrophen gewinnen sie Explosivkraft. Wo es um Bedrohung der materiellen Interessen geht, bringen die gebildeten Klassen alle Vorurteile und Verirrungen in Bewegung, die die Menschheit im Troß hinter sich herschleppt. Kann man den gestürzten Herren des alten Rußland allzusehr zürnen, wenn sie die Mythologie ihres Sturzes wahllos von jenen Klassen übernahmen, die vor ihnen gestürzt worden waren? Gewiß, die Tatsache, daß Kerenski viele Jahre nach den Ereignissen in seinen Memoiren Jermolenkos Version wieder auferstehen läßt, ist jedenfalls eine Verschwendung.
Die Verleumdung der Kriegs- und Revolutionsjahre verblüfft, sagten wir, durch ihre Einförmigkeit. Aber es gibt einen Unterschied. Aus der Anhäufung von Quantität entsteht neue Qualität. Der Kampf der anderen Parteien untereinander ähnelte fast einem Familienzwist im Vergleich mit ihrer gemeinsamen Hetze gegen die Bolschewiki. In ihren Zusammenstößen untereinander trainierten sie gleichsam nur für den anderen, entscheidenden Kampf. Selbst wenn sie gegeneinander die scharfe Beschuldigung der Verbindung mit den Deutschen erhoben, führten sie die Sache niemals bis zum Ende durch. Der Juli bietet ein anderes Bild. In ihrem Vorstoß gegen die Bolschewiki stellen alle herrschenden Kräfte: Regierung, Justiz, Konterspionage, Stäbe, Beamte, Munizipalitäten, Parteien der Sowjetmehrheit, ihre Presse und Redner, ein grandioses Ganzes dar. Selbst die Meinungsverschiedenheiten unter ihnen verstärken, wie der Unterschied der Instrumente im Orchester, nur den Gesamteffekt. Die unsinnige Erfindung zweier verächtlicher Subjekte wird auf die Höhe eines historischen Faktors erhoben. Die Verleumdung stürzt herab wie ein Niagara. Zieht man die Situation in Betracht – Krieg und Revolution –und den Charakter der Beschuldigten – revolutionäre Führer von Millionen, die ihre Partei zur Macht gebracht haben –, so kann man ohne Übertreibung sagen, daß der Juli I917 ein Monat der größten Verleumdung in der Weltgeschichte war.
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Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003