MIA > Deutsch > Marxisten > Trotzki > 1917 – Lehren d. Oktobers
Die Beschlüsse der Aprilkonferenz führten die Partei im Prinzip auf den richtigen Weg, aber der Zwiespalt bei der leitenden Schicht der Partei blieb bestehen und wurde durch sie nicht liquidiert. Im Gegenteil, der Zwiespalt vertiefte sich durch den Gang der Ereignisse, nahm konkretere Formen an und erreichte die größte Schärfe in dem entscheidenden Moment der Revolution, in den Oktobertagen.
Der Versuch, auf Lenins Initiative, am 10. Juni eine Demonstration durchzuführen, wurde von denselben Genossen, die auch mit dem Hervortreten im April unzufrieden waren, verurteilt und als Abenteuer hingestellt.
Die Demonstration am 10. Juni fand nicht statt, infolge eines Verbotes des Sowjetkongresses. Aber am 18. Juni erhielt die Partei die Genugtuung; denn die allgemeine Petrograder Demonstration, die wohl auf eine reichlich unvorsichtige Initiative der Opportunisten zustande kam, fand fast nur unter bolschewistischen Parolen statt. Jedoch auch die Regierung wollte etwas unternehmen und begann den idiotisch-leichtsinnigen Vormarsch an der Front. Das war ein entscheidender Moment. Lenin warnte die Partei vor unvorsichtigen Schritten. Am 21. Juni schrieb er in der Prawda: „Genossen, ein Aufstand wäre jetzt nicht zweckmäßig. Jetzt heißt es, eine völlig neue Epoche unserer Revolution zu durchleben.“ (Band 14, Teil 1, Seite 276.) Doch, es kamen die Julitage, die Meilensteine auf dem Wege der Revolution, aber auch auf dem Wege der innerparteilichen Zwistigkeiten.
In der Julibewegung spielte das eigenmächtige Vorgehen der Petrograder Massen die entscheidende Rolle. Doch es ist unzweifelhaft, daß Lenin sich im Juli fragte: Ist die Zeit nicht schon gekommen? Ist nicht schon die Stimmung der Massen über das Sowjetgerüst emporgewachsen? Müssen wir nicht befürchten, daß wir, hypnotisiert durch die Legalität der Sowjets, nicht mit der Stimmung der Massen mitkommen, ja sogar von ihr losgelöst werden können? Es ist sehr wahrscheinlich, daß einzelne rein militärische Handlungen in den Julitagen auf Veranlassung von Genossen unternommen wurden, die ehrlich überzeugt waren, im Sinne Lenins zu handeln. Lenin sagte jedoch später: „Im Juli haben wir viel Dummheiten gemacht.“ Aber in Wirklichkeit führte auch dieser Vorstoß zu einer breit angelegten Auskundschaftung auf einer höheren Etappe der Bewegung. Wir mußten zunächst den Rückzug antreten, einen schweren Rückzug. Die Partei, soweit sie sich mit der Vorbereitung zur Ergreifung der Macht befaßte, sah mit Lenin in dem Juliexperiment nur eine Episode, in welcher wir eine Fühlungnahme mit den feindlichen Kräften teuer erkauften, welche aber die Gesamtlinie unserer Entwicklung nicht beeinflussen konnte. Diejenigen Genossen, welche sich feindlich zu der Politik, die auf die Machtergreifung gerichtet war, stellten, sahen in den Julitagen ein schädliches Abenteuer. Die Mobilisation der rechten Kräfte der Partei verstärkte sich, ihre Kritik wurde entschlossener. Im Zusammenhang hiermit änderte sich auch der Ton der Abwehr. Lenin schrieb:
„All’ dieses Zetern, all’ diese Überlegungen – sollte man nicht an dem Versuch eines friedlichen und organischen Aufbaues gegenüber der übergesetzlichen Unzufriedenheit und Empörung der Massen teilnehmen? – führen entweder zum Renegatentum, wenn sie von den Bolschewisten ausgehen oder sind eine übliche Erscheinung beim Kleinbürger, die durch reine Angst und seine Hilflosigkeit hervorgerufen wird.“ (Band 14, Teil 2, Seite 28.)
Das Wort „Renegatentum“ in diesem Zusammenhang zeigte die ganze Tragik des Zwiespaltes. Später trifft man dieses böse Wort häufig und immer häufiger.
Die opportunistische Stellung zur Machtfrage und zum Kriege mußte selbstverständlich auch eine entsprechende Stellung zur Internationale auslösen. Von seiten der Rechten wurde der Versuch gemacht, die Partei zur Teilnahme an der Stockholmer Konferenz der Sozialpatrioten zu veranlassen. Lenin schrieb am 16. August:
„Der Rede des Genossen Kamenew im zentralen Exekutiv-Komitee am 8. August im Zusammenhang mit der Frage der Stockholmer Konferenz darf nicht unwidersprochen bleiben von seiten derjenigen Bolschewisten, die ihrer Partei und ihren Prinzipien treu geblieben.“ (Band 14, Teil 2, Seite 56.)
Und weiter schrieb er zur Phrase, daß auf der Stockholmer Konferenz das Banner der Revolution ausgebreitet werden soll:
„All dies ist leere Deklamation, im Geiste Tschernows und Zeretellis – es ist eine offensichtliche Lüge. Nicht die Fahne der Revolution, aber die Fahne des Kompromisses, der Amnestie für die Sozial-Imperialisten, der Verhandlungen der Bankiers über die Aufteilung der Annektionen, das sind die Banner, die über Stockholm entrollt werden.“ (Ebenda, Seite 57.)
Der Weg nach Stockholm war in Wirklichkeit der Weg zur II. Internationale, genau wie die Teilnahme am Vorparlament der Weg zur bürgerlichen Republik war. Lenin war für Boykott der Stockholmer Konferenz und später für eine Boykottierung des Vorparlamentes. Mitten im größten Kampf hat er nicht eine Minute das Ziel aus den Augen gelassen: die Schaffung der neuen kommunistischen Internationale.
Schon am 10. April schlägt Lenin eine Umbenennung der Partei vor. Alle Einwände gegen den neuen Namen beseitigt er. Er bezeichnete sie als Argumente der Trägheit und Routine. Er besteht darauf: „Es ist an der Zeit, das alte Hemd fortzuwerfen und sich reine Wäsche anzuziehen.“ Und trotzdem, der Widerstand bei den Spitzen der Partei ist so stark, daß ein ganzes Jahr, in welchem Rußland die schmutzige Wäsche der Bourgeoisie-Herrschaft ablegte, vergehen mußte, ehe die Partei sich entschließen konnte, ihren Namen zu erneuern und so zur Tradition Marx’ und Engels’ zurückkehrte.
In dieser Geschichte der Namensänderung der Partei drückt sich symbolisch die Rolle Lenins während des ganzen Jahres 1917 aus: denn im allerentscheidensten Wendepunkte der Entwicklung muß er ununterbrochen im Innern einen aufreibenden Kampf führen gegen das Gestern im Namen des Morgen. Der Widerstand des Gestern, welcher unter der Flagge „Tradition“ auftritt, erreicht in einzelnen Momenten eine außerordentliche Schärfe.
Die Ereignisse des Kornilowputsches, welche eine Verschiebung der Lage zu unseren Gunsten zur Folge hatten, milderten zeitweilig die Meinungsverschiedenheiten; sie milderten sie, aber sie beseitigten sie nicht. Bei dem rechten Flügel war in diesen Tagen die Tendenz zur Annäherung an die Mehrheit der Sowjets auf der Grundlage der Verteidigung der Revolution und teilweise auch der Verteidigung der Heimat, unverkennbar. Lenin reagierte Anfang September durch einen Brief an das Zentralkomitee:
„Meiner Meinung nach verfallen diejenigen der Prinzipienlosigkeit, die für „Landesverteidigung“ [3] oder (wie andere Bolschewisten) für den Block mit den Sozialrevolutionären und für die Unterstützung der zeitweiligen Regierung eintreten. Das ist ein Grundirrtum, das ist – Prinzipienlosigkeit. Wir können zu Anhängern der Landesverteidigung erst dann werden, wenn das Proletariat die Macht übernommen hat.“
Und weiter:
„Die Regierung Kerenski unterstützen dürfen wir sogar jetzt nicht, das wäre Gesinnungslosigkeit. Man wird fragen: soll denn Kornilow nicht bekämpft werden? Natürlich, ja! Aber das ist nicht ein und dasselbe: es gibt da eine Grenze, die einige Bolschewisten überschreiten, wobei sie dem Opportunismus verfallen, indem sie sich von den Ereignissen mitreißen lassen.“ (Band 14, Teil 2. S.95.)
Die nächste Stufe in der Entwicklung der Meinungsverschiedenheiten war die demokratische Konferenz (12. bis 22. September) und das aus ihm hervorgegangene Vorparlament (7. Oktober). Die Aufgabe der Menschewisten und Sozialrevolutionäre bestand darin, die Bolschewisten durch die sowjetistische Legalität zu binden und aus dieser eine bürgerlich-parlamentarische Legalität zu machen. Die Rechten kamen diesen Bestrebungen entgegen. Wir haben bereits vorhin gesehen, wie sie sich die Entwicklung der Revolution dachten: die Sowjets treten ihre Obliegenheiten an entsprechende Organisationen ab, den Stadtvertretungen, den Gemeinden, gewerkschaftlichen Verbänden, und zum Schluß der gesetzgebenden Körperschaft, womit dann die Räte von der Bildfläche verschwinden. Der Weg durch das Vorparlament sollte die Aufmerksamkeit der Massen von den Räten als einer „zeitweiligen“ Institution hinlenken zur gesetzgebenden Körperschaft als dem Schlußstein der demokratischen Revolution. Doch die Bolschewisten waren sowohl in den Petrograder als in den Moskauer Sowjets bereits in der Überzahl. Unser Einfluß auch in der Armee wuchs nicht nur mit jedem Tage, sondern von Stunde zu Stunde. Es handelte sich bald nicht mehr darum, Prognosen aufzustellen und Möglichkeiten zu erwägen, sondern buchstäblich darum, den Weg zu bestimmen, der bereits morgen beschritten werden sollte.
Das Auftreten der bereits gänzlich abgewirtschafteten opportunistischen Parteien auf der demokratischen Konferenz zeigte ihre traurige Gemeinheit. Unsere Forderung jedoch, diese Konferenz demonstrativ zu verlassen, weil sie offensichtlich dem Untergang verfallen war, stieß bei den damals immerhin noch mächtigen rechten Elementen in der Leitung unserer Partei auf energischen Widerstand. Dieser Streit war der Anfang des Kampfes um den Boykott des Vorparlamentes überhaupt. Am 24. September, d.h. nach der demokratischen Konferenz, schrieb Lenin:
„Die Bolschewisten hätten die Konferenz demonstrativ verlassen sollen, als Protest und auch, um nicht in die Falle zu gehen und die Aufmerksamkeit des Volkes von den ernsten Fragen nicht ablenken zu lassen.“ (Band 14, Teil 2, Seite 144.)
Die Debatten innerhalb der bolschewistischen Fraktion auf der demokratischen Konferenz wegen des Boykottes des Vorparlamentes hatten ungeachtet der verhältnismäßig engen Begrenzung des Themas eine außergewöhnliche Bedeutung. In Wirklichkeit handelte es sich um den äußerlich auch erfolgreichen Versuch des rechten Flügels, die Partei auf den Weg der „Weiterführung“ der „Demokratischen Revolution“ zu bringen. Ein Stenogramm dieser Debatten liegt nicht vor, ist aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht vorhanden gewesen – jedenfalls besitzen wir ein solches nicht. Auch irgendwelche Aufzeichnungen sind, soviel mir bekannt ist, nicht vorhanden. Einige unzulängliche Notizen sind von den Herausgebern des vorliegenden Werkes in meinen Papieren gefunden worden. Der Genosse Kamenew hat die Argumente, die später klarer und schärfer den Inhalt eines Briefes von Kamenew und Sinowjew an die Parteiorganisationen (11. Oktober) bildeten, dargelegt. Eine mehr prinzipielle Formulierung der Frage fand Nogin: „Der Boykott des Vorparlamentes ist der Aufruf zur Erhebung, d.h. zur Wiederholung der Julitage.“ Einige andere Genossen gingen von der allgemeinen sozialdemokratischen Parlamentstaktik aus und sagten ungefähr:
„Es würde niemand wagen, den Boykott des Parlaments zu beantragen, aber man schlägt uns vor, eine derartige Einrichtung zu boykottieren, nur deshalb, weil man ihr den Namen Vorparlament gegeben hat.“
Die Grundanschauung der Rechten bestand darin, daß die Revolution unvermeidlich von den Sowjets zum bürgerlichen Parlamentarismus führe und das das Vorparlament eine natürliche Erscheinung in dieser Entwicklung sei, daß es zwecklos sei, sich der Mitarbeit im Vorparlament zu entziehen, da man sich doch anschicke, die linken Bänke im Parlament einzunehmen. Man sollte die demokratische Revolution durchführen und sich zur sozialistischen „vorbereiten“. Aber wie vorbereiten? Durch die Lehren des bürgerlichen Parlamentarismus; denn die vorgeschritteneren Länder zeigen den Zurückgebliebenen ihre zukünftige Gestaltung. Der Sturz des Zarismus wird auf revolutionärem Wege gedacht – was ja auch den Tatsachen entspricht – die Eroberung der Macht durch das Proletariat aber wird parlamentarisch erfaßt; sie hat nach erfolgter Demokratisierung vor sich zu gehen. Zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Revolution müssen viele Jahre einer demokratischen Regierung liegen. Der Kampf um den Eintritt in das Vorparlament war der Kampf um die „Europäisierung“ der Arbeiterbewegung, um die schnellere Einführung dieser Bewegung in den demokratischen Kampf um die „Eroberung der Macht“, d.h. in das Strombett der Sozialdemokratie. Die Zusammensetzung der Fraktion auf der demokratischen Konferenz, welche mehr als hundert Mitglieder zählte, unterschied sich in nichts von der Zusammensetzung auf den damaligen Parteikonferenzen. Die Mehrzahl der Fraktion war für den Eintritt in das Vorparlament. Diese Tatsache allein war besorgniserregend und Lenin schlug von diesem Moment an auch tatsächlich unablässig Alarm. In den Tagen der demokratischen Konferenz schrieb er:
„Es wäre der größte Fehler und parlamentarischer Kretinismus, wollten wir die demokratische Konferenz als Parlament ansehen; denn selbst, wenn sie sich auch als Parlament, als souveränes Parlament der Revolution proklamieren würde, könnte sie in Wirklichkeit dennoch nichts entscheiden: die Entscheidung liegt anderswo, in den Arbeiterquartieren von Petersburg und Moskau.“ (Band 14, Teil 2, Seite 138)
Wie Lenin die Teilnahme oder das Fernbleiben vom Vorparlament einschätzte, geht aus vielen Äußerungen hervor, im besonderen aus einem Briefe in das Zentralkomitee vom 29. September, in welchem er von „solchen schreienden Fehlern“ der Bolschewisten spricht, wie „der schimpfliche Entschluß, im Vorparlament teilzunehmen!“ Für ihn war es klar, daß diese Entscheidung von denselben demokratischen Illusionen und kleinbürgerlichen Schwankungen ausging, die er stets bekämpfte, indem er ihnen seine Auffassung der proletarischen Revolution gegenüberstellte. Es ist nicht wahr, daß zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Revolution viele Jahre liegen müssen. Es ist nicht wahr, daß die einzige oder grundlegende oder obligatorische Schule für die Vorbereitung zur Eroberung der Macht die parlamentarische Erfahrung sein muß. Es ist auch nicht wahr, daß der Weg zur Macht nur über die bürgerliche Demokratie führt. Das sind alles hohle Abstraktionen, doktrinäre Schemen, deren politische Aufgabe darin liegt, den proletarischen Vortrupp an Händen und Füßen zu fesseln und ihn durch die „demokratische“ Staatsmechanik in einen oppositionellen Schatten der Bourgeoisie zu verwandeln. Denn das ist die Sozialdemokratie.
Die Politik des Proletariats darf nicht nach einem feststehenden Programm, sondern nur von den realen Forderungen des Klassenkampfes geleitet werden. Es gilt nicht, in das Vorparlament einzutreten, sondern den Aufstand zu organisieren und die Macht an sich zu reißen. Das andere wird sich dann schon finden. Lenin schlug sogar die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages vor, auf dem der Boykott des Vorparlamentes als Grundforderung auf der Tagesordnung stehen sollte. Von jetzt ab wiederholt er in allen Briefen und Aufsätzen immer das eine: nicht in das Vorparlament, als „revolutionärer“ Schwanz des opportunistischen Blocks; sondern auf die Straße, zur Eroberung der Macht!
3. Hier ist offenbar die Anführung der Namen fortgelassen, wie sich dies deutlich aus dem weiteren Satzbau ergibt. – Leo Trotzki
Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008