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Die Grundaufgabe jeder revolutionären Partei ist die Eroberung der Macht. In der II. Internationale war dieses Ziel lediglich – um in der Sprache der idealistischen Philosophie zu reden – eine „regulative Idee“, d. h. eine Idee, die mit der Praxis wenig zu tun hat.
Erst in den letzten Jahren haben wir im internationalen Maßstab zu lernen begonnen, die Eroberung der politischen Macht zu einem praktischen Ziele zu machen. Die russische Revolution hat hierzu sehr viel beigetragen. Die Tatsache, daß wir in Rußland ein bestimmtes Datum nennen können, nämlich den 25. Oktober (7. November) 1917, an dem die Kommunistische Partei an der Spitze der Arbeiterklasse die politische Macht den Händen der Bourgeoisie entrissen hat, beweist schlagender als alle Argumente, daß die Eroberung der Macht für die Revolutionäre nicht eine „regulative Idee“, sondern eine praktische Aufgabe ist.
Am 7. November 1917 hat sich unsere Partei an die Spitze des Staates gestellt. Dies bedeutete nicht, – und bald offenbarte sich dies mit voller Klarheit, – daß der Bürgerkrieg zu Ende war. Im Gegenteil, erst nach dem Oktoberumsturz hat der Bürgerkrieg bei uns in weitem Umfange eingesetzt. Diese Tatsache ist nicht allein von historischem Interesse, sondern kann auch als Quelle ernsthaftester Belehrung für das westeuropäische Proletariat dienen.
Warum ist es so gekommen ? Die Erklärung ist zu suchen in der kulturell-politischen Rückständigkeit des Landes, das sich soeben erst von der zaristischen Barbarei freigemacht hatte. Die Großbourgeoisie und der Adel verfügten über eine gewisse politische Erfahrung dank den Stadtdumas, den Semstwos, der Staatsduma usw. Das Kleinbürgertum besaß wenig politische Erfahrung, und die Hauptmasse der Bevölkerung, die Bauernschaft, noch weniger. So kam es, daß die Hauptreserven der Konterrevolution, das Großbauerntum und bis zu einem gewissen Grade auch das mittlere Bauerntum sich gerade in diesem besonders amorphen Milieu auftaten. Erst nachdem die Bourgeoisie ganz zu verstehen angefangen hatte, was sie mit dem Verlust der Macht verlor und einen konterrevolutionären Kampfkern ausgesondert hatte, gelang es ihr, den Zutritt zu den bäuerlichen und kleinbürgerlichen Elementen und Schichten zu finden; dabei mußte die Bourgeoisie die leitenden Posten den reaktionärsten Elementen aus den höheren adligen Offizieren abtreten. Die Folge war, daß der Bürgerkrieg erst nach dem Oktoberumsturz seine Entfaltung fand. Und so mußten wir durch die unzähligen Opfer des Bürgerkrieges die Leichtigkeit büßen, mit der wir am 7. November 1917 die Macht erobert hatten.
In den im kapitalistischen Sinne älteren und kultivierteren Ländern ward die Lage unzweifelhaft eine ganz andere sein. Dort werden die Volksmassen in politischer Hinsicht viel formierter in die Revolution eintreten. Freilich, die Orientierung der einzelnen Schichten und Gruppen des Proletariats, und um so mehr die des Kleinbürgertums wird noch starke Schwankungen und Veränderungen erfahren, aber diese Veränderungen werden immerhin viel systematischer verlaufen; es wird sich der heutige Tag viel unmittelbarer aus dem gestrigen ergeben. Im Westen bereitet sich die Bourgeoisie schon von vornherein vor, sie kennt mehr oder weniger die Elemente, auf die sie sich wird stützen müssen, und sie baut ihre konterrevolutionären Kaders jetzt schon. Das sehen wir in Deutschland, das nehmen wir, – wenn auch nicht ganz so deutlich, – in Frankreich wahr und schließlich – in der vollkommensten Form – in Italien, wo nach einer unvollendeten Revolution eine vollendete Gegenrevolution da ist, die nicht ohne Erfolg sich gewisser Methoden der Revolution bedient.
Was hat das zu bedeuten? Das bedeutet, daß es uns kaum gelingen wird, die europäische Bourgeoisie so zu überrumpeln wie wir die russische überrumpelt haben. Die europäische Bourgeoisie ist gescheiter, gewitzigter, sie verliert keine Zeit. Alles, was sie gegen uns auf die Beine bringen kann, mobilisiert sie jetzt schon. Das revolutionäre Proletariat wird also dort auf seinem Wege zur Macht nicht allein auf die kampfbereite Vorhut der Konterrevolution stoßen, sondern auch auf ihre wichtigsten Reserven. Erst nachdem das Proletariat diese Kräfte des Feindes zerschlagen, desorganisiert und demoralisiert haben wird, wird es die Staatsmacht erobern. Dafür aber wird nach dem proletarischen Umsturz die besiegte Bourgeoisie nicht mehr jene mächtigen Beserven zur Verfügung haben, aus denen sie Material zur Verlängerung des Bürgerkrieges schöpfen könnte. Mit anderen Worten, nach der Eroberung der Macht wird das europäische Proletariat, aller Wahrscheinlichkeit nach, eine bedeutend größere Ellenbogenfreiheit für seinen wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau haben, als wir sie am Tage nach dem Umsturz gehabt haben. Je schwieriger und härter der Kampf um die Staatsgewalt sein wird, um so weniger ward diese Gewalt dem Proletariat nach seinem Siege streitig gemacht werden.
Es gilt, diesen allgemeinen Grundsatz zu gliedern und zu konkretisieren in bezug auf die verschiedenen Länder, je nach ihrer sozialen Struktur und ihrer Aufeinanderfolge im Prozeß der Revolution. Es ist vollkommen klar, daß die Geburtsquälen der Revolution in den einzelnen Ländern desto mehr abgekürzt sein werden, je größer die Anzahl der Länder sein wird, wo das Proletariat die Bourgeoisie niedergerungen haben wird, denn um so weniger wird dann die besiegte Bourgeoisie in Versuchung kommen, den Kampf um die Macht zu beginnen, – insbesondere wenn das Proletariat zeigen wird, daß es in diesen Fragen keinen Scherz versteht. Und das Proletariat wird es ganz gewiß zeigen. Hierbei wird es sich das Beispiel und die Erfahrungen des russischen Proletariats durchaus zunutze machen können. Wir begingen Fehler in verschiedener Hinsicht, natürlich auch in der Politik. Aber im großen und ganzen haben wir der europäischen Arbeiterklasse ein recht gutes Beispiel von Entschlossenheit, Festigkeit und, wenn es nötig war, auch Schonungslosigkeit im revolutionären Kampf gegeben. Diese Schonungslosigkeit ist eben die höchste revolutionäre Humanität – schon deshalb, weil sie den Erfolg sichert und somit den schweren Weg der Krise abkürzt.
Der Bürgerkrieg war nicht nur ein militärischer Prozeß, – freilich war er es, mit Verlaub der ehrwürdigen Pazifisten, auch derjenigen, die aus Mißverständnis noch in unseren kommunistischen Reihen herumirren, – er war nicht mir ein militärischer Prozeß, sondern auch ein politischer und sogar vor allem ein politischer Prozeß. Durch die Methoden des Krieges entfaltete sich der Kampf um die politischen Reserven, d. h. vor allem um das Bauerntum. Das Bauerntum, das lange zwischen dem bürgerlich-agrarischen Block, der diesem Block gefügigen „Demokratie“ und dem revolutionären Proletariat schwankte, schlug sich im entscheidenden Augenblick, als es galt, die letzte Wahl zu treffen, auf die Seite des Proletariats und unterstützte es, und zwar nicht mit Hilfe demokratischer Wahlbulletins, sondern mit Lebensmitteln, Pferden und Gewehren. Und das war für unseren Sieg entscheidend.
Die Rolle des Bauerntums war also in der russischen Revolution gewaltig. Diese Rolle wird auch in anderen Ländern groß sein, z. B. in Frankreich, wo das Bauerntum noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Doch sind jene Genossen im Irrtum, die glauben, daß das Bauerntum fähig sei, in der Revolution eine selbständige, leitende Rolle zu spielen, sozusagen, gleichberechtigt mit dem Proletariat. Wenn wir im Bürgerkrieg den Sieg davongetragen haben, so geschah es nicht allein und nicht so sehr dank unserer richtigen militärischen Strategie, wie dank der richtigen politischen Strategie, die unseren militärischen Operationen im Bürgerkriege unentwegt zugrunde lag. Wir vergaßen keinen Augenblick, daß die Grundaufgabe des Proletariats darin bestand, das Bauerntum zu sich herüberzuziehen. Dies taten wir jedoch nicht so wie die Sozialrevolutionäre. Jene köderten bekanntlich die Bauern mit einer selbständigen demokratischen Rolle und lieferten sie dann mit Haut und Haaren den Grundbesitzern aus. Wir dagegen wußten genau, daß das Bauerntum eine schwankende Masse ist, die als Ganzes zu einer selbständigen oder gar zu einer leitenden revolutionären Rolle unfähig ist. Wir stellten durch die Entschlossenheit unserer Aktionen die Bauernmassen vor die Notwendigkeit, zwischen dem revolutionären Proletariat einerseits und den feudalen Offizieren, die an der Spitze der Konterrevolution standen, andererseits zu wählen. Ohne diese Entschlossenheit unsererseits in der Ausrottung der demokratischen Lobhudelei hätte das Bauerntum zwischen den verschiedenen Lagern und Schattierungen der „Demokratie“ hin- und hergependelt, – und die Revolution wäre zugrunde gegangen.
Die demokratischen Parteien und vor allem die Sozialdemokratie – es unterliegt keinem Zweifel, daß in Westeuropa die Sache sich genau so verhalten wird – waren stets die Zutreiber der Konterrevolution. Unsere Erfahrungen in dieser Hinsicht tragen einen erschöpfenden Charakter. Sie wissen, Genossen, daß die Rote Armee vor einigen Tagen Wladiwostok besetzt hat. Damit wird die lange Kette der Fronten des Bürgerkrieges in den verflossenen fünf Jahren geschlossen. Aus Anlaß der Besetzung Wladiwostoks durch die russischen Truppen schreibt der bekannte Führer der liberalen Partei, Miljukow, in seinem Pariser Blatte ein paar historisch-philosophische Zeilen, die ich als klassisch bezeichnen möchte. Er gibt in einem Artikel vom 7. November eine kurze Schilderung der blöden, beschämenden, aber fatalen Rolle der demokratischen Parteien. Ich lese:
„Diese traurige Geschichte“ – sie war immer traurig! (Lachen) – „beginnt mit der feierlichen Erklärung der völligen Einmütigkeit der antibolschewistischen Front. Merkulow (das Haupt der Konterrevolution im Fernen Osten) erkannte, daß die ‚Nichtsozialisten‘ (d. h. die Schwarzen Hundertelemente) ihren Sieg in hohem Grade den demokratischen Elementen zu verdanken hatten. Aber die Unterstützung der Demokratie, fährt Miljukow fort, wurde von Merkulow bloß für den Sturz der Bolschewiki ausgenutzt. Daraufhin ging die Macht an jene Elemente über, die von den Demokraten eigentlich als verkappte Bolschewiki betrachtet wurden.“
Diese Zeilen, die ich von vornherein klassisch bezeichnet habe, mögen banal erscheinen. In Wirklichkeit aber wiederholen sie das, was die Marxisten schon mehr als einmal gesagt haben. Man vergegenwärtige sich aber, daß dies der Liberale Miljukow sagt, nach 6 Jahren Revolution. Erinnern Sie sich, daß er die politische Rolle der russischen Demokratie auf der breiten Arena vom Finnischen Meerbusen bis zum Stillen Ozean zusammenfaßt. So war es mit Koltschak, mit Denikin, mit Judenitsch; so war es während der englischen, französischen und amerikanischen Okkupationen, so war es zur Zeit des Petljuraabenteuers in der Ukraine. In allen unseren Randgebieten wiederholte sich eine und dieselbe ermüdend eintönige Erscheinung : die Sozialdemokratie (die Menschewiki und die S.-R.) treibt das Bauerntum in die Arme der Reaktion, die letztere erobert die Macht, stellt sich bloß und stößt die Bauern ab, worauf der Sieg der Bolschewiki folgt.
Den Menschewiki werden die Augen der Reue geöffnet, doch nicht für lange – bis zur ersten besten Gelegenheit. Dann wiederholt sich diese selbe Geschichte in irgend einem anderen Winkel des Schauplatzes des Bürgerkrieges: zuerst Verrat, dann halbe Reue. Und obwohl diese Mechanik höchst einfach und, wie man meinen könnte, genügend kompromittiert ist, kann man immer noch weissagen, daß die Sozialdemokratie sie in der Periode der höchsten Zuspitzung des proletarischen Kampfes um die Macht in allen Ländern wiederholen wird. Die Hauptaufgabe der revolutionären Partei der Arbeiterklasse ist in allen Ländern – schonungslose Entschlossenheit, sobald es zum Bürgerkrieg kommt.
Zuletzt aktualisiert am 4. Juli 2019