August Thalheimer

 

Um was geht es?

 

1. Die Hauptthesen des Offenen Briefes

Der Offene Brief bringt innerlich wie äußerlich eine bestimmte Periode der Entwicklung der Partei und auch der Komintern zum vorläufigen Abschluß, die begonnen hat mit 1923/24. Damals, 1923/24, begann die Geschichte damit, daß der „Brandlerismus“ konstruiert wurde, daß er als „rechte Abweichung“ gekennzeichnet wurde. Die Zentrale wurde gestürzt, die sogenannten Brandleristen wurden aus allen Funktionen entfernt und gleichzeitig setzte die Methode der materiellen Aushungerung und Verfolgung ein, die seitdem ausgezeichnet weiter entwickelt worden ist. Der mittlere Funktionärkörper der Partei wurde von den sogenannten Rechten gesäubert. Brandler und ich wurden in Moskau festgehalten, um uns zu „bessern“, um uns zu bolschewisieren. Jetzt heißt es in dem Offenen Brief: Brandler und Thalheimer sind „unverbesserlich“. Aus ihrer opportunistischen Abweichung ist angeblich geworden eine ausgesprochen „menschewistische Denkweise“, wie sie besonders im Aktionsprogramm zum Ausdruck komme. Wir werden gekennzeichnet als „echte links-sozialdemokratische Polltikanten“. Es wird von uns gesagt: objektiv sind wir das Werkzeug der Reformisten, eine „Agentur des Reformismus in der Kommunistischen Partei“.

Mit einer bewundernswerten Gabe des Hellsehens wird entwickelt, was unsere innersten Gedanken sind, die weitere Perspektive. Sie stellt sich nach dem Offenen Brief so dar: der nächste Schritt ist die Bildung einer neuen opportunistischen Partei innerhalb der KP, dann Spaltung der KP, als weitere Etappe eine Konzentration der Rechten mit der linken SPD, und als letzte Etappe der Block mit der SPD. Es wird uns nachgesagt, wir beabsichtigten die Gründung eines neuen Spartakusbundes. Wenn die Dinge so beurteilt werden, daß wir bereits beim Menschewismus und Reformismus angelangt sind, dann ergeben sich daraus die organisatorischen Folgerungen, die hier gezogen werden. Der Offene Brief faßt das alles zusammen in dem Ausschluß der Rechten aus der Partei. Hausen, Galm werden direkt durch das EKKI ausgeschlossen, Walcher, Köhler, Enderle, Schreiner, Tittel, Alfred Schmidt, Rehbein wurden durch das deutsche ZK ausgeschlossen, Brandler und ich werden nach Moskau geladen. Da aber das politische Urteil über unser Verhalten bereits in dem Offenen Brief gegeben ist, kann diese Einladung nur den Wert einer Formalität, einer leeren Zeremonie haben.

Dabei wird versucht, nach bekannter Manier Führer und Massen zu trennen. Die „führenden Elemente der Rechten“ werden ausgeschlossen und an die „Arbeiter“ wird appelliert, sie, die ehrlichen alten Spartakusleute, sollen sich trennen von uns.

Der Offene Brief enthält aber darüber hinaus weitere politische und organisatorische Konsequenzen für die Versöhnler. Es heißt in dem Offenen Brief: „für das Versöhnlertum ist in der KPD gegenwärtig kein Platz mehr“, d.h. es wird volle Unterwerfung verlangt, der Verzicht auf jede Kritik, Verzicht auf jeden wirklichen Kampf gegen den jetzigen Kurs des ZK und der Komintern. Das heißt, für diejenigen unter den Versöhnlern, für die ihre Haltung nicht nur eine Anstandsgeste zum Überläufen ist – und ich nehme an, daß es auch solche unter ihnen gibt – steht die Etappe bevor, die wir bereits unter Maslow durchgemacht haben, die Entfernung von den Funktionen. Ein Symptom dafür ist die Situation, der von den Versöhnlern nach Moskau Verschickten, Gerhard und Ewert. Von Gerhard ist mir gesagt worden, daß er auf eine große Reise nach Südamerika oder irgendwohin geschickt werden soll und das, obwohl er in jedem Brief, den er hierherschickt, betone: Abgrenzung von den Rechten; schärfster Kampf gegen die Rechten! Und man sagt, daß er drüben schon als halb Ausgeschlossener betrachtet wird. Was Ewert anbelangt, so zieht man den Isolierungskordon um ihn.

Fugger-Stuttgart, der bisherige Pol-Sekretär für Württemberg, Georg Schumann-Leipzig haben ihren Abschied bekommen, obwohl sie sich in Loyalitätskundgebungen gegenüber der Zentrale und in „Abgrenzungen“ und „Kampfansagen“ gegen die Rechten überboten.

Es ist also kein Zweifel, daß auch für diejenigen unter den Versöhnlern, die Oberhaupt, wenn auch noch so schwach und noch so zweideutig kämpfen wollen, daß auch für sie der Ausschluß aus der Partei die nächste Etappe sein wird.

Was ist die Bedeutung dieses Offerten Briefes? Organisatorisch bedeutet er den Versuch der Abspaltung, der Herausdrängung der alten revolutionären Kader aus der Kommunistischen Partei und der Komintern, der Kader, die die Partei mit begründet haben und die sie während der Periode unmittelbar revolutionärer Kämpfe mit geführt haben. Gleichzeitig aber auch – und das ist sehr charakteristisch – derjenigen unter den jüngeren Kader, die kritisch eingestellt sind gegen den gegenwärtigen Kurs der Partei und der Komintern. Es ist nicht nur eine äußerliche Tatsache, daß diese Entwicklung zu einem gewissen Abschluß kommt gerade um den 10. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei. Es ist insofern nicht zufällig, als eine bestimmte Periode der Entwicklung unserer Partei und der Komintern damit ihren Abschluß erhält. Das Faktum des Herauswerfens der sogenannten „Rechten“, der alten revolutionären und jüngeren kritischen Parteikader, ist um so schwerwiegender und weittragender, als es sich hier handelt um die revolutionären Kader der einzigen Partei der Komintern, außer der russischen, die sich zum Kommunismus entwickelt hat, nicht nur durch den unmittelbaren Anstoß der russischen Revolution, sondern aus den Klassenkämpfen des eigenen Landes heraus – aus den Klassenkämpfen in einem der höchst entwickelten kapitalistisch-imperialistischen Länder. Dies letztere ist charakteristisch.

 

2. Dir Ausgangspunkt der Kommunistischen Partei Deutschlands

Man kann als den Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen in der alten Sozialdemokratischen Partei der zur Kommunistischen Partei geführt hat, etwa die Jahre 1906-1910 setzen. Es ist der Kampf uni den Kautskyschen Weg zur Macht, der Kampf um die Frage des Massenstreiks beim preußischen Wahlrechtskampf, der historisch der Ausgangspunkt der „marxistischen Linken“ und weiterhin der Kommunistischen Partei gewesen ist. Das ist das Wichtige, daß wir in Deutschland allein unter den Westländern eine Kommunistische Partei haben die zum Kommunismus gekommen ist aus den Klassenkämpfen im eigenen Lande heraus und nicht nur durch den unmittelbaren Anstoß der russischen Revolution. Fernerhin ist es charakteristisch, daß diese Teile der Partei, die ausgeschlossen werden sollen, diejenigen umfassen, die wirkliche revolutionäre Kämpfe 1918-1923 mit geführt haben und die auf Grund dieser Kämpfe eine besondere revolutionäre Erfahrung in sich verkörpern, eine Erfahrung, die von Bedeutung ist nicht nur für Deutschland. sondern auch für alle übrigen Länder. Zudem ist charakteristisch für den Teil der Partei, der ausgeschlossen werden soll, daß sein Ausgangspunkt die Aufgabe war, die Erfahrungen der russischen Revolution mit denen der deutschen zu verschmelzen.

Genossen, wegen dieser objektiven Tatsachen, nicht wegen der Personen, die ausgeschlossen werden sollen, haben die organisatorischen Beschlüsse des Offenen Briefes eine weittragende Bedeutung, schließen sie eine tiefe Krisis. in der Kommunistischen Partei und Komintern in mich, deren Auswirkungen sich erst im Anfang befinden.

 

3. Objektive Gründe der Krise

Genossen, wenn wir den Offenen Brief nicht nur betrachten wollen als ein Stock Leichtfertigkeit oder Gewissenlosigkeit, nicht nur als ein einfaches Manöver im Spiel der russischen Fraktionskämpfe, wenn wir diese Voraussetzung nicht machen wollen, und wir dürfen uns auf diese Seiten, die auch da sind, nicht beschränken, dann müssen wir zu dem Schluß kommen, daß tiefe objektive Gründe den Differenzen, die zu dieser Zuspitzung geführt haben, zugrunde liegen. Darum handelt es sich für uns, daß, wir den objektiven Inhalt der Differenzen, die zum Offenen Brief geführt haben, verstehen.

 

4. Das Unverständnis für die Stellung der „Rechten“

Am charakteristischsten ist für den Offenen Brief, daß er vollständig danebenhaut, in dem, was er als unsere Auffassung bezeichnet, daß er ein vollständiges Unverständnis zeigt für das, was die eigentliche Position der sogenannten „Rechten“ ist. Der Offene Brief enthält eine Reihe bewußter, grober und leichtfertiger Entstellungen unserer wirklichen Auffassung. Auf diese werde ich nachher im einzelnen eingehen. Aber er enthält nicht nur das. Das ist Beiwerk. Es wäre verkehrt, in diesen bewußten Entstellungen, von denen der Offene Brief wimmelt, das Wesentliche zu sehen. Das Wesentliche und Grundlegende nicht nur im Offenen Brief als einem Dokument, sondern in der gesamten Einstellung der russischen Partei und ihrer gegenwärtigen Führung, die zugleich die Führung der Komintern ist, zu uns, das ist das völlige Unvermögen, unsere wirkliche Stellung zu verstehen.

Genossen, worin besteht dies? Es besteht darin, daß in der deutschen Partei sich etwas Neues herausbildet, das ans Licht, das zur Geltendmachung drängt, das sich kritisch wendet gegen bestehende Auffassungen und Methoden in der Kommunistischen Partei und der Komintern. Was sich vorbereitet, Ist ein Schritt vorwärts über das Gegebene hinaus.

Dieser Schritt vorwärts bereitet sich nicht erst heute vor, er bereitet sich seit einer Reihe von Jahren, seit 5 Jahren, vor. Unsere russischen Genossen – und das ist das Kennzeichnende des Offenen Briefes und ihrer ganzen Einstellung – sehen das Neue für etwas Altes. Sie ordnen es ein in die alte Schablone des Menschewisinus, der Sozialdemokratie usw. Sie mißverstehen total dieses Neue.

 

5. Zwei entgegengesetzte kritische Stellungen

Genossen! Eine kritische Stellung zum gegebenen Stand der kommunistischen Bewegung – und das ist das Wesentliche, was man verstehen muß –, ist von zwei entgegengesetzten Seiten her möglich. Sie ist möglich von rückwärts, vom Standpunkt der Sozialdemokratie, des Reformismus, vom Standpunkt der Rückwärtsentwicklung unserer Partei und der Komintern in der Richtung des Reformismus und der 2. Internationale. Es ist aber auch ein entgegengesetzter kritischer Standpunkt möglich: von vorwärts, vom Standpunkt einer notwendigen Weiterentwicklung der Partei und der Komintern. Unsere russischen Genossen sehen einen Rückfall in die Sozialdemokratie, wo gerade das Gegenteil vorliegt und ans Licht drängt, wo sich eine höhere Stufe der kommunistischen Bewegung im ganzen vorbereitet Sie verwechseln den Schritt vorwärts mit einem Schritt rückwärts.

 

6. Um was geht es?

Der Generalnenner der Fehler von 1923

Nun positiv, um was geht es, wenn wir von den Einzelheiten absehen? Am klarsten wird das wohl, wenn wir die Fragen des Jahres 1923 zum Ausgangspunkt nehmen. Es ist heute vollkommen klar: der grundlegende Fehler des Jahres 1923 war die Übertragung des revolutionären Schemas, der revolutionären Schablone der russischen Oktober-Revolution von 1917 auf eine ganz anders geartete Situation, auf ganz anders geartete Klassenverhältnisse. Das ist der Generalnenner, auf den sich alle Einzelfehler des Jahres 1923 zurückführen lassen. Die Korrigierung dieser Fehler wurde versucht von seiten der Komintern durch den Maslowkurs, durch die sogenannte „Bolschewisierung“. Das bedeutete die Vertiefung, die Verallgemeinerung und, wenn man will, die Verplattung und Vulgarisierung der Fehler von 1923. Es bedeutete die Übernahme gerade des Schablonenmäßigen an den russischen Erfahrungen, des nicht Übertragbaren. Das ging, wie ihr alle wißt, bis zu den lächerlichsten Äußerlichkeiten. Wenn wir in Moskau und die Genossen, die hier in Deutschland waren – wenn wir harthörig waren gegenüber dieser „Bolschewisierung“, hartnäckig, „unverbesserlich“, so aus dem Grunde, weil wir instinktiv fühlten, was wir heute klar verstehen, daß dieser Kurs der „Bolschewisierung“ keine Verbesserung des grundlegenden Fehlers von 1923 war, sondern gerade umgekehrt seine Verschlimmerung, die hervorgegangen ist aus dem völligen Mißverstehen der Art der Fehler, die 1923 gemacht wurden.

 

7. Die richtige Verallgemeinerung der russischen Erfahrungen

Worum ging es damals und geht es heute? Es geht darum, daß wir die spezifischen Züge der russischen Revolution erkennen, daß wir die richtige Verallgemeinerung oder; wie Lenin sagte, die richtige „Übersetzung“ der russischen Erfahrungen in andere Sprachen, d.h. ihre richtige Übertragung auf andere Verhältnisse, durchsetzen. Es handelt sich weiterhin darum – und das ist das Entscheidende, der Kern, um den es geht – auf Grund einer richtigen Verallgemeinerung der russischen und der eigenen revolutionären Erfahrungen die besonderen, spezifischen, konkreten Züge der proletarischen Revolution in Deutschland unter den Klassenverhältnissen, die wir hier haben, herauszuarbeiten. Das ist mit einem Wort bezeichnet letzten Endes der Inhalt des Kampfes in den letzten 5 Jahren innerhalb der deutschen Partei, der Komintern und es ist der Inhalt der kommenden Arbeit, die wir zu leisten haben. Es handelt sich um die Herausarbeitung der spezifischen, besonderen Zuge, Methoden, Mittel, Taktik, Strategie, Organisation der proletarischen Revolution in Deutschland. Das bedingt zwei Hauptmomente: Erstens, daß wir kritisch rein ausscheiden aus dem, was uns durch die Erfahrungen der russischen Revolution gegeben wird, das, was sich an besonderen russischen Zügen noch darin befindet. Das ist der kritische und negative Teil dieser Arbeit. Zweitens, und ebenso wichtig oder wichtiger, der positive Teil, das ist die positive Herausarbeitung der Grundzüge der Taktik und Strategie der proletarischen Revolution für Deutschland, für die deutschen Klassenverhältnisse. Und das bedingt zugleich eine Weiterentwicklung dessen, was heute in der KPD und der Komintern als revolutionäre Doktrin da ist.

 

8. Die internationale Bedeutung dieser Aufgabe

Man könnte sich fragen, ob diese Arbeit, die wir für Deutschland zu leisten haben, nicht eine rein provinzielle Bedeutung, eine Bedeutung nur für Deutschland hat. Ich bin der Meinung, sie hat weit darüber hinaus eine Bedeutung für die gesamte Internationale, für die gesamte revolutionäre Bewegung in allen Ländern. Nicht nur in den hochkapitalistischen Ländern, sondern auch im Osten. Erstens deswegen, weil es für alle Länder, für alle Parteien, für alle revolutionären Bewegungen wichtig ist, daß die spezifisch, russischen Züge, die sich heute noch in den Methoden der Komintern befinden, rein ausgeschieden, rein herausgeschält werden. Erst wenn wir das Gesamtresultat der russischen und internationalen revolutionären Erfahrungen reinigen von den zufälligen Besonderheiten, die noch darin stecken, erst dann wird die Grundlage gegeben werden, von der aus alle übrigen Parteien die besonderen Züge ihrer Revolutionen ausarbeiten können. Also diese kritische Arbeit hat eine internationale Bedeutung.

Zweitens das Positive, das wir herauszuarbeiten haben in Deutschland, der spezifische Gang und die spezifischen Methoden der proletarischen Revolution in Deutschland, das hat Bedeutung für eine ganze Reihe von hochkapitalistischen Ländern wie Frankreich, England, Italien usw. Natürlich nicht in der Art, daß diese Länder und Parteien auch weder sklavisch kopieren, was wir in Deutschland herausdestillieren. Aber einige Züge dessen, was wir in Deutschland herauszuarbeiten haben, werden in der Gegenwart und Zukunft für eine Reihe hochkapitalistischer Länder von Bedeutung sein.

Und drittens ist von Bedeutung, daß der Kampf, der hier In Deutschland zu einem gewissen Abschluß und zugleich zu einem neuen Anfang gekommen ist, zugleich organisatorisch und methodisch Raum schaffen soll in der Komintern, damit die Parteien fähig und imstande sind, ihre eigenen Methoden auszuarbeiten.

Hier sind unsere russischen Genossen festgefahren und wir haben das nicht nur mit Entrüstung zu beurteilen, sondern auch geschichtlich zu verstehen. Es ist klar, daß unsere russischen Genossen, die selber das Produkt einer besonderen historischen Entwicklung sind, Eierschalen ankleben haben, die nur durch kräftige Schläge, nicht schmerzlos, zu beseitigen sind.

 

9. Unser prinzipieller Gegensatz zur rechten und linken Sozialdemokratie

Diese Aufgabe bedingt von uns eine kritische Haltung gegenüber dem gegenwärtigen Kurs der Kommunistischen Partei Deutschlands, wie gegenüber dem Kurs der Komintern, aber von dem entgegengesetzten Standpunkt aus, wie der ist, den die Sozialdemokratie einnimmt. Die Sozialdemokratie steht auf dem Standpunkt der Bourgeoisie, der bürgerlichen Republik, der Konterrevolution. Der unserige ist der der Revolution, der proletarischen Diktatur, der Räterepublik. Ein solcher totaler Unterschied, ein solcher totaler Gegensatz besteht nicht nur gegenüber der Sozialdemokratie als Ganzes, er besteht insbesondere gegenüber der Linken in der Sozialdemokratie, mit denen uns unsere sehr geschätzten russischen Genossen zu verwechseln scheinen. Ich nenne hier die Stellung von Otto Bauer. Worin besteht sie? Otto Bauer sagt, die proletarische Diktatur in der Sowjet-Union ist eine russische Besonderheit, die sich aus der besonderen Rückständigkeit der russischen Revolution erklärt, daraus, daß die russische Revolution eine eigenartige Verbindung einer sozialistischen mit einer agrarischen Revolution unter besonders rückständigen Verhältnissen gewesen ist. Für die übrigen Länder, die so unendlich höher stehen nach seiner Einschätzung, steht Otto Bauer auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie. Ich will das in einem kleinen Schema zusammenfassen: Die, rechte Sozialdemokratie steht grundsätzlich auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie, lehnt die proletarische Diktatur in Bausch und Bogen für alle Länder ab. Die linke Sozialdemokratie – und ich meine hier ihren fortgeschrittensten Flügel – steht ebenfalls grundsätzlich auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie. Er läßt die proletarische Diktatur nur gelten für Rußland, das nach seiner Auffassung eine historische Sonderstellung einnimmt. Weiter, nach der Vorstellung von Otto Bauer wird sich die proletarische Diktatur in Rußland eben, weil sie etwas Rückständiges ist, „vorwärts“ entwickeln müssen zur ordinären und vulgären bürgerlichen Demokratie, die wir in Deutschland und anderen kapitalistisch entwickelten Ländern haben.

 

10. Unsere Aufgabe: Die Ausarbeitung des konkreten Weges zur proletarischen Revolution in Deutschland

Und nun zu uns, Genossen. Wir stehen mit auf dem Boden der Grundsätze, die Lenin als für den Kommunismus grundlegend bezeichnet hat, das ist die proletarische Diktatur und die Räte. Hier möchte ich erinnern, um unseren Standpunkt deutlich hervorzuheben, wie außerordentlich scharfsinnig, genau und weitblickend Lenin sich geäußert hat über die Rätediktatur, so wie sie in Rußland entstanden ist. Lenin hat gesagt, und zwar erst, nachdem die Arbeiterräte 1918 auch in Deutschland und Österreich aufgetaucht sind: Die Tatsache, daß Arbeiter- und Soldatenräte jetzt in Deutschland und Österreich auftauchen, in hochentwickelten kapitalistischen Ländern, bedeutet, daß die Räte nicht nur eine russische, sondern eine internationale Bedeutung haben. Er sagte aber weiter – und das ist für uns von großem Interesse: Wir haben hier in Rußland einen bestimmten Typus des Rätestaates, der Räterepublik geschaffen. Das heißt, Lenin glaubte nicht, daß sämtliche Züge der russischen Räterepublik allgemeine Bedeutung haben, sondern daß es nur bestimmte Züge in dieser russischen Räterepublik sind, die allgemeine Bedeutung haben. Deswegen sprach er vom Typus des Rätestaates. Wenn ich von einem Typus oder einer Gattung rede, so schließt das ein, daß ein solcher Typus Abarten, Unterarten, verschiedene Veränderungen erleiden kann und das ist für uns wichtig, Genossen, erleiden muß, wenn ein solcher Rätestaat in anderen Ländern und unter anderen Klassenverhältnissen entstehen soll. Die Räterepublik, das ist politisch das Ziel, das wir erstreben. Wenn dieses Ziel, wenn der Typus des Rätestaates gewisse Abänderungen entsprechend den Klassenverhältnissen anderer Länder erleiden muß, ergibt sich daraus für uns eine höchst wichtige Folgerung und zwar, daß auch der Weg zur Räterepublik in verschiedenen Ländern nicht haarscharf genau der russische Weg sein kann. sondern daß auch dieser Weg den Abänderungen, der „Übersetzung“ aus dem Russischen ins Deutsche, Französische, Englische, Chinesische, Indische usw. bedarf. Das schließt ein die Taktik, das schließt ein die Strategie der proletarischen Revolution in Deutschland, das schließt ein die Methoden der Agitation und Propaganda. Es schließt alles ein bis hinunter zu den Organisationsmethoden.

Genossen, es gibt keine Seite der Parteitätigkeit, die nicht infolgedessen eine besondere Modifikation, eine besondere „Übersetzung“ erleiden mußte. Diese Besonderheiten haben wir kritisch und positiv auszuarbeiten begonnen. Wir haben sie keineswegs vollendet. Und, Genossen, warum wir sie nicht vollendet haben, das ist natürlich nicht nur eine persönliche Sache, eine Sache der Zeit usw., sondern daß nur eine weitere geschichtliche Erfahrung, weitere Kämpfe uns weitere besondere Züge dieses Weges zur proletarischen Revolution in Deutschland zeigen können. Genossen, das ist es, worum in der Vergangenheit der Kampf ging zwischen den sogenannten „Rechten“ und der Komintern und speziell unseren russischen Genossen. Das ist auch der Kerninhalt des zukünftigen Kampfes und der zukünftigen Arbeit.

Ich will aus dem, was wir bisher auf diesem Gebiete getan haben, nur einige Punkte herausheben, sie aber hier nicht im einzelnen entwickeln.

Ein erster Versuch dazu liegt vor in dem Entwurf eines Aktionsprogamms, das in der Kommunistischen Internationale veröffentlicht worden ist. Wir haben hier herausgearbeitet die besondere Rolle der Trusts in Deutschland, die besonderen Methoden, die nötig sind, um gegen die Trustwirtschaft politisch zu kämpfen.

Wir haben hier die Produktionskontrolle als ein taktisches und strategisches Mittel für diesen Kampf herausgearbeitet. Wir haben herausgearbeitet die Bedeutung der Übergangslosungen. Wir haben weiter auszuarbeiten die besonderen Mittel und Formen der Vorbereitung und Durchführung des bewaffneten Aufstandes unter den deutschen Verhältnissen, die besonderen Formen und Mittel des wirtschaftlichen Kampfes und seines Verhältnisses zum politischen Kampf, die besondere Anpassung des von uns als prinzipiell richtig anerkannten Prinzips der Zellenorganisation an die Bedürfnisse der Bewegung in Deutschland, die besonderen Formen des Organisationslebens, das in diesem Stadium unsere Partei nötig hat usw.

Ich zähle diese Dinge nur auf, ohne im einzelnen darauf näher einzugehen. Aber Sie sehen, es liegt hier bereits ein wichtiger Anfang vor und der Kampf darum bedeutet eben den Kampf um die Weiterentwicklung dieser Arbeit. Charakteristisch für die andere Seite, an deren Spitze unsere russischen Genossen und ihre hiesige Gefolgschaft stehen, ist, daß in dem Moment, wo wir die Besonderheiten des Weges der deutschen Revolution herausarbeiten; sie umgekehrt das spezifisch Russische in den Methoden vertiefen. Sehr symptomatisch dafür ist nicht nur die Sache, sondern auch das Wort der „Bolschewisierung“, was als Anhängsel an die russischen Fraktionskämpfe nach 1923/24 eingeführt wurde. Ich weiß nicht, ob Sinowjew sich etwas dabei gedacht hat damals, wo in der russischen Partei das Wort aufgegriffen wurde als ein fraktionelles Kennwort gegeneüber Trotzki und dem Trotzkismus. Ich weiß nicht, ob er sich was dabei gedacht hat, als er das auf die übrigen kommunistischen Parteien übertragen hat. Die Übertragung ist erfolgt und was bedeutet das? Die bolschewistische Partei hat auf den Antrag von Lenin im April 1917 den Namen „Sozialdemokratische Partei Rußlands“ als Hauptnamen abgelegt und den Namen „Kommunistische Partei“ angenommen. Sie hat sich nicht „bolschewistjsche Partei“ geheißen, sondern diesen Namen dem kommunistischen nur in Klammern beigefügt. Das hat nicht nur eine äüßerliche, sondern eine tiefgehende innere Bedeutung. In dem früheren Namen sind die besonderen Züge der russischen revolutionären Entwicklung, der russischen revolutionären Partei, eingeschlossen. Im Namen Kommunistische Partei wird nicht das besondere russische Moment betont, sondern das, was von allgemeiner Bedeutung ist.

Die „Bolschewisierung“ blieb natürlich nicht beim Wort, sondern es kam zum Versuch, die spezifisch russischen Methoden, und zwar die Methoden der russischen Partei, die die Macht in der Hand hat, auf die anderen Länder schablonenmäßig zu übertragen. Wenn Sie ein Musterbeispiel für diese Tendenz haben wollen, dann sehen Sie sich die Broschüre von Heinz Neumann an über die „Bolschewisierung“. Das ist – auch wenn man ganz von der Person dieses Heinz Neumann absieht – ein lehrreiches Dokument insofern, als es sich zeigt, was dabei herauskommt, wenn man mechanisch. affenmäßig, die russischen Dinge kopiert und nicht eine Minute überlegt, daß die russischen Dinge ins Deutsche, Französische, Englische usw. zu übertragen sind und daß das eine eigene Gedankenarbeit erfordert.

Das zweite Symptom für die Zuspitzung dieser spezifisch russischen Zuge zeigt sich auch außenpolitisch. Es ist doch eine sonderbare Erscheinung, daß in der Außenpolitik, die unsere Kommunistische Partei in Deutschland treibt und die auch die anderen Parteien in anderen Ländern treiben, daß es für diese Außenpolitik nur Ein Thema gibt: die Verteidigung der Sowjet-Union. Selbstverständlich ist die Verteidigung der Sowjet-Union eine Pflicht aller kommunistischen Parteien, aber sie ist nicht die einzige Pflicht und sie ist nicht der einzige und vielleicht auch nicht wichtigste Hebel, mit dem man die Massen in außenpolitischen Fragen mobilisieren kann. Es ist völlig weggefallen eines Sache, die vor Jahren in der Kommunistischen. Partei existierte, nämlich Stellungnahme zu den außenpolitischen Fragen Deutschlands, Frankreichs, Englands usw., natürlich vom, proletarischen Gesichtspunkt aus. Ich erinnere daran, wir haben eingehend Stellung genommen zum Versailler Vertrag und allen Fragen, die damit verbunden sind, zur Reparationsfrage usw. Diese Fragen scheinen heute völlig verschwunden.

Dann ist noch charakteristisch die völlige Abhängigkeit der innerparteilichen Auseinandersetzungen nicht nur in der deutschen Partei, sondern in allen anderen Parteien, von den Fraktionskämpfen innerhalb der russischen Partei. Auch das ist ein besonderer Zug. Wenn wir in Deutschland, in Frankreich und anderen Parteien, wo überhaupt ein Konflikt auftaucht, wenn wir hier mit einem Male plötzlich die „Rechte Gefähr“ haben, ist das das deutlichste Zeichen dafür, wie hier eine grobe und künstliche mechanische Übertragung vorhanden ist. Vielleicht ist das bloßer Laienverstand und nicht genügende Bolschewisierung, wenn ich die bescheidene Meinung äußere, daß ich mir sehr wohl denken kann, daß, wenn in Sowjetrußland eine „Rechte Gefahr“ existiert, gleichzeitig in Java oder Borneo eine „Linke Gefahr“, oder in einem anderen Lande eine „versöhnlerische“, daß in einem dritten sogar eine Richtung „die Gefahr“ sein kann, die im russischen Fraktionskampf überhaupt nicht vertreten ist. Das alles sind für mich Möglichkeiten. Mir erscheint die Art, die ganze Kommunistische Internationale mit einer Farbe anzustreichen, weil das zufällig die richtige oder unrichtige Fraktionsfarbe in Rußland ist weder richtig, noch kommunistisch, noch überhaupt vernünftig.

Dann ein vierter Zug dieses Auswuchses der spezifisch russischen Züge, dieses Hineintragens der prononcierten russischen Züge in die internationale kommunistische Bewegung im Moment, wo sie gerade des Gegenteils bedarf, ist die Übertragung der Methoden des ideologischen Kampfes, wie er in der russischen Partei geführt wird, auf die deutsche usw. Ich will mich nicht auslassen über die Methoden, mit denen der sogenannte ideologische Kampf in Rußland geführt wird. Es ist möglich, daß man ihn auch dort vielleicht anders führen könnte. Immerhin: wir verlangen nicht, daß unsere russischen Genossen im ideologischen Kampf genau dieselben Methoden anwenden sollen, die hier in Deutschland, Frankreich, England usw. taugen. Aber auch das Umgekehrte wollen wir nicht haben und halten es für falsch.

 

11. Einige historische Tatsachen

Nun noch zur Beleuchtung des vollkommenen Unverständnisses für die Situation von der Seite unserer russischen Genossen und der Komintern im ganzen. Da will ich einige historische Tatsachen anführen, die auch sehr verbohrte Leute zum Denken veranlassen sollten. Als erste dieser Tatsachen will ich die nennen, daß gerade der Teil der Partei, der heute verdächtigt wird, er wolle zur Sozialdemokratie, zum Reformismus zurück, das heißt, er stehe auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie, so wie Crispien und Dittmann etc. – das hat man ja auch Hausen vorgeworfen – daß gerade dieser Teil der Partei es gewesen ist, der nicht in Worten, sondern in der Tat den Kampf um die proletarische Diktatur, den Kampf um die Räte in Deutschland geführt hat. Genossen, es ist eine sehr sonderbare Erscheinung, gerade von diesen Genossen, von diesem Teile der Partei anzunehmen, er neige zurück zur Sozialdemokratie, zur bürgerlichen Demokratie.

Die zweite Tatsache, die in diesem Zusammenhang angeführt werden muß, und bei der man sich krampfhaft an alte Vorgänge klammert – ein spezifisch bürokratischer Zug, da man nicht versucht, etwas Neues zu begreifen – ist die, daß wir, die sogenannten „Rechten“, den Kampf durchgeführt haben gegen Levi, durchgeführt haben nicht mit KAPistischen Übertreibungen. Daß wir gerade auch diejenigen sind, die den Kampf gegen die KAG geführt haben, das sind historische Tatsachen, über die man nicht so glatt hinweggehen kann.

Dann eine dritte und selbst von uns meistens nicht genügend gesehene Tatsache, daß wir es gewesen sind, die einen hervorragenden Anteil gehabt haben an der Ausarbeitung der Grundzüge der kommunistischen Taktik, so wie sie der II. und III. Komiritern-Kongreß noch unter Mitwirkung von Lenin festlegte. In den Fragen der Gewerkschaften, der revolutionären Ausnützung des Parlamentes, der Benutzung der legalen und illegalen Mittel, der Verbindung der Massenaktionen mit der parlamentarischen Aktion, in einer ganzen Reihe von Fragen hat gerade diese Gruppe, die heute als Gruppe, die heute als „Rechte“ und „Sozialdemokraten“ bezeichnet werden, Pionierarbeit für die gesamte internationale geleistet, gewiß mit Hilfe unserer russischen Genossen, vor allen Dingen des Genossen Lenin. Dabei haben wir absolut nicht nötig, als Gruppe, als Richtung, eine Selbstglorifizierung unserer eigenen Vergangenheit zu treiben. Das haben wir nicht nötig. Wir stellen uns auch kritisch zu unserer eigenen Vergangenheit. Uns kommt es nicht darauf an, das, was gewesen ist, im bengalischen Licht erstrahlen zu lassen, vielmehr es kritisch von der Seite zu behandeln, daß es fortentwickelt wird.

 

12. Auch eine Kritik der Parteigeschichte

Genossen, da sich ja der 10jährige Gründungstag der Partei nähert, will ich einige Worte einschieben über die kritische Stellung, die wir der eigenen Geschichte der Partei gegenüber einnehmen und der kritischen Stellung, die heute ein Werner Hirsch und ein Neumann sowie auch russische Genossen gegenüber dieser Vergangenheit einnehmen. Ich sage das. nicht in erster Linie wegen der Vergangenheit allein, sondern vor allem wegen der Gegenwart und auch der Zukunft. Die Kritik, so wie sie von Neumann und Hirsch geübt wird, was ist ihr eigentlicher Inhalt, Genossen? Hier gibt es einige sehr sonderbare Dinge. Das erste, was sie der Kommunistischen Partei und dem Spartakusbund vorwerfen, ist, daß sie nicht fix und fertig als bolschewistische Partei auf die Welt gekommen sind. Genossen, dagegen kann man nicht viel sagen, das ist der Fehler des Geborenwerdens einer Partei. Im Grunde ist das der Vorwurf, daß wir als Partei überhaupt eine Geschichte haben. – Genossen, und dann ist es sehr charakteristisch, daß diese Kritik der Parteivergangenheit gerade die fehlerhaften Gesichtspunkte ihrer heutigen Stellung in sie hineinträgt. Sie werfen uns nicht nur vor, daß die Partei eine Geschichte hat, sondern spitzen es dahin zu: der Fehler dieser Geschichte ist die die Partei nun doch mal gehabt hat, wenn auch unerlaubterweise, daß sie nicht die Geschichte der bolschewistischen Partei, daß sie eine eigene Geschichte mit eigentümlichen, besonderen Zügen ist, die aus den besonderen Verhältnissen zu erklären sind, aus denen sie herausgewachsen ist. Also die Geschichte, die wir hatten, hat den Fehler in den Augen von Thälmann und auch in den Augen unserer russischen Genossen, daß sie nicht Buchstabe für Buchstabe identisch, ist mit der Geschichte der russischen Partei. Dafür ist aber auch die Geschichte verantwortlich, wir können das nicht ändern.


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008