Victor Serge

 

Die gegenwärtige Realität

(1946)


Victor Serge, Für die Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Hamburg 1975, S.23-31.
Übersetzung aus dem Französischen: Marita Molitor.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive. [1*]


Das bedeutendste Faktum dieser Nachkriegszeit besteht darin, daß es keinen Frieden gibt. Alle Hoffnungen der Menschen sind enttäuscht worden. Weder Aussöhnung der Opfer, noch Wiederaufbau eines neuen Europa, noch Neugestaltung der Welt für die friedliche Arbeit, noch sozialistische oder tendenziell sozialistische Revolution ... Eine diplomatische Konferenz folgt auf die andere, und die Konflikte verschärfen sich. Wir haben das Gefühl, zwischen zwei Kriegen zu leben. Die ausgehungerten Völker bluten noch. Die Vereinigten Staaten stellten Atombomben her. Eine Großmacht, die die Sudküsten der Ostsee beherrscht, erprobt neue automatische Raketen aber Schweden. Ein russischer Wissenschaftler kündigt an, daß sein Land seinerseits bald Atombombenversuche starten will ... In den Köpfen herrscht ein solcher Pessimismus, daß man, als neulich eine Sturmflut die chilenischen Küsten verwüstete, an unterseeische Atomkriegs versuche dachte ... Die Mandschurei, China, der Iran, Kurdistan, die Dardanellen, Palästina, die Balkanländer, Triest, Österreich, Polen und Deutschland sind weitere Krisenherde. In ganz Eurasien, von Sachsen bis Korea, vom nördlichen Eismeer bis zum Mittelmeer stehen sich zwei bewaffnete Mächte gegenüber.

Es wäre leicht, an dieser stelle wieder einmal den Kapitalismus und die kapitalistischen Imperialisten anzuklagen. Der Sozialist, der diese Zeilen schreibt, hat die wahren Voraussagen des Marxismus keineswegs vergessen; aber er will sich nicht von den Tatsachen der Vergangenheit blenden lassen, sondern er will klar sehen und aus den erstickenden Widersprüchen der Gegenwart die gefährlichsten Grundtendenzen, die unmenschlichsten Kraftlinien herauskristallisieren. Er stellt fest, daß Europa und Nordafrika ohne die amerikanische Intervention heute unter dem Nazitotalitarismus litten und die UdSSR besiegt wäre. Er stellt fest, daß das britische Empire, das von der Arbeiterpartei regiert wird, sich aus Ägypten zurückzieht und Indien die Unabhängigkeit anbietet. Er stellt fest, daß die alten Methoden der kolonialen Ausbeutung abgenutzt sind. Er glaubt die Amerikaner genügend zu kennen, um der Ansicht zu sein, daß die große Mehrheit der Amerikaner trotz ihrer kolossalen industriellen Vormachtstellung und der Gesellschaftsstruktur einer von großen Trusts beherrschten Republik, die sehr darauf aus sind, mit der ganzen Welt „gute Geschäfte zu machen“, nicht daran denkt, den fünf Erdteilen Tyranneien aufzuzwingen, sondern im Gegenteil eine erträgliche Neuorganisation der interkontinentalen Beziehungen wünschen wurde ... Er stellt fest, daß das totale Scheitern des Wiederaufbaus – der zwangsläufig ansatzweise sozialistisch gewesen wäre – Europas auf den Invasionen, Besatzungen, Plünderungen und Aggressionen der UdSSR beruht. [1]

Man hat die Formel des preußischen Strategen Clausewitz „Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik“ oftmals kritisiert. In den autarken Ländern, deren Regierungen keine Meinungskontrolle zu fürchten haben, ist die aggressive Außenpolitik der unvermeidliche Fortsetzung der Innenpolitik der unbeliebten Regime, die sich in permanentem Krisenzustand befinden. Gewiß, der Terror bietet relativ leichte Lösungen für Krisen, aber nicht auf unbegrenzte Dauer; man muß andere Lösungen finden: die Ausweitung des Systems, die Eroberung von „Lebensraum“. Denken wir auch an die Verdächtigungs– und Angstpsychosen, die unter den regierenden der Terror-Regime herrschen.

Welche Tatsachen spielen in bezug auf Rußland eine Rolle? – Der Totalitarismus hat sich nur in einem Punkt verändert: er hat den Bevölkerungen eine religiöse Freiheit gewahrt, die entsprechend kontrolliert wird, und wobei der unterwürfige, durch Verfolgungen gezähmte Klerus öffentlich Gebete für den Chef sprechen laßt. Geblieben sind: Einheitspartei, Führerkultur, gesteuertes Denken, Informationsmonopol, Polizeiapparat.

Wenn es in Rußland eine sozialistische Regierung gäbe, worden die Tatsachen sie zum sofortigen Handeln zwingen: nämlich die Tatsachen der Knechtschaft der Strafgefangenen in den „besonderen Zwangsarbeitsregionen“ abschaffen; die Fehler zu beheben, die ursächlich für die ablehnende Haltung der nationalen Minderheiten gegenüber der Sowjetregierung gewesen waren; den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete zu beschleunigen und die allgemeine not durch ökonomische Zusammenarbeit mit dem Ausland abzubauen; friedliche und brüderliche Beziehungen mit einem abgerüsteten Europa zum Wiederaufbau eines dauerhaften Friedens herzustellen; die Industrien zum wohl der Bürger und nicht für den zukünftigen Krieg wieder zu errichten und weiterzuentwickeln; in den Ländern, in denen die Rote Armee ihre Fahnen gehißt hat, Beispiele für soziale Gerechtigkeit und Brüderlichkeit zu geben ... Wir sind weit davon entfernt.

Ich möchte an dieser Stelle vor einem gewissen Fanatismus warnen. Alle diese Tatsachen – und eine ganze Menge weiterer Fakten dieser Art – sind weitgehend in der englischsprachigen Tagespresse und in der linken Presse veröffentlicht worden. Niemand hat sie abgestritten. Niemand hat sie geleugnet. Niemand hat sie gerechtfertigt, weil sie nicht zu rechtfertigen sind.

Ich kenne den russischen Menschen, ich kenne den russischen Soldaten. Wie alle Soldaten in der Welt ist er zum besten und zum schlechtesten fähig, aber der Krieg veranlaßt ihn eher zum schlechtesten, das ist natürlich. Der russische Soldat war während dieses teuflischen Krieges der am schlechtesten gekleidete, der am schlechtesten ernährte, der am härtesten gedrillte Soldat. In keiner anderen Armee hat, soviel ich weiß, der Offizier das Recht und die Pflicht, einen Kämpfer, der schwach wird, der es an Disziplin oder an Respekt gegenüber Höhergestellten fehlen läßt, standrechtlich zu erschießen. (Ein solches Ereignis wird in einer Novelle des kämpfenden Schriftstellers Alexander Bek berichtet, der in die UdSSR einen offiziellen und in gewisser Weise verdienten Erfolg hatte.) Dennoch hat kein Soldat in der Welt einen energischeren Krieg geführt. Eine ganze Jugend wurde geopfert. Der russische Soldat, der gefühllos gemacht, ausgehungert, verzweifelt und den größten Entbehrungen ausgesetzt war, konnte kein großzügiger Sieger sein ... Was man dem Regime zur Last legen muß, ist die Systematisierung und Generalisierung von Verbrechen nach dem Sieg; die Arbeiterwohnungen in Wien und Berlin wurden systematisch geplündert; Offiziere, die über das Leben ihrer Männer verfügten und in anderen Situationen völlig diszipliniert waren, haben die Vergewaltigungen in Berlin sanktioniert, bewußt toleriert oder selber begangen. Was muß man daraus schließen? Daß das politische Oberkommando damit einen bestimmten Zweck verfolgte, nämlich die Besiegten durch Terror und Elend physisch und psychisch zu zerbrechen. Und die Besiegten, das waren in diesem Fall nicht die Nazis, sondern die Arbeiter, das Proletariat und die Mittelschichten; das waren die Opfer des Nazismus (selbst nach Ansicht der kommunistischen Propaganda). Das ist das System, das in den Strafanstalten praktiziert wird: erst richtet man Mann oder Frau zugrunde; dann erscheint ihnen die geringste Milderung wie eine Wohltat ...

Der Totalitarismus rechtfertigt seine Expansion – wieder einmal – mit dem Bedürfnis nach Sicherheit. Wem springt die Falschheit dieses Arguments nicht in die Augen? Deutschland ist auf lange Zeit erschöpft und könnte höchstens im Dienste dieser oder jener Siegermacht wieder gefährlich werden. Darum geht es also nicht mehr. Ein kleines freies Polen, das 30 Jahre bräuchte, um seine Wunden zu heilen, wäre ebenfalls keine wirkliche Gefahr für die UdSSR mit 190 Millionen Einwohnern. Aber ein Mittel– und Osteuropa, in dem der Frieden wiederhergestellt wäre, und das mit demokratischen, notwendigerweise vom Sozialismus beeinflußten Regierungen seinen Wiederaufbau leisten wurde, Wäre – auch ohne Bomber – aufgrund seiner Nachbarschaft eine Gefahr für die absolute Regierung eines großen, zur Armut verdammten, der Freiheit beraubten und dennoch denkenden Landes. Der Totalitarismus legt sich einen Gürtel von Satelliten-Staaten um; es bleibt ihm nichts anderes übrig, aber indem er das tut, ruiniert er seine Sicherheit, weil er um sich und bei sich unlösbare Probleme, reifenden Haß, explosive Substanzen anhäuft und die Auseinandersetzung um die Beherrschung des Kontinents eröffnet.

Verfolgen wir die weiteren Tatsachen. Wir waren nur eine Handvoll Leute, die seit 10 Jahren angesichts solcher Verbrechen, die die Grundlagen des moralischen gewisses des modernen Menschen in Frage stellten, und insbesondere den sozialistischen Humanismus erschütterten, die Notwendigkeit der moralischen Intervention forderten. Heute weiß man, daß die blutigen Schauprozesse in den Jahren 1936 bis 1938 in Moskau das Abkommen zwischen Molotow und Ribbentrop vorbereiteten. Diesbezüglich müssen zwei weitere Feststellungen gemacht werden:

Das sind die Tatsache; an denen nicht zu rütteln ist. Ich fahre sie hier noch einmal mit Bitterkeit und Schmerz auf, weil es sein muß. Mit Lüge, Betrug, Falschheit und unschuldig vergossenem Blut wird man auf den Gräbern und Ruinen nichts neues aufbauen können. Nichts! Aber man wird, wenn man die Augen verschließt, neue Zerstörungen, neue Massengräber schaffen. Französische Kommunisten werden meine Zeilen mit Empörung lesen. Einige werden mich auf Befehl oder aus Schmerz des Hochverrats bezichtigen ... Genossen, Genossen, die ihr der Partei angehört, die die größten Genossen erschossen hat, würde ich ihnen ruhig antworten, seht und denkt nach. Informiert euch, dann könntet ihr schimpfen und toben. Was euch noch mitreißt, euch, die aufrichtigen Kommunisten, – und nicht die professionellen Agenten, ist die Erinnerung an die erste sozialistische Revolution in einer von Katastrophen bedrohten Welt; und diese Erinnerung ist mächtiger als jede niedrige Gesinnung. Euer Leben beruht auf einem Vermögen, das in den Dreck geschleudert wird, und der Dreck ist mit viel Blut vermischt. 1917, das war „der Frieden der Völker ohne Annexion und ohne Entschädigung“! Das war die Solidarität mit allen Unterdrückten der Erde. Das war die Übergabe des Bodens an die Bauern, die Abschaffung der Todesstrafe! Das war ... Man weiß nicht mehr, was das war! Und nichts von dem, was war, kann wiederaufleben, denn der Totalitarismus ist aber den Körper der Revolutionäre, über die Erinnerungen, über die sozialistischen Errungenschaften, über eure Gehirne hinweggetrampelt ... Widerlegt mich doch! Sagt: das ist nicht wahr, beweist es, fordert die Partei auf, die Argumentation, die ich und hundert andere hier vorbringen, zu widerlegen. Verlangt von den betroffenen Botschaften triftige, nachprüfbare Dementis. Oder rechtfertigt alles, nehmt alles auf euch, schluckt alles! Das wäre schlimm für euch, denn dann gibt es nichts Gemeinsames mehr zwischen euch und den freien Menschen, euch und dem aufrechten Bewußtsein, euch und dem Sozialismus, euch und dem geringsten funken Freiheit ...

Die Intellektuellen legen einen sonderbaren guten Willen an den Tag, um den von der totalitären Partei betrogenen Massen eine zweideutige Dialektik anzubieten. Sie leugnen nichts. Dazu sind sie zu geschickt und zu vorsichtig. Sie tun so, als zweifelten sie, und man merkt, daß sie in Wirklichkeit ein wenig an sich selbst zweifeln. Sie tun so, als erklärten sie alles, und sie erklären nichts. Damit hinterlassen sie auf dem Papier trügerische Phrasen, die für den Unwissenden oder den gutwilligen Betrogenen etwas Stichhaltiges auszusagen scheinen ... Ein Christ schreibt zum Beispiel: „... der Kommunismus ist jung und hat keine Jahrhunderte lange Existenz hinter sich; man darf sich nicht wundem, daß seine Anfänge blutig sind ...“ etc. (Martin Brionne, Esprit, 1. Mai 1946, S.699). Aber ist das wirklich der Kommunismus, mein Herr? Woran erkennen sie ihn? Ist es nicht vielleicht das Gegenteil? Im Evangelium gibt es einen gewissen Kommunismus, im Werk von Marx und seinen Nachfolgern gibt es einen anderen ... Welchen erkennen sie und woran?

Geben sie irgendeinem Regime, das den Menschen vernichtet, einige Jahrhunderte, und es wird sich ändern, ganz bestimmt. Auch der Nazismus hatte sich wahrscheinlich nach einigen Jahrhunderten geändert. Bezweifeln sie es? Derselbe Publizist schreibt weiter, daß „das slawische Temperament kein Maß kennt.“ Unter seiner Zwangsjacke hat das slawische Temperament, die „slawische Seele“ einen breiten Rücken ... Als ob Frankreich, das Land des Maßes, das Land von Descartes, Montaigne und Jaurès nach vierjähriger Nazibesatzung keine SS, keine Milizsoldaten, keine Konzentrationslager und keine Antisemiten hervorgebracht hätte, und zwar in einer Zahl, die zum Beginn einer sozialen Hölle ausgereicht hätte! Müßte man nicht trotzdem ein Dummkopf sein, wenn man das „französische Temperament“ beschuldigen wollte? Stand das wirkliche Frankreich mit seinen 40 Millionen gutwilligen, vernünftigen Durchschnittsmenschen jemals zur Debatte, wenn nicht als Opfer einer totalitären Maschinerie? Brionne fährt fort: „Kommunist zu sein bedeutet für einen Franzosen nicht, die barbarischen Handlungen der Muschiks zu billigen und zu wünschen, von denen unsere Gefangenen, die im Osten waren, berichtet haben. Es bedeutet, die grundlegenden Positionen der großen marxistischen Theoretiker anzuerkennen ...“. Man wundert sich, in so wenigen Zeilen soviel Verwirrung und Irrtümer zu finden. Um welche „großen marxistischen Theoretiker“ handelt es sich zunächst? Marx, Engels, Jaurès, Guesde, Bebel, Kautsky, Lenin, Trotzki, die erschossenen Bucharin und Prejobraschenski (die Verfasser des ABC des Kommunismus von 1918 ...), haben sie für den Totalitarismus plädiert? Sehen sie darin die Rechtfertigung ihrer Werke? Oder kennen sie, mein Herr, einen „großen Theoretiker“ des Stalinismus? Lesen sie mich Ihnen sagen, daß der Stalinismus gerade die großen, mittleren und kleinen Theoretiker vernichtet ..... Die Verwechslung von Kommunismus und Sozialismus in einer zeit, wo sich die beiden Theorien gegenüberstehen, wo die eine den Menschen verteidigt und die andere ihn vernichtet, kann nur eine scheinbare semantische Berechtigung haben; sie ist unehrlich, weil sie die fundamentalen Gegensätze zu verschleiern versucht; sie ist unheilvoll, weil sie so tut, als hielte sie das totalitäre Falschgeld für die echten Goldmünzen, die nach dem Kommunistischen Manifest von Marx und Engels geprägt wurden.

Die Anspielung auf die „Barbarei der Muschiks“ ist für mich quälend, weil ich den russischen Bauer, den Bruder aller Bauern in der Welt, der auch nicht böser ist als sie, kenne und liebe ... Ein wahrer großer, von Grund auf antitotalitärer Christ, wenn es dieses Wort auch zu seiner Zeit noch nicht gab (das Wort „Muschiks“ genügte ihm), Leo Tolstoi, lobte unter den Muschik und hatte eine andern, eine erheblich bessern Meinung von ihnen. Brionne hat sich nicht gefragt, durch welche Schulen sie gegangen sind, die Muschiks, die manchmal grausam geworden sind wie so viele andere, weniger notleidende Europäer. Welcher Hungersnot, welcher Gewalt, welcher Dressur zur organisierten Barbarei und zum geknebelten Denken sie ausgesetzt waren und immer noch sind!

Ich kenne Martin Brionne nicht, und ich erinnere mich an eine Zeit, als die personalistische Zeitschrift Esprit über die Säuberungsaktion in Moskau und über das Massaker an den alten Chefs der wahren Roten Armee ganz anders sprach. Der Widerspruch zwischen der Achtung vor der menschlichen Person und der Zerstörung der menschlichen Person durch den Staat erschien ihr damals so wie er ist: offensichtlich und entsetzlich. Ich habe den Text nur deshalb zitiert, weil er typisch ist: die ganze Ideologie der Intellektuellen, die von der mehr scheinbaren als realen Macht des gegenwärtigen Kommunismus vergiftet sind, setzt sich aus solchen unklaren Einwänden zusammen. Das schockierendste Werk dieser Art von Propaganda scheint mit das Tagebuch des ehemaligen Botschafters der Vereinigten Staaten in Moskau, Joseph E. Davies Mission in Moskau zu sein, von dem mehrere hunderttausend Exemplare in verschiedenen Sprachen verkauft wurden. Dieses Werk ist äußerst instruktiv. Es enthält außer Berichten über bestürzende Tatsachen zahlreiche Schlußfolgerungen wie : Das Rußland Lenins und Trotzkis, das bolschewistische Rußland, existiert nicht mehr ...“ (S.450 der kleinen amerikanischen Ausgabe). „Deutschland und Sowjetrußland sind totalitäre Staaten. Realistische Staaten.“ Man beachte die hintergründige Lobrede auf einen bestimmten Realismus.. (S.427, vom 7. Juli 1941). „Der Terror ist hier schrecklich. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß die Angst alle sozialen Kreise erfaßt und verfolgt ...“ (S.265, Moskau, 1. April 1938). „Die Säuberungsaktion ist unleugbar politisch. Soweit ich von den führenden Regierungsmitgliedern erfuhr, war sie sorgfältig vorbereitet worden, wenngleich sie deren Notwendigkeit bedauern ... Sie anerkennen und bedauern, daß es viele unschuldige Opfer gibt ...“ (S.266). In einem Resümee der Tatsachen, das vom 6. Juni 1938 stammt und an das Kabinett in Washington gerichtet ist, bringt er schließlich folgende Einschätzung: „Terror. Säuberung. Ein demokratischer Geist hält es für unvermeidlich, daß die Tyrannei, die die Geheimpolizei über die Freiheit und das Leben der Bürger aller sozialen Klassen ausübt, wo sie die Leute von ihrer Familie und Freunden wegreißt und ohne möglichen Schutz gegen die Ungerechtigkeit ... Es scheint unvermeidlich, daß diese Tyrannei auf die Dauer den Umsturz des Regimes provozieren muß.“ (S.350. Joseph E. Davies Stil ist bedauernswert schwerfällig, wie man festgestellt haben wird.) Erlauben wir uns einen ganz kleinen Eingriff in die Psychologie. Das war der Ton eines unveröffentlichten Buches eines in Moskau akkreditierten Diplomaten. Aber 1941, nach dem Angriff der Nazis auf das russische Volk und dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg, fügt Davies in sein zur Veröffentlichung vorgesehenes Buch acht Seiten an, in denen er seine früheren Ansichten revidiert, acht Seiten, die traurig und amüsant zugleich sind.

Der Hauptgedanke ist, daß „es in Rußland keine Fünfte Kolonne gab. Die Säuberungsaktion hatte das Land gereinigt, vom Verrat befreit“ (S.246). Als Davies auf einer Reise nach Wisconsin „die Situation noch einmal reiflich überdachte“, hatte er diese rückblickende Offenbarung, die völlig falsch ist, wie es sich seither erwiesen hat. Aber der Gedanke, daß die rasche Invasion Rußlands nur durch die mangelnde Sympathie der Bevölkerung gegenüber dem Regime, durch die Extermination der revolutionären Kader und vor allem des alten, erfahrenen Generalstabs ermöglicht wurde, kam ihm nicht in seinen dipolomatischen Sinn ...

In unserer Zeit, die voller Gefahren, Leiden und Unruhen ist, können solche verschwommenen, unehrlichen Gedanken nur zu großen Betrügereien dienen und schwerwiegende Komplikationen herbeiführen. Ein Eisenbahnmechaniker, dessen Berufsethos nicht aufrichtiger und realistischer wäre als das der prostalinistischen Intellektuellen, wurde prompt seinen Zug entgleisen lassen, wenn er seinen eigenen Fehler überleben wurde, vor ein Schwurgericht gestellt.

Wieviele Dinge dieser Art wurden noch vor kurzem über den Faschismus und den Nazismus geschrieben! Man weiß über die Folgen und Konsequenzen Bescheid ... Unsere erste Pflicht besteht heute darin, sich über die Realität Klarheit zu verschaffen, ohne Binde vor den Augen und ohne Knebel im Mund, die Dinge beim Namen zu nennen ... So, und nur so wird der harte Kampf für eine bessere Zukunft wieder möglich.

Mexiko, 1946

 

 

Anmerkungen

1. Hier muß Serge widersprochen werden: dieser Absatz zeugt von einer geradezu selbstmörderischen Leichtgläubigkeit vieler durch die sowjetische Entwicklung enttäuschter Sozialisten. Die Engländer zogen sich nicht freiwillig aus Ägypten und Indien zurück, sondern weil ihr Gewaltpotential nicht mehr ausreichte, den ausgebrochenen Volksbewegungen genügend Widerstand entgegen zu setzen. In Griechenland und Malysia gelang Ihnen die Unterdrückung von Volksaufständen sehr wohl und es ist symptomatisch, daß genau diese Versuche von Unterdrückung nicht angesprochen werden.

Was die Bemühungen um gute Geschäfte bei den Amerikanern betrifft, so brachten sie außereuropäischen Völkern, z.B. den asiatischen und lateinamerikanischen, immerhin Diktaturen der Art – und was die soziale Situation der betreffenden Völker betraf schlimmere – als Serge sie für die UdSSR konstatiert. Im falle Vietnam führte dies Bemühen um gute Geschäfte immerhin zu einem bald dreißig Jahre währenden Völkermord. (Anm.d.Verlages)

2. Hierzu Francois Petjö, Die Geschichte der Volksdemokratien, Styria Verlag Graz. Wien, Köln 1972, 2 Bde. Fetjö scheint Serge recht zu geben, wenn er schreibt „die reaktionären Weißen wurden nicht nachsichtiger behandelt“. Eine entgegengesetzte Darstellung findet sich in dem ebenfalls in diesem Verlag erscheinenden Buch von Andy Anderson, Die ungarische Revolution 1956. Anderson weist in einer kurzen Einleitung zur Politik der UdSSR in den von ihr besetzten osteuropäischen Staaten nach, daß die Rote Armee und die von ihr beeinflußten oder abhängigen nationalen kommunistischen Parteien sofort mit dem Bürgertum paktierten. um autonome Regungen der Volksmassen zugunsten „einer stabilen Regierung“ zu unterdrücken.

 

Anmerkung des MIA

1*.In der Ausgabe des Verlags Association wurden alle Substantive außer Eigennamen kleingeschrieben. Wir haben für diese Internet-Ausgabe zwecks Leserlichkeit die normale Großschreibung wiedereingeführt.

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003