Victor Serge

 

Die sechzehn Erschossenen

 

I
Der Prozeß Sinowjew–Kamenjew–Smirnow ...
(Teil II)

Des Defätismus beschuldigt

Die Anklagerede befaßte sich stundenlang mit denselben Tatsachen, ohne etwas Neues zu bringen außer einem unglücklichen Eingriff in den Bereich der Politik. Um zu beweisen, daß Trotzki in seinen Anweisungen an seine Geheimboten, die er in die UdSSR schickte (wir wissen, wen ...) für den Kriegsfall zum Defätismus riet, ruft der Staatsanwalt Wyschinski ... Ich zitiere wörtlich, denn es ist zu gelungen:

„Aber vielleicht ist das alles Erfindung, Phantasie, leeres Geschwätz der Angeklagten, um den Nächstbesten zu belasten und sich selbst zu entlasten? Nein! Das ist keine Erfindung, kein Phantasiegebilde. Es ist die Wahrheit! Wir alle wissen, daß Trotzki vor einigen Jahren zusammen mit den Angeklagte Sinowjew und Kamenjew seine Clemenceau-Erklärunig formulierte, derzufolge er im Kriegsfalle wartet, bis der Feind 80 Kilometer vor der Hauptstadt steht, um dann die Waffen gegen die Sowjetregierung zu ergreifen und diese umzustürzen. Das ist eine historische Tatsache. Wir kommen nicht darum herum. Und deshalb müssen wir anerkennen, daß die Aussagen Berman-Jurins und Fritz Davids in dieser Hinsicht der Wahrheit entsprechen ...“ (Iswestija, 23. August, 2. Seite, 8. Spalte). Dieses deshalb, das ich so betone, ist wirklich sehr stark. Aber was ist die Clemenceau-Erklärung, diese „defätistische, aufrührerische Erklärung“? War Clemenceau ein Defätist, ergriff er die Waffen gegen die französische Regierung?

Als man Trotzki im Jahre 1927 fragte, welche Haltung die Opposition im Kriegsfall gegenüber der bürokratischen Führung einnehmen würde, antwortete Trotzki im Wesentlichen folgendes: „Wir werden uns so verhalten, wie sich Clemenceau in Frankreich gegenüber Poincaré verhielt. Die Deutschen waren in Noyon, man war dabei, den Krieg zu verlieren, aber Clemenceau steckte mit seiner Kritik deshalb nicht zurück, im Gegenteil. Wir werden ohne Gnade eine Regierung kritisieren, die die Verteidigung der Revolution nur sabotieren könnte; wir werden schließlich die Bürokraten an ihren Platz zurückweisen und den Krieg als Revolutionäre führen.“ Zu jenem Zeitpunkt schloß die Opposition jede Gewaltanwendung oder Massenaktion aus: sie isolierte sich innerhalb der Partei und wurde zum Instrument einer Reform des Regimes. Man mußte sie mundtot machen, um die Clemenceau-Erklärung ungestraft zu einer defätistischen, aufrührerischen These zu machen. Betrachten wir nun den Wert der politischen Argumente des Staatsanwaltes.

Mord – so sagt er – ist das einzige innenpolitische Programm dieser Leute ...

Aber in der Folge dringt der wahre Inhalt seiner Argumentation durch und wir erfahren Details. Ter-Vaganian gesteht, daß er von Trotzki die Anweisung erhalten hat, „die Parteiführung hart zu bekämpfen“; man bringt ihn dazu zuzugeben, daß hart bedeutet: durch Terror. Das ist dieselbe logische Methode, mit der man einen mit der Todesstrafe bedrohten Angeklagten dazu bringt zuzugeben, daß das von Lenin ausgesprochene Wort entfernen in Trotzkis Mund töten bedeutet.

 

 

„... Tollwütige Hunde ...“

Wir wissen überhaupt nicht, was Smirnow gestanden hat. In der Anklagerede heißt es wörtlich: „Smirnow leugnet am hartnäckigsten. Er hat lediglich zugegeben, einer der Führer des illegalen trotzkistischen Zentrums gewesen zu sein ... Überdies sagt er das in humoristischem Ton ...“ „Ich habe trotzdem Grund genug“, fährt der Staatsanwalt fort, „zu behaupten, daß er auch das Folgende gestanden hat“ – nämlich eine terroristische Direktive weitergeleitet zu haben, was er leugnet ... Man ahnt die Methode einer logischen Analyse – bei der die Logik im übrigen besonderer Art ist – die es ermöglicht, solche Geständnisse zu erhalten. „Sie geben zu, daß sie Trotzkist sind, Trotzkist sein bedeutet aber, Defätist und Terrorist sein; sie gestehen also, Defätist und Terrorist zu sein ...“ Smirnow ist unbequem. Wie kann man ihn beschuldigen, da er fast zwei Jahre vor dem Kirow-Attentat verhaftet wurde? Der Staatsanwalt befaßt sich über eine Stunde lang mit ihm. Und plötzlich erfahren wir aus einigen Worten seiner Schlußrede, daß die Angeklagten im Gerichtssaal eine Menge Sachen gesagt haben, von denen in den offiziellen Protokollen nichts steht; daß sie Anspielungen auf den Terrorismus der großen Partei „Volkswille“ gemacht haben, die im Jahre 1881 Alexander II. erschoß. Haben sie nicht daran erinnert, daß Lenins Bruder Alexander Uljanow 1887 erhängt wurde, weil er sich an einer Verschwörung gegen Alexander III. beteiligt hatte? Hier erhebt Wyschinski die Stimme.

Diese Vergleiche halten der Kritik nicht stand. Als Bolschewisten waren wir immer Gegner des individuellen Terrors, aber wir würdigen die Ehrlichkeit und den Heldenmut der Terroristen des Volkswillen ... Aber Ihr seid eine Bande von skrupellosen Konterrevolutionären, Ihr repräsentiert die Avantgarde der Konterrevolution gegenüber der Avantgarde der Weltrevolution! Ihr habt Euch gegen die Freiheit und das Glück des Volkes gerichtet! ... – Genossen Richter, ich fordere, daß die tollwütigen Hunde vom Ersten bis zum Letzten erschossen werden!

Die Zeitungen erschienen an diesem Tag mit riesigen Schlagzeilen auf der ersten Seite: Knallt die tollwütigen Hunde nieder!

Die Angeklagten erheben sich jetzt, einer nach dem anderen, um ihr letztes Wort zu sprechen. Sie bringen wieder Anschuldigungen gegen sich selbst und gegen Trotzki vor, erneute leidenschaftliche Reuebekenntnisse vor der Partei und ihrem Chef. Sie verkünden, daß sie den Tod verdient haben, daß sie jeder Gnade unwürdig sind, daß sie erschossen werden müssen, daß man gut daran tut, sie zu erschießen. Ewdokimow ruft: „Wir waren Verbrecher, Mörder, Faschisten, Gestapoagenten. Ich danke dem Staatsanwalt dafür, daß er für uns die einzige Strafe, die wir verdienen, gefordert hat.“ Dreiser, Rheingoid und Bakajew sagen dasselbe. Bakajew wendet sich total verstört an den gealterten, abgemagerten, zerzausten Sinowjew und wirft ihm vor, daß er sie alle dorthin geführt habe ... Pikel erörtert die ideologischen Irrtümer Sinowjews, erinnert daran, daß er selbst Staatsanwalt war und in dieser Eigenschaft mit Ulrich zusammengearbeitet hat, der heute über ihn richtet; und plötzlich gibt er sich zu einer exaltierten Lobrede über den stalinistischen Verfassungsentwurf her, der ihm „die wahre Seele des Bolschewismus enthüllt hat ...“ Kamenjew und Sinowjew denunzieren noch einmal den Trotzkismus – was wahrscheinlich ehrlich gemeint ist, da sie einen großen Teil ihres Lebens damit verbrachten, ihn zu bekämpfen – bekunden der Partei ihre ewige Treue, wiederholen ihre Geständnisse, drücken ihre Beschämung darüber aus, neben diesen zwielichtigen Personen zu sitzen, die der Brutstätte der Polizei entstammen wie Olberg, Berman-Jurin, David, Lourié. Und auch in diesem Punkt müssen sie völlig ehrlich sein. „Ich bewundere meine Söhne“, sagt Kamenjew, „die ihr Leben der Verteidigung unseres großen Stalin weihen!“ Nebenbei entrüstet er sich darüber, daß die ausländische Presse diesen Prozeß ausnützen wird ... „Ich bin 54 Jahre alt, und ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich war unfähig, mein Leben in den Dienst der Revolution zu stellen, aber ich bin bereit, ihr mit meinem Tode zu dienen.“ Diese Worte sind für mich sehr inhaltsreich, sie sind wahr. Sinowjew nimmt die volle Verantwortung für die Verschwörung auf sich. Goltzmann, der wie ein aufgedunsener Geschäftsmann wirkt, spricht voller Verachtung von den faschistischen Schuften, seinen Mitangeklagten, und fügt hinzu, daß er nicht um Gnade bittet. Da alle diese Protokolle gekürzt und verfälscht sind, ist es schwierig, den wahren Sinn der Worte zu erkennen.

Goltzmann hat sich würdig verhalten, er scheint ein wirklicher Oppositioneller gewesen zu sein. Mit seinen letzten Worten ohrfeigt er vielleicht die Lockspitzel und sagt deutlich, daß er von den Richtern nichts erwartet. Auch die Protokolle über Smirnows letzten Worte sind seltsam. Den sowjetischen Zeitungen zufolge beschuldigt er sich selbst, im Jahre 1931 den Kampf gegen die Partei wieder aufgenommen zu haben, leugnet aber jegliche Verantwortung, für das, was seit seiner Verhaftung geschehen sein kann (und vorher ist nichts geschehen ...) und fordert seine Kameraden auf, mit dem Trotzkismus zu brechen, „denn für unser Land gibt es keinen anderen Weg als den, den es beschreitet; es hat keine anderen Fülrer – und kann keine anderen haben – als die, die ihm die Geschichte gegeben hat ...“ Zögernde Billigung der vollendeten Tatsachen ... „Ich nehme das Urteil meiner Partei im voraus an.“

Olberg, David und andere flehen die Richter um Gnade an.

 

 

Die Atmosphäre

Schon vor Beginn des Prozesses ist in den Fabriken eine Kampagne eingeleitet worden, in der die Parteisekretäre voller Begeisterung Resolutionen verabschieden ließen, die für die Feinde des Volkes die Todesstrafe forderten. Man veröffentlichte Berichte darüber; alle Zeitungen quellen davon über:

„In der Automobilfabrik Stalin in Moskau sagt die parteilose Arbeiterin Semenowa: ‚Die trotzkistisch-sinowjewistischen Ungeheuer haben versucht, unser glückliches Leben zu zerstören ... Wir fordern, daß sie ausgerottet werden, sie dürfen unseren Boden nicht mehr betreten!‘“ Der Schriftsteller Graf Alexej Tolstoi, der als Weißer zu Beginn der Revolution emigrierte, hält eine ähnliche Rede vor der Versammlung der Schriftsteller in Leningrad. Die kleine Eva Nerubina, Schülerin in Stalino, schreibt ein Gedicht, das mit den folgenden Warten endet: „Knallt sie wie Hunde nieder!“ Dieses Gedicht wird am selben Tag der Iswestja telefonisch übermittelt und in einer Auflage von über einer Million gedruckt. Aus dem fernen Osten teilen die alten chinesischen Arbeiter Chi Gang-li und Dsian Liang-siay telegrafisch mit: „Trotzki ist ein Hund!“ Eine Arbeiterin aus Tscheljabinsk ruft: „Wir lieben unseren großen Stalin wie einen erstgeborenen Sohn, wie einen innig geliebten Vater ... Ich fordere nur eines: vernichtet diese Ungeheuer!“ Die Bergarbeiter des Kohlenbergwerks Stalin schreiben an „den großen Chef des großen Volkes, den geliebten Freund und Meister, an die Hoffnung der arbeitenden Menschheit, Jossif Wissarionowitsch Stalin“ , daß „diese Elenden mit größter Wachsamkeit ausfindig gemacht und vernichtet werden müssen.“

In den Leitartikeln der Iswestija vom 23. August, wahrscheinlich von Bucharin redigiert, steht, daß „in ihrer Seele nichts liegt als ein bestialischer Haß, der in 10 Jahren gereift ist, gegen Stalin, unsere Sonne und seinen Genius, der die konterrevolutionäre Verunreinigung besiegt hat“ – „Es wird kein Mitleid geben.“ (Wir erinnern daran, daß zu dem Zeitpunkt, als das offizielle Organ der Regierung dies so kategorisch behauptet, noch kein Urteil gesprochen ist ...) „Das ganze Volk fordert, daß.., diese tollwütigen Hunde vom Ersten bis zum Letzten erschossen werden! Diese tödlichen Worte ertönen von überall her. Der Chef hat sie wahrscheinlich ausgesprochen und für die Propaganda empfohlen. Er selbst ist in jenen Tagen „Unsere Sonne“ und „Unser geliebter Vater“ geworden, wie ihn die aktiven Parteimitglieder auf einer Versammlung in Moskau und die Bauern in einer Botschaft nennen ... Für die geplante Enquete zetteln die Zeitungen unerbittlich eine entsprechende Kampagne an, in der die Mittäterschaft aller noch lebenden Kameraden Lenins, nämlich Bucharins, Rykows, Uglanows, Radeks und Pjatakows behauptet wird. Von Tomski ist nicht mehr die Rede, als ob die Untersuchung seines Falles überflüssig geworden sei. Die Professoren Speranski, Lawrentjew, Oberhardt, Rasenkow und andere bitten Stalin, nicht zu vergessen, daß „er der Chef, der geliebte Vater, die Flagge der Wissenschaft ist ...“ – „Das sind Tiere mit Menschengesichtern“, sagt ein Arbeiter aus Lepezk, „sie müssen wie Verbrecher behandelt werden ...“ Komarow, Mitglied der Akademie, ist ebenfalls dieser Ansicht. Friedrich Adler, de Broukère, Citrine und Schaevenels, die im Namen der Sozialistischen Internationale und des Internationalen Gewerkschaftsbundes ein kurzes Telegramm an die Sowjetregierung geschickt hatten, in dem sie darum baten, daß den Angeklagten Gerechtigkeit widerfahren solle, wie es in den zivilisierten Ländern üblich ist, werden von der Prawda und der Iswestija als Komplizen der Terroristen und der Gestapo bezeichnet. „Die Verteidigung für diese Schufte – die Angeklagten – können nur Schweine übernehmen, die jegliches Gewissen verloren haben und freiwillig die schändliche Rolle eines Anwerbers für den Gestapochef Himmler spielen.“ In Rußland würden Adler und de Broukère als „Komplizen der Bluthunde“ mit 10 Jahren Zuchthaus rechnen müssen. 8 Mitglieder der Akademie und 15 Professoren fordern die Todesstrafe und loben „den großen, weisen, geliebten Chef ...“ Der bekannte Künstler der Republik Klimow schreibt voller Begeisterung über die Verse der Schülerin Eva Nerubina: „Ja, knallen wir sie wie Hunde nieder ...“ Der Arbeiter Stephanow erklärt: „Ich bin 70 Jahre alt und arbeite seit 52 Jahren in dieser Fabrik ...“ Stolz auf sein halbes Jahrhundert der Knechtschaft fordert er, daß diese Verbrecher total vernichtet werden, so daß keine Spuren mehr übrig bleiben. Anatow-Owsejenko, ehemaliger Botschafter der Sowjets, einer der Männer aus den Tagen der Oktoberrevolution, einer der besten Kämpfer des Bürgerkrieges, ein alter Freund Trotzkis, ein Oppositioneller aus der Zeit von 1923-27, der als Erster an der Spitze der Marine in den Winterpalast eindrang, schreibt, daß „er sich seit 1928, als er seinen Fehler einsah, bereit erklärte, seine ehemaligen politischen Freunde zu erschießen.“ Pjatakow, ebenfalls früher ein Oppositioneller, und Radowski, mit Trotzki durch 20jährige Freundschaft verbunden, sieben Jahre lang deportiert, ein ehemaliger Verbündeter, beten den Chef an und fordern den Tod ihrer ehemaligen Kameraden mit Worten, die einen erröten ließen, wollte man sie zitieren ...

Eine in den Fabriken verabschiedete Todesresolution verkündet, daß „das Leben unseres Chefs Stalin das wertvollste Leben für die ganze Menschheit ist.“ Ein Redakteur der Iswestija schreibt in seinem Leitartikel vom 24. August, daß „der wahre Humanismus, der einzige Humanismus in der Verteidigung des Regimes besteht, das unter der Führung des großen Stalin Millionen von Menschen ein neues Leben, das freie Leben garantiert.“ Und zum Abschluß zitiert er einen passenden Ausspruch des „großen proletarischen Humanisten“ Maxim Gorki: „Wenn der Feind sich nicht ergibt, wird er geschlagen“. [9]

Wer würde es wagen, sich unter dem Beschluß dieser totalitären Artillerie bei der Abstimmung einer Resolution zu enthalten? um noch in derselben Nacht als Komplize Fritz Adlers, de Broukères, der Gestapo, der Terroristen zu verschwinden? In Rostow am Don sagte der Soziologieprofessor Schalilow vor seinen Schülern, er fände den Prozeß „seltsam“. Das war verdächtig, der Ausspruch wurde sofort weitergeleitet und am 1. September berichtete eine Zeitung diesen Vorfall und teilt die Verhaftung dieses „terroristischen Trotzkisten“ mit.

 

 

Die Exekution

Das Urteil wird am 24. August um 2 Uhr morgens verkündet. Es fällt so aus, wie man es erwarten mußte: Todesurteil für alle. Nach dem Gesetz vom 1. Dezember 1934 müssen Todesurteile wegen Terrorismus ohne Berufung und Gnadengesuch sofort vollstreckt werden. Die sechzehn hören unbeweglich zu; einige – die zweifelhaften Komparsen – haben den Journalisten zufolge sogar „gelöste Mienen“. Ein Korrespondent des Daily Telegraph schreibt: „Ich werde niemals Sinowjews Gesichtsausdruck vergessen, den Kopf gesenkt, die Hände wie zum Gebet zusammengelegt, während Ulrich mit trockener Stimme und in kleinen abgehackten Sätzen das Urteil vorlas ...“ Wird man die Opfer nach der Urteilsverkündung direkt zum Exekutionsort fahren? Nein, ihnen wird ausnahmsweise und entgegen dem Gesetz eine Frist von 72 Stunden gewährt, um ein Gnadengesuch an die Sowjetexekutive zu richten Goltzmann weigert sich, die anderen unterzeichnen. Die Exekutive, das ist der alte Kalinin, vor kurzem noch ihr Kamerad, der seine Befehle selbst von Stalin erhält. Der Chef wird es sicherlich für geschickt halten, keinen Befehl zu erteilen, und da er keinen Gnadenbefehl erteilt, wird das Todesurteil rechtskräftig. Aufgrund einiger Beziehungen schreibt Nadescha Konstantinowa Krupskaja an Stalin, um ihn um Gnade für die Männer zu bitten, die sie seit so vielen Jahren kennt; er läßt ihr antworten, daß er keinen Druck auf die höchste Staatsgewalt ausüben kann. Er könne es wirklich nicht ... Für diese zaghafte Intervention wird Lenins Witwe bald büßen müssen, indem sie einen abscheulichen Bericht über die Exekution unterschreiben muß. „Es muß sein, Nadescha Konstantinowa, da die sozialistitsche Presse sich Ihres Namens bedient...“ Arme Frau.

Da die Exekutive das Gnadengesuch abgelehnt hat, findet die Exekution m der Morgendämmerung des 25. statt, noch vor Ablauf der legalen Frist. Der Grund für diese Überstürzung scheint in der Angst vor ausländischen Interventionen zu liegen.

Der Corriere della Sera (italienische Tageszeitung – A.d.Ü.) veröffentlicht einige Tage später einen dramatischen Bericht über die Exekution. Ich gebe ihn hier im Wesentlichen wieder. Die Verurteilten wurden um 4 Uhr morgens geweckt und unter der Begleitung von 80 Wächtern in einen kleinen Hof des Gefängnisses der ehemaligen Lubjanka gebracht. Der Vorsitzende des Gerichts Ulrich erwartet sie dort und teilte ihnen die Ablehnung des Gnadengesuchs mit. Dann wurden sie jeweils zu zweit mit dem Gesicht zur Wand gestellt und mit Feuersalven beschossen. Nach der Erschießung der beiden Ersten verlor Sinowjew das Bewußtsein; um ihn stehend erschießen zu können, mußte man ihn mit den Händen an einem Eisenring aufhängen, der in das Gemäuer eingelassen war. Kamenjew blieb unbeweglich, ohne ein Wort zu sagen. Die Komparsen beschimpften das Gericht, die Henker und Stalin und schrien, man habe ihnen ihr Leben versprochen, wenn sie die ihnen au gezwungene Rolle spielten. Die Exekution dauerte 18 Minuten. Die Leichen wurden auf einen Lastwagen geworfen und in einem Massengrab in der Umgebung Moskaus begraben.

Dieser Bericht scheint zwar wahrscheinlich, ist aber mit Sicherheit falsch. Die Höfe der Lubjanka, in denen ich einige bewachte Spaziergänge gemacht habe, sind für ein solches Gemetzel völlig ungeeignet; denn das Leben im Gefängnis und in einem Teil Moskaus wäre dadurch total durcheinandergebracht worden. Außerdem ist es unzulässig, daß die Führer mehrerer Dutzend Zeugen und Akteuren, vor allem Soldaten die Gelegenheit geben, die letzten Ausrufe und Proteste der Opfer zu hören. Dieser Grund ist entscheidend. Es gibt keinen Zweifel daran, daß die Exekution ohne Zeugen wie üblich in einem Keller des Gefängnisses vollstreckt wurde.

Der Verurteilte wird in der Nacht zu einem Verhör gerufen – das ist der übliche Ausdruck für alle Abtransporte. Er weiß nicht, wohin er geht; der Wächter weiß nicht, wohin er ihn führt. Der Aufzug bringt ihn ins Erdgeschoß. Wenn man ihn dort eine hellerleuchtete Zementtreppe hinuntersteigen läßt, kann er verstehen ... Er geht einen Zementgang entlang, an dessen Seiten sich Abzugsgräben befinden. Er weiß nichts; er wußte nicht einmal, wann die GPU die Todesstrafe amtlich vollstrecken soll und daß er überhaupt zum Tode verurteilt worden ist. Ein Mann – der selber nur eines weiß, nämlich daß er den, der ihm vorgeführt wird, erschießen muß – taucht geräuschlos hinter ihm auf und jagt ihm eine Kugel in den Nacken. Die Wasserspülung läuft, der Körper fällt in eine Falltür oder wird in einen Verschlag gestoßen. Der Nächste! Es kann sein, daß man es nicht einmal für nötig hielt, die Sechzehn von der Ablehnung des Gnadengesuchs zu unterrichten. Da sie völlig überraschend vor Ablauf der legalen Frist gerufen wurden, konnten sie erst in der allerletzten Minute begreifen; aber in dieser letzten Minute haben sie vieles verstanden. Es gibt wenige Menschen, die mit einer so schrecklichen Verbitterung gestorben sind – verraten und verkauft ... Keine Zeugen; der Keller dämpft alle Geräusche; einige verläßliche Richter handeln, ohne genaueres zu wissen. Schweigen, Geheimnis. Ich war in der Lubjanka eingesperrt, als die 35 Funktionäre des Kommissariats für Landwirtschaft wegen einer seltsamen Sabotage-Affaire und wegen geheimen Verbindungen zu Polen dort exekutiert wurden (März 1933). Kein Geräusch störte das Schweigen dieses perfekten Gefängnisses.

 

 

Jubel

Die Zeitungen vom 25. zeigen auf der ersten Seite die lächelnden Gesichter der Führer auf dem Flughafen von Tuchino, wo ein Fest der Luftfahrt stattgefunden hat. In der untersten Ecke der vierten Seite steht unter der Rubrik Verschiedenes in kleiner Schrift eine Anzeige, die besagt, daß das Recht vollzogen ist.

„Seit es geschehen ist“, schreibt die Prawda, „atmet man besser, ist die Luft reiner. Unsere Muskeln sind neu gestärkt, unsere Maschinen laufen munterer; unsere Hände sind behender ... Man wird neue Industrierekorde verzeichnen können ...“ Ich habe nicht gewußt, wie gut das Blut Maschinen ölt ...

Die Iswestija schreibt, daß „ein Beifallssturm über das Land zieht; Millionen von Arbeitern danken dem Obersten Gerichtshof.“ Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen! Hatte die Kinderärztin Sophie Bortmann nicht gerufen: „Kein Mitleid mit den Feinden des Volkes!“ Die Ärztin ist von der Regierung erhört worden. Die Arbeiter des Gorki-Theaters jubeln. Die Bauern aus Woronesch jubeln. „Es lebe der große Freund, der Vater und Meister aller Werktätigen...“

Die Prawda der Pioniere bringt die Freude der Kinder zum Ausdruck. Die 5. Kolonie, die sich aus ausgesetzten Waisenkindern zusammensetzt, dankt den „geliebten Tschekisten“ dafür, daß sie die Verbrecher erschossen haben und erklärt: „Dieses Urteil ist unser Urteil.“ Die Kinder, 8-10jährige Jungen und Mädchen, rufen voller Freude: „Diese Hunde sollen verrecken!“ – „Ah, wie gerne hätten wir sie selbst erschossen!“ Und sie senden dem geliebten Chef eine Nachricht, in der sie ihm ihre Zuneigung bekunden.

Alexis Stachanow frohlockt. Mary Sobau, Mitglied der kommunistischen Jugend, Tochter eines amerikanischen Arbeiters, erzählt vor Arbeitern in Rostow, daß sie und ihre Mutter nicht mehr an sich halten konnten und in die Hände klatschten, als sie durch einen Lautsprecher das Urteil hörten. „So groß war die Freude dieser Proletarierfamilie.“ Die Schriftsteller sind zufrieden. Die Künstler klatschten Beifall. Die Arbeiterin Ewdokimowa aus der Fabrik Pariser Kommune (Moskau) ruft glücklich: „Diese Hunde sind gestorben wie Hunde!“ (Man hat auch einen Ewdokimow erschossen.) Die Stachanows bedauern, daß Trotzki noch lebt. Das Akademiemitglied Williams glaubt, daß „das Urteil von den edlen Gefühlen des proletarischen Humanismus diktiert und im Interesse des Glücks und der Freiheit von Millionen von Arbeitern gesprochen worden ist.“

Warum muß ein Sozialdemokrat die frohe Erinnerung an diesen unvergeßlichen Tag trüben? Professor Tandler, ein Wiener Arzt, der nach Moskau geflogen ist, erliegt einem Herzinfarkt, als er von der Exekution erfährt. Hier wird die ganze Debilität einer kleinbürgerlichen Natur sichtbar ... Er muß im Grunde ein „versteckter Feind“ gewesen ...

 

 

Ein Lichtschimmer

Ein Korrespondent der Havas-Agentur, der bei dem Prozeß anwesend war, schildert in vorsichtigen Worten seine Meinung. Er glaubt, daß die Anklage und die Geständnisse nicht jeder Grundlage entbehren; daß man aber nicht feststellen könne, bis zu welchem Grad die Anschuldigungen berechtigt sind; und daß das Körnchen Wahrheit, das in ihnen steckt, auf jeden Fall weitgehend zu vorherbestimmten Zwecken ausgenutzt worden ist ...

So verfälscht die offiziellen Protokolle des Prozesse auch sein mögen, der Leser, der die Menschen, ihre Ideen und ihre Kämpfe kennt, entdeckt sehr schnell das bißchen Wahrheit, das in dieser Affäre steckt. Die alten Bolschewiken hegten – und hegen – Stalin gegenüber, den sie mehr fürchten als gezwungenermaßen achten, einen tiefen Haß, der auf Ressentiments, Furcht und politischer Feindschaft beruht. Sie hatten Grund genug, vor ihm zu kapitulieren; sie konnten sich nicht unter vier Augen treffen, ohne Angst haben zu müssen, ohne sich verzweifelt zu fragen, wie es wohl enden würde, was zu tun sei, um aus dieser Sackgasse herauszukommen.

Wir können in diesem ganzen falschen Komplott, der von den Inquisitoren sorgfältig konstruiert wurde, ein Licht bringen, wenn wir ein authentisches Dokument vom 11. Juli 1928 lesen. Es sind Aufzeichnungen über Gespräche mit Bucharin, von Kamenjew auf Sinowjews Wunsch hin verfaßt, der damals in Woronesch im Exil lebte. (Die trotzkistische Opposition kannte sie und veröffentlichte sie in Form von Flugblättern). Bucharin war gekommen, total verstört, „zitternd, mit bebenden Lippen“; er schien „in großen Schwierigkeiten zu sein“. „Ich werde von der GPU beschattet, und du wirst auch überwacht; daß nur ja niemand von unserem Treffen erfährt!“ Was sagt er? „Stalins Politik ist tödlich für die Revolution. Er führt uns in den Abgrund... Er ist ein Intrigant, der alles tut, um seinen Machthunger zu befriedigen. Er ändert seine Theorie, um jemanden zu gegebener Zeit loszuwerden.“ In Boris Sourvarines Stalin findet man eine detaillierte Analyse dieser äußerst dramatischen Seiten, von denen einige Zeilen heute noch, nach 10 Jahren, vom Blut verfärbt sind. Das ständige Leitmotiv: „Er wird uns alle erwürgen.“ – „Was tun? Die subjektiven Bedingungen im Zentralkomitee für eine Absetzung Stalins reifen, aber sie sind noch nicht reif genug ... Stalin kennt nur seine Rache ... mit dem Dolch auf dem Rücken. Denken wir nur an seine Theorie der süßen Rache ...“ („Als Stalin sich an einem Sommerabend offen mit Dserschinskij und Kamentjew unterhielt, soll er gesagt haben: Das Opfer aussuchen, den Schlag sorgfältig vorbereiten, seine unversöhnliche Rache befriedigen und dann schlafen gehen ... Es gibt nichts Süßeres auf der Welt“, Stalin von Boris Souvarine)

Bucharin vergleicht ihn mit Dschingis-Khan, spricht von einem Polizeistaat, zählt alle die führenden Persönlichkeiten in der Partei auf, die von Stalins Absetzung träumen, es aber noch nicht wagen, im letzten Augenblick Angst bekommen und entsetzt sind, sobald man davon spricht. Bucharin, Rykow, Tomski und Uglanow, die noch in der Macht sind, glauben sich bereits verloren ... Wird man sich nicht endlich gegen ihn verbünden? Es wagen, sich zu verteidigen? „Er wird uns alle erwürgen ...“

Nein, keine Verschwörung, kein Terror. Eine Verschwörung war unmöglich in dieser Atmosphäre der Verfolgung, der Polizeikontrolle, der Denunziation und der ideologischen Spaltungen; – keine Verschwörung, aber Haß, Angst, Erwartung unter dem Anschein der Treue zur Generallinie und zum geliebten Chef – aber der Schein konnte niemanden trügen.

Sie haben gestanden, als Verschwörer Reisen unternommen zu haben, geheime Verbindungen gehabt zu haben, zu einer Zeit, wo jede Ortsveränderung, die einer von ihnen unternahm, überwacht wurde, wo jeder Tee, den sie miteinander tranken, in einer Akte registriert wurde, wo Tag für Tag alle Verbindungen nach wissenschaftlichen Methoden in einer Graphik festgehalten wurden ... Aber was haben sie nicht gestanden?

Keine Verschwörung, aber Haß – legitimer Haß – gegen den Chef und noch legitimere Angst, und die Worte alter Kameraden, die sich mit Besorgnis fragen, was wird aus der Revolution? Was wird aus der Partei? Was wirdaus uns? Was tun? Wie den unseligen Mann aus seiner Machtposition entfernen, der uns schließlich alle aufhängen wird

 

 

Marxismus und Terrorismus

Wir wollen versuchen, nicht wie Leser von Kriminalgeschichten, sondern wie Revolutionäre zu urteilen, und wir müssen bedenken, daß wir es mit hervorragenden Politikern zu tun haben. Wer Sinowjew auf den Kongressen der Internationale oder Trotzki im Exil erlebt hat, der weiß, daß für sie das persönliche Leben nicht von der politischen Tätigkeit zu trennen ist, wobei die Politik immer Vorrang hat; der weiß auch, daß diese Männer nur als marxistische Politiker denken können und daß sie fähig sind, augenblicklich mit jedem zu brechen, der sich ernstlich von den marxistischen Methoden entfernt. Aber wenn wir ihnen gerecht werden wollen, müssen wir sagen, daß Stalin entfernen soviel bedeutet wie mit der bürokratischen Politik des Chef brechen, ihn aus seiner Machtposition vertreiben. Es handelt sich dabei um eine politische Aktion, nicht um Mord; denn ein Mord hätte wahrscheinlich das gegenteilige Ergebnis, da er nicht die bürokratische Maschinerie angreifen würde, sondern nur eine mehrköpfige Clique für einen Augenblick führerlos machen würde. Ein Mord würde sogar seine Urheber politisch kompromittieren. Der Generalsekretär, der plötzlich nur noch eine Minderheit hinter sich hat, im Handumdrehen zurücktritt und der größeren Sicherheit wegen eingesperrt wird, das war es, wovon alle alten Kampf er der ersten Stunde träumten, die ihn fürchteten und seine Ausschaltung anstrebten; das wäre in der Tat ein politisches Ereignis gewesen, und das schien auch möglich zu sein.

Durch einen Mord hingegen wäre bloß die Macht in Kaganowitschs (oder Woroschilows) Hände übergegangen, und zwar mit der Unterstützung des Obersten Kommissars des Allgemeinen Sicherheitsdienstes Jagoda; und der Stalin-Clique wäre es möglich gewesen, sich durch Strafverfolgungen ihrer politischen Gegner zu entledigen.

Zur Zeit des Kirow-Attentats fragten sich die eingesperrten Trotzkisten – die ich kenne – ob das Attentat nicht eine stalinistische Neuauflage des „Röhm-Putsches“ sei. Man konnte damals tagtäglich Trotzkis Reaktionen in zahlreichen Artikeln verfolgen, die er entsprechend der Entwicklung der Ereignisse veröffentlichte. Er zitierte z.B. einen alten Artikel, den er 1911 in der Wiener Zeitschrift Kampf geschrieben hatte.

Verursacht ein Attentat – selbst ein gelungenes – Unruhen in den Führungskreisen oder nicht? Das hängt von der jeweiligen politischen Situation ab. Auf jeden Fall werden die Unruhen nicht von langer Dauer sein; denn der kapitalistische Staat beruht nicht auf seinen Ministern, und er kann nicht mit ihnen abgeschafft werden. Die Klassen, in deren Dienst er steht, werden immer wieder neue Diener finden; der Mechanismus überlebt in seiner Gesamtheit und funktioniert weiter.

Das Attentat verursacht viel größere Unruhen innerhalb der Arbeiterklasse. Wenn es genügt, sich mit einer Pistole zu bewaffnen? Wenn eine Bombenexplosion genügt, um die Machthaber einzuschüchtern, wozu dient dann die Partei?

Diesem Artikel, in dein ich die Vorbereitung des Proletariats auf die sozialistische Revolution dem terroristischen Abenteuertum gegenüberstelle, habe ich seit 23 Jahren nichts hinzuzufügen.

Über die Tat, die Kirow das Leben kostete, urteilte Trotzki folgendermaßen:

Die subjektiven Motive Nikolajews interessieren uns wenig. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Solange die Bürokratie nicht vom Proletariat abgeschafft wird, – und sie wird von ihm abgeschafft werden – solange erfüllt sie eine notwendige Funktion für die Verteidigung des Arbeiterstaates. Wenn sich der Terror gegen sie richten würde, könnte er, unter anderen ungünstigen Bedingungen, nur der faschistischen Konterrevolution einen Dienst erweisen.

Die Orientierung der sowjetischen Jugend zum Terrorismus hin ist nicht aus der Linksopposition entstanden, sondern aus der Bürokratie und ihrer inneren Zersetzung. Der individuelle Terror ist im Grunde die Kehrseite der Bürokratie ... – Die Bürokratie zählt nicht auf die Massen, an deren Stelle sie sich setzt; der Terrorismus verfährt ebenso; er gibt vor, den Massen ohne ihre Mitwirkung zum Glück zu verhelfen ... (Bulletin der Opposition – in russischer Sprache – Januar 1935).

Einige Monate später nahm Trotzki dieses Thema wieder auf und schrieb:

Die unentschuldbaren Grausamkeiten, die die bürokratischen Methoden der Kollektivierung hervorbringen, sowie die schreckliche Gewalt, die gegen die besten Elemente der proletarischen Avantgarde angewendet wird, rufen unvermeidlich Haß und Rachegedanken hervor. Man kann beobachten, daß die Jugend eine terroristische Gesinnung entwickelt ... Aber wenn die Bürokraten in ihrer Selbstanbetung glauben, daß sie die Geschichte machen, dann irren sie sich gewaltig. Nicht Stalin hat den bürokratischen Apparat geschaffen, sondern dieser Apparat hat Stalin nach seinem Bilde geschaffen. Die Ablösung Kirows durch Jdanow hat überhaupt nichts verändert ... Die Ablösung Stalins durch irgendeinen Kaganowitsch würde ebenfalls keine Veränderung herbeiführen ...

Aus diesem Grunde ist der individuelle Terror in unseren Augen ohnmächtig und lächerlich. Wir haben die grundlegenden Elemente des Marxismus nicht verlernt. Das Schicksal der Bürokratie und des sowjetischen Regimes sind abhängig von Faktoren, die eine internationale historische Bedeutung haben. Nur die Erfolge des internationalen Proletariats können dein sowjetischen Proletariat Selbstvertrauen geben. (Bulletin, September 1935)

Seit Plechanows Bruch mit den späteren Terroristen des „Volkswillen“ um 1879 ist dies immer die starre doktrinäre Haltung der russischen Marxisten gewesen, selbst zu den Zeiten, wo der Terrorismus von der sozialrevolatiönären Partei ausgeübt wurde und sich als wirksames Mittel im Kampf gegen die Autokratie erwies. Trotzki repräsentiert offensichtlich ein halbes Jahrhundert marxistischer Tradition. Es ist zu beachten, daß er der stalinistischen Bürokratie eine trotz allem nützliche Funktion bei der Verteidigung des proletarischen Staates zuerkennt. Wir wissen, daß er während der letzten Jahre nicht gezögert hat, mit all jenen Kämpfern der internationalen Opposition zu brechen, die Zweifel über den proletarischen Charakter des sowjetischen Staates geäußert haben oder für den Kriegsfall gegenüber diesem Staat eine andere Haltung als die bedingungslose Verteidigung propagiert haben.

 

 

Erklärung eines Selbstmordes

Sinowjews und Kamenjews Politik bestand darin, sich von der Partei in Gnaden wiederaufnehmen zu lassen, um am Tage der Regierungsumbildung zumindest mit einem Teil ihrer früheren Autorität in der Partei zugegen zu sein. So verwirrend ihre falschen Geständnisse auch sein mögen, jener außergewöhnliche politische und moralische Selbstmord, der ihre Exekution ermöglichte; wer diese Menschen gekannt hat, dem fällt die Erklärung dafür nicht schwer, sie läßt sich in wenigen Worten mitteilen: Aufopferung für die Partei, Dienlichkeit (mit Dienlichkeit übersetze ich ein russisches Wort, das man adäquater mit „Anpassung an das angestrebte Ziel“ wiedergeben sollte – ein kleiner furchtbarer Satz, den ich dort oft gehört habe ...).

Als Gründer der alten bolschewistischen Partei konnten sie sich ein Leben außerhalb der Partei nicht vorstellen und bekundeten offen, daß man um jeden Preis in der Partei bleiben müsse, wenn man damit auch seine eigenen Vorstellungen leugnen und seine Würde aufs Spiel setzen müsse (legt man seine Würde auf die Waagschale, wenn es um das Wohl der Revolution geht?) und vortäuschen würde, sich dem offiziell angebeteten Chef zu beugen, den man in seinem tiefsten Inneren für den schlimmsten Totengräber der Revolution hält. Deshalb ihre wiederholten Kapitulationen, ihr doppeltes Spiel als Oppositionelle, d.h.. oppositionell zu sein und es gleichzeitig doch nicht zu sein, ihre schreckliche Situation als ewig Verdächtige. Um sie besser in Verruf bringen zu können – denn schon als überlebende Kameraden Lenins blieben sie aufgrund ihrer fundamentalen Verbundenheit mit dem Bolschewismus und mit ihrer Vergangenheit für immer gefürchtete Konkurrenten – verlangte man von ihnen in regelmäßigen Zeitabständen die demütigendsten Apostasien. Sie kamen aus dem Gefängnis, sie kehrten aus den entferntesten Winkeln Zentralasiens zurück, um von Neuem die Tribünen der Parteitage zu besteigen, um – wieder einmal – vor dem alleinigen Chef öffentlich Abbitte zu tun. Dann verschwanden sie wieder im Dunkel, und jeder wußte, daß sie existierten, trotz aller ihnen zugefügten und von ihnen akzeptierten Demütigungen. Sie würden solange existieren, wie sie leben würden. Die ihnen aufgezwungenen Selbstverleugnungen schmälerten ihren Ruf nicht mehr, denn man kannte ihren tiefen Grund: die Verbundenheit mit der Partei ... Und dann wußte jeder, daß in einem Land ohne Recht die Verteidigung nur im Rückzug, die Rettung nur in der Feigheit bestehen kann. Man paßt sich an, man „stellt sich tot“, man wartet. Und die Machthaber, die das durchschauen, bekämpfen die Passiven ...

In einer Zelle, die sich einige Etagen über dem Exekutionskeller befand, hielt man ihnen also ungefähr folgende Rede:

Was Ihr auch sagen und tun mögt, Ihr seid unsere unerbittlichen Feinde. Aber Ihr habt Euch für die Partei geopfert, das wissen wir auch. Die Partei verlangt von Euch ein noch größeres Opfer als bisher. Euren politischen Selbstmord. Ihr müßt Ihr Euer Gewissen opfern. Ihr werdet dieses Opfer besiegeln, indem Ihr selbst der Todesstrafe zuvorkommt. Man wird dann glauben, daß Ihr in Wirklichkeit vor dem Chef die Waffen niederlegt. Wir verlangen dieses Opfer von Euch, weil die Republik in Gefahr ist. Dar Krieg bedroht uns, um uns herum lebt der Faschismus auf. Wir müssen um jeden Preis Trotzki in seinem Emil erreichen, seine im Entstehen begriffene Vierte Internationale diskreditieren und eine Heilige Allianz um den Chef bilden, den Ihr verabscheut, den Ihr aber anerkennt, weil er der stärkste ist. Wenn Ihr mitmacht, habt Ihr eine Überlebenschance. Wenn Ihr Euch weigert, werdet Ihr auf diese oder jene Weise verschwinden.

Wenn man lange Zeit in der UdSSR gelebt hat, kennt man die Kriegspsychosen, die die Führer dort verbreiten, dann versteht man die Wirkung dieses Appells, der letzten Endes nicht der Feigheit, sondern dem Opfertod gilt. Dieser Appell ist umso wirksamer, als die Mehrzahl der Angeklagten alte Gegner Trotzkis und seit jeher darauf bedacht sind, ihn mit allen Mitteln zu diskreditieren (Smirnow und Goltzmann bilden eine Ausnahme, und ihre Haltung war außergewöhnlich; aber insgesamt gelten dieselben Gründe auch für sie. Smirnow, der sich schließlich auch der Staatsräson beugt, scheint eingewilligt zu haben, nur eine Sache zuzugeben ...).

Eine Weigerung hätte vielleicht größere Überlebenschancen, aber damit auch den Bruch mit der Partei bedeutet. Sie konnten sich nicht weigern ...

Andere haben sich vielleicht geweigert. Werden wir es jemals erfahren?

 

 

Man hat ihnen das Leben versprochen ...

Abgesehen von den Versprechungen, die ihnen wahrscheinlich gemacht wurden, hofften die Angeklagten auf weitere Überlebenschancen. Zunächst war das sowjetischte Recht zu der Zeit, als es ein sowjetisches Recht gab, sehr formal. Das Gesetz straft nicht, es rächt nicht, es beschränkt ich darauf, die Gesellschaft zu schützen. Der gestellte Verbrecher, der aufgrund seiner Geständnisse und seiner ganzen Haltung nicht mehr in der Lage ist, Schaden anzurichten, soll nicht für das, was er getan hat, bestraft werden; er soll keine gerichtliche Verfolgung erleiden; er kann höchstens für eine gewisse Zeit aus Gründen der Vorsicht und der Umerziehung von der Gesellschaft isoliert werden. Man rühmt sich, dieses Prinzip auch auf die unverbesserlichsten Vorbestraften anzuwenden, und man zeigt den Touristen gerne die Kolonie der GPU in Bolschewo in der Nähe von Moskau, in der zahlreiche Verbrecher, die mehrere Menschen auf dem Gewissen haben, in bewachter Freiheit arbeiten, in den Club gehen, Stalin lesen, an Stachanowschen Brigaden teilnehmen. Panait Istrati rief begeistert: „Wie schade, daß man mehrere Menschen umgebracht haben muß, um dieses Leben genießen zu können!“ Man hatte ihm natürlich nicht gesagt, daß man außerdem seine Komplizen ausgeliefert haben muß.

In zwei vorhergehenden Fällen war das Gesetz nicht weniger formal. Die Hauptangeklagten der beiden vergleichbaren großen Prozesse, die ebenfalls mit der subtilsten Dosierung von Lüge, Angst und Unterwerfung vorbereitet worden waren, sind nicht exekutiert worden. Der Ingenieur Mamsin, der sich im Jahre 1930 selbst beschuldigte, eine geheime Industriepartei gegründet, die Industrialisierung sabotiert und in Verbindung mit dem Generalstab einer heute sehr befreundeten Macht eine ausländische Intervention vorbereitet zu haben, hörte niemals auf, für das Kommissariat der Schwerindustrie tu arbeiten und wurde kürzlich mit seinen Hauptkomplizen rehabilitiert. Er ist reich und geachtet. Aber ich würde gern wissen, was aus den beiden Volksschullehrerinnen aus Leningrad geworden ist, die aus der Gewerkschaft ausgeschlossen wurden, weil sie sich geweigert hatten, für die Todesstrafe dieses Verräters zu stimmen? Dieser Makel lastet wahrscheinlich noch immer auf ihrem Leben ...

Die alten Sozialisten, die sich wenig später gegen alle Wahrscheinlichkeit des gleichen Verbrechens bezichtigten, und zwar in einem Prozeß, der vom Anfang bis zum Ende ein unglaublicher Schwindel war (sie gaben zu, die Auslandsintervention auf Anweisungen der Sozialistischen Internationale vorbereitet zu haben ...) leben heute noch, allerdings im Gefängnis. Kurz und gut, eine ausländische Intervention gegen das eigene Land vorzubereiten, ist wohl ein größeres Verbrechen als das, mit dem sich Sinowjew, Kamenjew und ihre Mitangeklagten gezwungenermaßen belasteten; und die Gründer der Partei, die Helden des Bürgerkriegs (Mratschkowski, Smirnow, Dreiser) konnten logischerweise nicht härter bestraft werden als Verräter ... Nur zählte die Logik hier überhaupt nicht.

Es muß also zwischen den Angeklagten und dem Chef eine Art Abmachung gegeben haben, in die die Angeklagten aus Aufopferung für die Partei und mit einem Rest Hoffnung auf Menschlichkeit und politische Gesinnung eingewilligt haben. „Er wird es nicht wagen, er wird nicht so weit gehen, er ist doch immerhin auch ein altes Parteimitglied“, das werden sie sich in den schrecklichen Augenblicken des Zweifels gesagt haben müssen.

Und ihren Irrtum haben sie erst im allerletzten Augenblick eingesehen, als man ihnen die Hände fesselte, um sie hinabzuführen ...

 

 

Die Motive

Aus welchen Motiven handelte Stalin, als er die ehemaligen Mitglieder des Politbüros der Partei verschwinden ließ? Das augenscheinlichste Motiv liegt in der Verankerung seiner persönlichen Macht. Wenn er sich „Chef der Chefs, genialstes Genie aller Zeiten, Sonne, Vater“ nennen läßt, so tut er das nicht nur, um die Schmeicheleien niedrigster Qualität zu genießen, die seine eigenen Pressedienste hervorbringen. Seine Macht ist absolut, unkontrolliert, ewig. Wer würde einen Einwand äußern, wenn es ihm beliebte, seinen Nachfolger zu bestimmen? Man wird es eines Tages von ihm erwarten als Gnadengeschenk an sein gutes Volk ... Die Verankerung einer persönlichen Macht, die dermaßen in Widerspruch zu den sozialistischen Prinzipien und der bolschewistischen Tradition steht, wird nicht ohne die Eliminierung der alten Oktobergarde möglich sein. So passiv die letzten Überlebenden dieser Garde auch sein mögen, sie sind auf jeden Fall denkende Wesen und stellen von daher eine Gefahr für die Zukunft dar.

Trotz ihrer Verfolgung genossen Sinowjew, Kamenjew und Smirnow eine an gewisser Weise privilegierte politische Situation. Die Partei, ja, das ganze Land wußte, daß diese Alten, die zusammen mit Lenin die Partei aufgebaut und die Revolution gemacht haben, seit etwa 10 Jahren nicht mehr an der Macht beteiligt sind. Die Millionen Opfer der Zwangskollektivierung, die Jahre des Hungers und des Terrors gegen die Arbeiter konnte man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Infolgedessen konnte man sie öffentlich diskriminieren, sie erniedrigen oder wie im Falle Smirnows schweigend einkerkern; sie behielten trotz allem eine gewisse Größe und konnten eine Reservemannschaft bilden ...

Heute gibt es keine Reservemannschaft mehr.

Die Bestätigung der persönlichen Macht ist nur ein Aspekt der Bestätigung einer Politik. Man kann sagen, daß der sowjetische Thermidor, der jahrelang andauerte, vorbei ist. Der Messagero, ein faschistisches italienisches Organ, hat nicht Unrecht, wenn er behauptet, daß die Tollwütigen der Russischen Revolution kaltgestellt sind. Man versteht sehr gut, daß die Bourgeoisie die proletarischen Revolutionäre, die bereit sind, den Kampf gegen die Bourgeoisiie fortzusetzen, „tollwütig“ nennt. Die sowjetische Bürokratie kristallisiert sich als eine Art privilegierte Klasse – oder Kaste – heraus, deren Privilegien gegenüber den Massen immer mehr zunehmen. Sie macht ihre eigene Außenpolitik, die sich deutlich von der des revolutionären Proletariats unterscheidet, und die zur Zeit darin besteht, sich in die Vereinigung der größten imperialistischen Mächte zu integrieren. Niemals seit der Oktoberrevolution waren die sozialen Ungleichheiten in der UdSSR größer als heute. Niemals waren die Werktätigen, die Arbeiter, Bauern und Angestellten seither einem strengeren Regime unterworfen, waren sie ihrer politischen Rechte, ihrer Meinungsfreiheit so sehr beraubt; waren sie der Bürokratie, die ihnen einen lächerlichen Durchschnittslohn aufzwingt, so sehr ausgeliefert. Niemals stand die offizielle Ideologie in so krassem Widerspruch zu den Zielen, den Bestrebungen und der Tradition der Oktoberrevolution. Infolgedessen muß jeder Kommentar über die Ideen von gestern, jede Anspielung auf Lenin untersagt werden. Die Bürokratie fürchtet nichts so sehr wie die Explosionskraft der Ideen, die sie zu verteidigen vortäuscht – vortäuschen muß – um den Anspruch erheben zu können, die alten Fahnen hochzuhalten. Sie muß die Generation, die diese Ideen wirklich verkörpert, ausschalten. Die alten Bolschewiken, und damit meine ich die Männer, die bis zu Lenins Tode standhielten, befinden sich heute in derselben anachronistischen Situation wie die Jakobiner unter der Reaktion des 9. Thermidor.

Die sozialistische Revolution, die von den Emporkömmlingen untergraben wird, unterscheidet sich aber von der bürgerlichen Revolution (1789 – 93 – 1800 ...) in der Hinsicht, daß sie nicht in einer stabilen Ordnung mündet, die in Übereinstimmung mit ihren Zielen steht. Solange Sie den Wechsel nicht eingelöst hat, der von den siegreichen Aufständischen des Oktober 1917 ausgestellt wurde und der ihr in nächster oder naher Zukunft von Millionen von Arbeitern vorgelegt werden wird, solange wird sie unter der Bedrohung innerer Krisen leben. Die Bürokratie übt keine legitime Macht aus; sie kann sich weder auf das göttliche Recht des Ancien Régime noch auf die Naturgesetze des bürgerlichen Positivismus berufen; sie ist gezwungen, sich selbst zu verneinen, indem sie vorgibt, „die Bürokratie zu bekämpfen“ – jawohl! – und nur die Werktätigen zu vertreten und deren Glück zu sichern. Diese verlogene Situation kann nicht ewig bestehen, sie kann überhaupt nur bestehen aufgrund ständiger Interventionen des Polizeiministeriums an der Basis des totalitären Staates. Aber es empfiehlt sich, bevorstehende Wendepunkte vorherzusehen. Es stehen sicherlich welche bevor. Es kann sein, daß wir am Vorabend großer innenpolitischer Veränderungen oder schwerwiegender außenpolitischer Ereignisse stehen. In beiden Fällen muß das revolutionäre Potential der Massen einkalkuliert werden. Es muß im voraus geschwächt werden. [10] Im Kriegsfall: Säuberung, Warnung an das russische Proletariat, das von den Ereignissen in Spanien, die auf die großen Junistreiks in Frankreich und Belgien folgten, tief, ja in gefährlicher Weise erschüttert ist ...

Die Opposition hingegen existiert in den verschiedensten Formen. Latent vorhanden, unsichtbar, schweigend, sich zuweilen durch eine Kleinigkeit verratend; um so schlimmer für den, der dies tut: 3 Jahre Internierung in einer Strafanstalt ist der durchschnittliche Preis. Die Opposition existiert außerdem in einer Form, die aufgrund ihres Übermaßes an Heroismus fast absurd erscheinen kann: einige Tausend Unbeugsame aller revolutionärer Schattierungen – und einige ohne jegliche Schattierung, die sich, so gut sie konnten, gebildet haben und nicht genau wissen, was sie sind – repräsentieren die Opposition in den Gefängnissen, den Konzentrationslagern und in der Verbannung. Die gefährlichsten, übrigens auch die zahlreichsten, sind diejenigen, die sich auf die Oktoberrevolution berufen, allen voran die Trotzkisten. Sie haben einen Führer, einen außergewöhnlich unbeugsamen Führer, der schon fast legendär geworden ist, weil er Lenins Ebenbild gewesen sein soll, der Organisator des Aufstandes und des Sieges, der einzige Oppositionelle, der nie kapitulierte, der nach Alma-Ata Deportierte, der auf die Insel Prinkipo und nach Norwegen Verbannte. Er ist außer Reichweite, er läßt sich nicht aufspießen, und solange er lebt, kann sich die Reservemannschaft wieder bilden, da ein Kopf und ausgerechnet der größte Kopf weiterbesteht.

Man mußte den Terrorismus erfinden, denn diese Anschuldigung allein ermöglichte es, die einen zu exekutieren und gleichzeitig den anderen, nämlich Trotzki, indirekt zu schlagen. Aber wie?

Aus all diesen Tatsachen läßt sich eine unvermeidliche Schlußfolgerung ableiten: der Kampf zwischen der Opposition und der Bürokratie repräsentiert nicht mehr verschiedene Tendenzen der Arbeiterbewegung; er ist zu einem Klassenkampf geworden. In dieser Hinsicht darf man sich keinen Illusionen hingeben; die Arbeiterklasse der UdSSR muß, wenn sie das Recht zu denken und zu handeln wiedererobern will, Kämpfe durchstehen, die nicht weniger grausam sein werden als die Kämpfe, die sie erst kürzlich gegen das Ancien Régiine geführt hat.

 

 

Angst

Das beste Gesamturteil über dieses Verbrechen stammt von Otto Bauer: „Die Exekution der Sechzehn ist ein riesiges Unglück für die internationale Arbeiterbewegung.“ Die Folgen können wir noch nicht abschätzen. In der Russischen Revolution ist dieser ungeheure Prozeß in etwa mit dem 9. Thermidor vergleichbar, ohne die Analogie auf die Spitze treiben zu wollen. Dieses legale Massaker der großen Kämpfer der Russischen Revolution ist von derart widerwärtigen Umständen begleitet, daß es nicht nur ein grausames Spaltungsmanöver darstellt, sondern auch eine erneute Abwertung der menschlichen Qualitäten, die wir alle zum Leben brauchen ... und das zu einem Zeitpunkt, wo die Arbeiterklasse jenseits aller theoretischen und taktischen Divergenzen der Einheit im Denken und im Handeln bedarf, uni leben und siegen zu können; zu einem Zeitpunkt, wo in Spanien parteilose Sozialisten, Anarchisten, Syndikalisten, stalinistische und trotzkistische Kommunisten in denselben Schützengräben liegen und unter denselben Kugeln ums Leben kommen. Der Sozialismus wird den Faschismus nicht besiegen, wenn er die Menschen solche Sitten lehrt. Dieses vergossene Blut, diese Erniedrigung der Besiegten, diese Grausamkeit des Siegers, diese Borgia-Justiz, die im ersten Arbeiter- und Bauernstaat eingeführt wurde, diese Unterwerfung unter die Partei, die zu einer unbeschreiblichen Demoralisierung führt, all dies wirft Schande, Schmutz, Schrecken, Lüge und Angst auf das, was wir alle verteidigen- wir alle, ohne Unterschied der Tendenzen, abgesehen von denen, die für ihre hinterhältigen Geschäfte bezahlt werden. Wir alle sind von dieser blutigen Hand geschlagen worden. Und der Feind sieht das und lauert uns auf.

Die großen Ideen, die für uns lebensnotwendig sind, sind für lange Zeit mit Schmutz besudelt. Nach dieser Niederträchtigkeit, dieser Verlogenheit, nach all den Polizeiintrigen werden wir Jahre brauchen, uni den Gedanken der proletarischen Partei, dieser mächtigen Schar freier Menschen, die verbunden sind durch einen gemeinsamen Gedanken und durch solidarisches Handeln, um diesen Gedanken wieder in das Bewußtsein der Massen zu tragen. Wir werden Jahre brauchen, um den Gedanken der Befreiung, den Gedanken der Diktatur des Proletariats von Engels und Lenin wieder aufleben zu lassen.

Und um wie vieles haben sich die Lebensbedingungen der heutigen Zeit verschlechtert?

Mir scheint, wir haben alle nur eine Möglichkeit, um die Folgen dieses angerichteten Übels zu mildern: wir müssen dieses Übel ohne Schwäche beurteilen. – Wenn auch die Ausrottung der alten Bolschewisten erst begonnen hat, das Bewußtsein der Arbeiterwelt und all jener, für die Sozialismus weder Gefängnis, noch Fessel, noch Lüge, noch Blut bedeutet, sondern wirkliche Befreiung der Arbeiter und Geburt eines Menschen neuer Würde, wird einen Prozeß ganz anderer Art erleben ... Der Weg wird lang sein, er wird hart sein, aber man muß die Wahrheit wissen. Wir sind trotz allem irdische Wesen, die man zwar töten kann, die man aber weder zum Schweigen noch zum Lügen bringen kann und die nicht aufgeben werden. Nein!

Wir müssen die Wahrheit an den Tag bringen über das, was sich in den Kellern ereignet hat, in denen Lenins Kameraden niedergemetzelt wurden; dieser Aufgabe müssen sich einige Männer, die guten Willens sind, solange widmen, bis das Bewußtsein der Arbeiter wieder entgiftet ist. Eine andere Aufgabe, zu der wir unablässig alle aufrufen müssen, besteht darin, die letzten Vertreter der Oktoberrevolution, auf die heute die Gewehre gerichtet sind, zu schützen und zu retten ...

An diese Menschen denke ich mit größter Angst. Man wird ihnen keinen Prozeß machen, denn sie würden sich selber zu Anklägern machen (im Übrigen sind diese Prozesse wahrscheinlich abgeschlossen; wozu braucht man dann noch Geständnisse? Es ist jedoch nicht unmöglich, daß man noch ein oder zwei Prozesse einleitet und dabei die Angeklagten über Sinowjews, Kamenjews, Smirnows ... Schicksal im unklaren läßt). Stalin läßt seine Anhänger erschießen, entfernt die unterwürfigsten Funktionäre aus seiner Partei, sofern sie eine kommunistische Vergangenheit haben. Was wird er sich für jene Unerschütterlichen ausdenken, die seit 8 Jahren im Gefängnis und in der Verbannung – in der Verbannung im Gefängnis – sind und sich offen als seine Gegner bekennen, die sich weigern, ihre Ideen zu leugnen und über alle Drohungen erhaben sind? Uisjukow, der oberste Wächter des politischen Gefängnisses in Werdine-Uraisk betrat die Zelle, in der zwei meiner Freunde – zwei Unbeugsame – sitzen und sagte mit herabgezogenen Mundwinkeln:

Ihr habt gar keinen Grund, den Stolzen zu spielen. Wir wissen, wozu Ihr fähig seid.

Sie antworteten, indem sie mit den Achseln zuckten.

Was denn, Ihr wartet, bis sie aus Euch Hackfleisch machen?

Ich bin sicher, daß heute keine Oppositionellen mehr in der Verbannung sind. Alle sind im Gefängnis oder in Konzentrationslagern. Man wird sie kaum beschuldigen können, in die Kirow-Affäre (1934) verwickelt gewesen sein, da sie schon seit 1928 hinter Schloß und Riegel sitzen; allerdings hat man ja auch Smirnow erschossen, der 23 Monate vor diesem Attentat verhaftet wurde ... Ich kenne die Methoden. Man wird sie vor Gericht erscheinen lassen:

Wir haben nachgewiesen, daß Trotzki ein terroristischer Gestapoagent ist. Was sagen Sie dazu?

Diejenigen, die ich kenne, werden sagen, was sie darüber denken – mit 2 oder 3 Worten. Und man wird alle Mittel gegen sie einsetzen. Alle.

Ich habe unaussprechliche Angst um diese Männer ... Um den alten Eltsin und den jungen Eltsin, um Grigorij Jakowin, Fedor Dingelstedt, Lado Dumbadse, Wladimir Kossoir, Wissili Pankratow, Alexandra Bronstein, Chanaan Pevsner, die Brüder Papermeister, Wassili Tschernych, Man Nevelson, Sokrates Gjerworkjan, Platon Wolkow, Jacques Belenki, Marie Iwanowa, Marie Joffre – die, wie kürzlich berichtet wurde, ihrem Leben ein Ende gemacht haben soll ... Um Timotheus Sapranow und Wladimir Smirnow ... Aber hier müßte ich 300 Namen nennen, und das wären noch nicht alle ...

Was kann man für sie tun? Meine Fra e richtet sich an alle. Angst.

 

 

Anmerkungen

9. Schon Galiffet ließ sich von dieser Maxime leiten, bevor der große stalinistische Humanist sie formuliert hatte. Und gewisse spanische Generäle nehmen sie heute für sich in Anspruch ...

10. Das Verbrechen besteht darin, daß durch die Schwächung der Massen die Revolution für die Zukunft kampfunfähig gemacht wird. Wenn es am nächsten Wendepunkt der Geschichte keine sozialistische oder kommunistische Reservemannschaft gibt, wer wird dann die Lenkung der Ereignisse übernehmen? Man muß darauf gefaßt sein, daß die schonungslose bürokratische Reaktion antisozialistische, reaktionäre Strömungen hervorbringt, die immer noch latent vorhanden sind.

11. Stalin hatte damals auf Norwegen Druck ausgeübt, indem er mit wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen drohte – A.d.U.

12. Es ist bekannt, was die UdSSR selbst macht. Zur Zeit sind in der UdSSR verhaftet bzw. deportiert: Gaston Bouley, ein französischer politischer Flüchtling und ehemaliger Anarchist; Othello Gaggi, ein italienischer Gewerkschaftler; Calligaris, ein italienischer oppositioneller Kommunist; Zenzl Mühsam, die Witwe des in Deutschland ermordeten anarchistischen Schriftstellers; – sowie Flüchtlinge aus Ungarn, Deutschland, Polen, Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien ... Das soll genügen.

13. Diesen Artikel von Dimitrow, in dem er zugleich die Führer der Sozialistischen Internationale mit Beleidigungen überhäuft, sollte man fast vollständig zitieren, wenn es nicht ein zu müßiges Geschäft wäre. Man verleumdet oft die Hottentotten, indem man ihnen eine Moral zuschreibt, die man so ausdrücken könnte: „Wenn ich die Kuh meines benachbarten Kaffern stehle, dann ist das sehr gut; wenn er versucht, meine Kuh zu stehlen, dann ist das ein Verbrechen!“ Dimitrow weiß besser als jeder andere, wie man in einem totalitären Regime einen Prozeß wegen Hochverrats in Gang bringt; er, der unversehrt aus dem Leipziger Prozeß davongekommen ist, ist in der Lage, nicht ohne bestimmte Absicht. Vergleiche zwischen der mehr oder weniger starken Tendenz zum legalen Mord in den Regimen Hitlers und Stalins anzustellen. Nebenbei will ich bemerken, daß er die Frechheit besitzt zu schreiben: „Die im Prozeß vorgelegten Dokumente haben bewiesen, daß ...“ etc.; und „alles, was in einem öffentlichen Prozeß notwendig ist, um die Straffälligkeit der Trotzkisten-Sinowjewisten als Terroristen zu beweisen, war im Überfluß vorhanden.“ In Wirklichkeit gab es im ganzen Prozeß kein materielles Beweisstück! – Um noch einmal auf die Moral der Hottentotten zurückzukommen: Die sowjetische Presseagentur Tass veröffentlichte in den letzten Tagen eine Notiz, in der sie gegen das skandalöse Vorgehen der Japaner in der Mandschurei protestiert. Verstehen Sie mich richtig! In der Absicht, die Gebiete einiger Weißrussen zu erobern, haben die Japaner diese verhaftet und sie im Laufe der Ermittlungen zu dem Geständnis gezwungen, Spionage für die Roten betrieben zu haben, haben sie in unwürdiger Weise und ohne Rechtsbeistand verurteilt und erschossen ... Die stalinistische Presseargentur protestiert!

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003