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Hört zu!
Einer, der Bescheid weiß, wird zu Euch sprechen.
Er weiß Bescheid; denn er kommt von dort zurück. Er hat dort 17 Jahre gelebt. Er ist voller Elan und Begeisterung hingegangen, um an der Oktoberrevolution nicht nur geistig teilzunehmen, sondern ihr seine ganze Person zu opfern.
Das war im Februar 1919. Seine junge Vergangenheit als Anarchist beinhaltete damals fünf Jahre stoischer Reflexion zwischen Gefängnismauern; nachdem er dieses Eis durchbrochen hatte, brannte in ihm noch immer das Feuer des katalanischen Aufstandes.
Kaum hat er den russischen Boden betreten, der damals allen Verdammten dieser Erde eine Heimat bot, kaum ist er mit der mächtigen Befreiungsbewegung, die die Geschichte jemals erlebte, in Berührung gekommen, da wird er von dieser Bewegung erfaßt; Männer, die Mut und Tapferkeit zu schätzen vermochten, nahmen ihn in den Dienst der Revolution auf. Man beauftragt ihn mit der Leitung des Verlagsbüros in Petrograd; die Dritte Internationale ist soeben in Moskau gegründet worden; er leitet die französische Ausgabe der Zeitschrift Die Kommunistische Internationale; mit seinem Wissen unterstützt er die Druckerei der Internationale.
Als Judenitsch im Oktober in Petrograd eintrifft, verläßt er den mühevollen Kampf mit der Feder, um den Kampf mit dem Gewehr aufzunehmen; erst nachdem die Stadt und die Revolution gerettet sind, greift er wieder zur Feder.
Nach erfolgreichem Wirken und Schaffen (er hat unter anderem das Museum der Revolution gegründet) wird er im September 1921 nach Berlin geschickt, um die französische Ausgabe der Internationalen Korrespondenz zu leiten; nach dem Scheitern der deutschen Bewegung setzt er seine Arbeit in Wien fort.
Aber im Jahre 1924, kurz nach Lenins Tod, ist er über die Politik, die einige Nachfolger des "Alten" betreiben, beunruhigt und bringt seine Besorgnis in den Versammlungen seiner Zelle zum Ausdruck. Keine öffentliche Rede, das kommt nicht in Frage; keine Agitation, dazu hat er weder die Mittel noch die Absicht; kein Bericht in der Presse, denn sie verschließt sich jeder Kritik; sondern drei kurze Stellungnahmen in seiner Basisorganisation, einige Diskussionen mit Freunden, Briefe an ausländische Kameraden, in denen er seine Besorgnis ausdrückt.
Die Antwort ist hart: 1927 wird er aus der Partei ausgeschlossen; der Ausschluß hat automatisch seine Verhaftung durch die GPU [2] zur Folge. Ohne Urteilsspruch sperrt man ihn 40 Tage lang ein; nachdem er krank wird, läßt man ihn frei.
Da ihm jede literarische Tätigkeit untersagt ist und er auch keine andere Arbeit bekommt (er hat Frau und Kind), beantragt er die Ausreisegenehmigung nach Frankreich, um dort seinen Beruf als Schriftssteller auszuüben, um dort seine Frau zu pflegen, die durch die Verfolgung wahnsinnig geworden ist, schließlich um zu leben. Unbegründete Ablehnung.
Am 8. März 1933 wird er aus dem einzigen Grunde, daß er ein wenig zu lange zögert, um gegen seine Überzeugung zu sprechen und Fehler einzugestehen, die er niemals begangen hat, von Neuem verhaftet und nach Orenburg deportiert. Er widersetzt sich;. er will den Grund seiner Strafe wissen; da er nicht angeklagt worden war, wurde er nicht verurteilt und konnte sich nicht verteidigen. Eine administrative Maßnahme, in aller Heimlichkeit getroffen, genügte, um sein Leben zu zerstören und ihn an einen Ort zu deportieren, den man nie wieder verläßt, wenn nicht durch ein Wunder.
Dieses Wunder geschieht. Nach drei Jahren langer erbitterter Arbeit (die zunächst darin besteht, ihn und seine Familie zu ernähren, da er nicht arbeiten darf) gelingt es der internationalen Arbeitersolidarität, die allein diese Aufgaben bewältigen kann, ihn und seine Familie aus dem Abgrund herauszuziehen und in den Westen zurückzubringen.
Seitdem ist er mit uns zusammen, er hat seine Aufgabe wieder aufgenommen, nämlich die Teilnahme am Kampf der Arbeiter. Er weiß aus einem tiefen, unerschöpflichen Wissen heraus, er weiß mit allen Fasern seines Wesens; er hat gelebt, gehandelt, gezittert, geteilt, geholfen, gewirkt, gefühlt, gelitten.
Und dennoch hätte er unserer Ansicht nach nicht das Recht, das Wort zu ergreifen, wenn er nur diese schlechten Erfahrungen gemacht hätte.
Wenn er aufgrund dieser Erfahrungen den Glauben, die Überzeugung und die Begeisterung für die Sache der Arbeiter verloren hätte, würden wir ihn selbstverständlich unterstützen und verteidigen, aber wir würden ihn auch daran erinnern, daß es seine Pflicht wäre zu schweigen.
Man muß ganz saubere Hände und eine beispielhafte Vergangenheit haben, um jenes Drama zu berühren, von dem er hier sprechen will, und man muß etwas anderes sein als ein Opfer, man muß etwas anderes bringen als Wunden, wenn sie auch noch bluten.
Victor Serge bringt etwas anderes, er ist etwas anderes.
Er bringt sein Leben: Willen, Mut, Würde; seinen Charakter: Größe, Stärke; sein Werk: Toleranz, Großzügigkeit, Wärme, Ehrlichkeit.
Ob man seine Romane liest (Les Hommes dans la prison, Naissance de notre Force, Ville conquise, Mer Blanche), oder seine Gedichte, seine Berichte, seine Artikel und Broschüren, sein gewaltiges historisches Werk über die Russische Revolution, seinen wertvollen Beitrag zum Aufbau einer proletarischen Kultur, überall, auf jeder Seite und in jeder Zeile wird man die gleiche revolutionäre Leidenschaft, die gleiche Klarheit, die gleiche Kompromißlosigkeit, die gleiche Begeisterung und die gleiche Ehrlichkeit finden.
Denn in jener Zeit, als es Revolutionäre gab, die aus ihrer Arbeit Profit schlugen, hat er alles gegeben, und sogar aus seinem Leiden hat er noch etwas geben können.
Denn in jener Zeit, als die Revolution sich allzu oft von ihrem menschlichen Prinzip und ihrem menschlichen Ziel entfernte, hört er nicht auf, seinen Teil an Menschlichkeit zur Revolution beizutragen.
Er ist ein Revolutionär, er ist ein Mensch.
Die Stimme, die nun zu Euch spricht, ist getragen vom glühenden Atem der Befreiung, sie ist das Echo einer Hoffnung, die ebenso alt ist wie die Unterdrückung. Hört zu!
1. Magdaleine Paz war eine französische Schriftstellerin, befreundet mit V. Serge. Sie hat die internationale Kampagne zur Freilassung Serges aus der stalinistischen Verbannung initiiert und geleitet.
2. Politische Polizei der Sowjetunion - Nachfolgerin der noch unter Lenin und Trotzki gegründeten TSCHEKA. Später umbenannt in NKWD, heute berüchtigt als KGB. Anm. des Verlages.
Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003