Victor Serge

 

Alles ist in Frage gestellt

(1. Februar 1933)


Aus Victor Serge, Für eine Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Verlag Association, Hamburg 1975, S.119-27.
Übersetzung aus dem Französischen: Marita Molitor.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Anfang 1933, als ich mich sehr bedroht fühlte, schickte ich auf Umwegen diesen Brief alten treuen Freunden. Es sollte, so glaube ich, ein letzter Brief sein. Ich veröffentliche ihn heute, mit Ausnahme einer Zeile ohne Bedeutung, denn er scheint mir genau den momentanen Stand einer deformierten Revolution zu bestimmen, und weil, wie man sehen kann, gerade auch eine persönliche Erfahrung ein Element einer allgemeinen Einschätzung sein kann.

Sechs Wochen, nachdem ich diese Zeilen schrieb, war ich ohne erkennbaren Grund festgenommen, hinter Schloß und Riegel ...

Der folgende Brief an André Gide enthält dieselben Themen nach einer Distanz von drei Jahren, nach meiner Befreiung.
 

Liebe Freunde,

endlich habe ich die einmalige Gelegenheit, Euch zu schreiben. Der Brief kommt ohne Zweifel erst in einigen Monaten an. Das ist schon sehr gut. Es ist möglich, und ich will es hoffen, daß ich, dank Eurer Anstrengungen nicht mehr lange auf meine Befreiung warten muß. Aber ich muß das schlimmste befürchten, da ich niemals eingewilligt habe, die Augen zu verschließen. 1928 habe ich einen Paß beantragt, nur für mich allein. Seitdem habe ich nicht aufgehört, weitere Anstrengungen zu unternehmen. Andere wurden in Frankreich unternommen, die erstaunlicherweise keinen Erfolg haben. Inzwischen hat sich die Situation hier so sehr verschärft, die Zustände haben sich so sehr geändert, sind absolut unerträglich geworden, daß ich wohl oder übel gezwungen bin, die Zukunft anzuzweifeln (Ich spreche hier von der meinigen, genauer von der unsrigen, da wir ja zu dritt sind).

Ich will Euch nicht meine ausweglose Situation beschreiben: Kein Genosse mehr; alle die, mit denen ich zusammen war: deportiert, verhaftet, tot, verschwunden. Die Unmöglichkeit, eine mehr oder minder lebhafte Korrespondenz zu fuhren, sei es hier oder mit Euch. Ein ständiger Boykott, der mir hier jede geistige Tätigkeit verbietet, die enormen Schwierigkeiten des Schriftstellers, die er kaum noch überwinden kann, wenn er weiterschreibt. Veröffentlichungen? Sie werden nur unter der Bedingung geduldet, daß sie verfälscht und manipuliert sind, dem Tagesgeschmack angepaßt. Und da ich das nicht mitmache, bezweifle ich, daß meine Manuskripte wie früher nach Paris gelangen wurden, wenn ich sie der Post anvertrauen würde. (Die Zensur hält sich nicht länger zurück; sie stiehlt alles, was ihr paßt, sei der Brief eingeschrieben oder nicht.) Die Literatur? Die Realität ist so beklemmend, daß ich Angst habe, sie zu beschreiben. Werden meine Manuskripte ankommen? Das begonnene Werk wird von vornherein so ketzerisch empfunden, wie ich es nicht beschreiben kann, der gegenwärtige Alptraum lastet manchmal auf meiner Betrachtung der Vergangenheit – sogar auf meinem Denken, das ich mir lieber freier wünschte.

Selbst meine Sprache leidet unter dieser vollständigen Abgeschlossenheit. Ich kenne fast nichts mehr vom heutigen Französisch und die Zensur, die unendlich viel strenger ist, als unter dem alten Regime, läßt nur eine winzige Zahl von Büchern und Veröffentlichungen herein. Man hat noch nicht einmal die Möglichkeit, ein Tagebuch zu führen, nur für sich allein – ein Tagebuch, das jederzeit die eigene Existenz und die der Familie in Gefahr bringen kann.

Um zu leben, und das ist nicht leicht, muß man hinter Arbeiten herlaufen, die einem oft verleidet werden durch die Dummheit, die Lügen und die Unaufrichtigkeit der Leute. Und doch ist man froh, Arbeit zu finden – was aber jederzeit aufhören kann. Zuhause nur düstere Gesichter, die einen, terrorisiert, die nur mit den Wölfen heulen, die anderen. überzeugt, daß ihnen alles erlaubt ist. Drei GPU-Agenten in der Wohnung, davon zwei richtige Schurken, die herumspionieren, intrigieren und immer auf eine Gelegenheit lauern, bei der sie zuschlagen können. Jeder Brief wird geöffnet, jedes Telefongespräch bespitzelt, jeder Besuch beobachtet. Auf der Reise nach M. warf das Nachtquartier jeden Tag dasselbe beunruhigende Problem auf. Ist es möglich bei Leuten zu übernachten, ohne sie zu gefährden? Ich habe ASngst davor, sie in Gefahr zu bringen, und sie haben Angst, in Gefahr gebracht zu werden. Oder übernachten bei Leuten, die schon gefährdet sind. Eltern von Deportierten oder Verhafteten? Sie sind ständig in Gefahr und wir vervielfachen gegenseitig das tägliche Risiko. Dennoch habe ich es getan. Glaubt nicht, daß ich damit etwas Verbotenes getan hätte, das nicht. Ich habe Besseres zu tun. Es gibt nichts außer sporadischen und isolierten Aktivitäten, denn Unterdrückung und Provokation ersticken im Keim jede Entwicklung von Gruppen. Anarchisten, Syndikalisten, Oppositionelle aller Schattierungen gibt es nur im Gefängnis oder im Exil und alle sind zum physischen Untergang verurteilt. Schon seit Monaten bestätigt ein Gerücht bald den Tod Rakowskis, bald den Sinowjews, manchmal den beider: unmöglich, das genau zu erfahren.

Ich komme auf mein persönliches Problem zurück: Es hat sehr wohl eine allgemeine Bedeutung. Meine Frau hat dieses Regime nicht ausgehalten: Anfänge von Wahnsinn. Aus- und einsetzende Geisteskrankheit. Grauen und Furcht. Seit die „Affaire Russokow“ von Istrati geschildert wurde – der, wenn er auch große Ungereimtheiten gesagt und absolut nichts von Politik und vom großen Drama der Revolution verstanden hat, uns vielleicht allen das Leben gerettet hat – leben wir umringt von einer heruntergekommenen Mafia, die sich alles erlauben kann. Seit Jahren die andauernden Durchsuchungen zuhause. Die alten Eltern von Liuba sind zur Zeit mehr denn je bedroht, jeden Tag buchstäblich verfolgt: Denunziationen über Denunziationen, Provokationen, Verweigerung von Brotkarten. Die kleine Mafia sucht sie ihrer Pässe zu berauben, d.h. sie deportieren zu lassen, d.h. sie zu töten, denn eine Anpassung an die unbeschreiblichen Bedingungen der Deportation ist ihnen nicht mehr möglich, sie sind moralisch gebrochen. Zu dieser ständigen häuslichen Gefahr kommt eine andere, eine noch bedrohlichere, der man sich ständig ausgesetzt fühlt. Ich mußte oft während des Krieges, als ich in einem Konzentrationslager gefangen war, mit einer tödlichen Grippe rechnen, oder mit einer Kugel, wie man sie manchmal in unser Fenster schoß.

Heute frage ich mich manchmal, ob wir nicht so oder anders ermordet enden werden, es gibt ja so viele Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Deswegen schreibe ich Euch dieses. Falls ich verschwinden sollte – wenn sie mir etwas anlasten, legal oder nicht, oder daß der Zufall sich einmischt, in diesen Zeiten des Typhus – veranlaßt das Unmögliche, um die beiden zu retten, die mir am nächsten stehen, Liuba, die schon geistig krank ist und Vladi, ein tapferer junger Mann, der begabt ist und es verdient weiterzuleben. Verstehen wir uns richtig. Ich bin überhaupt nicht pessimistisch. Ich glaube, daß wir uns halten werden, wie wir uns bis jetzt gehalten haben und daß eine bessere Zukunft kommen wird. Ich habe vertrauen in das Leben, in die Freundschaft und in meine Kraft – prinzipiell und aus Überzeugung. Aber, ich wiederhole: die kühle Vernunft zwingt mich, das Schlimmste ins Auge zu fassen.

Mein kürzliches Gesuch nach Pässen war begründet mit meiner Schriftstellertätigkeit, die von Sprache und Herkunft französisch bzw. belgisch ist, mit den Anstrengungen meiner Freunde in Paris, mit der immer wieder aufflackernden Geisteskrankheit meiner Frau (zwei Selbstmordversuche). Man hat uns auf dem Verwaltungswege geantwortet: Wir pfeifen darauf. Das alles kann und muß sich ändern. Ich sage dazu nichts weiter, denn Pierre wird Euch gründlich aufgeklärt und mit Euch über mich gesprochen haben. Aber falls sich die Dinge zum Schlechten wenden, dann bitte ich Euch, diesen Brief ganz oder, je nach den Umständen, teilweise zu benutzen, besonders den allgemeinen Gehalt dieses Briefes, damit der Kampf, den ich trotz meiner scheinbaren Passivität und Ohnmacht führe, seinen vollen Sinn erhält.

Warum fürchtet man, mich ausreisen zu lassen? Warum diese ständigen Durchsuchungen? Man fürchtet den Zeugen, den Widersacher, den Analytiker. Ich glaube, daß man es bitterlich bereut, z.B. Trotzki herausgelassen zu haben. Das Regime zielt immer mehr mit seiner gewaltigen Macht auf die moralische und physische Unterdrückung des Gegners, wer auch immer es sei, selbst wenn er schon zum Schweigen gezwungen ist (ich bin es noch nicht völlig). Diese Furcht, dieses Grauen mußte man sagen, liegt im Wesen des Regimes, das seine Errichtung vollendet.

Eine unheilvolle Entwicklung hat sich durchgesetzt und setzt sich fort. Der Sozialismus kann ebenfalls reich an Erscheinungsformen sein, sogar noch mehr als der Kapitalismus. In mehrfacher Beziehung hat sich der Sozialismus in Rußland auf dem am wenigsten vorbereiteten Boden behauptet. Er hat nach und nach eine Menge Gewohnheiten des ältesten Rußlands wieder aufgenommen.. Er hat sich der Fortführung von Traditionen hingegeben, die bis auf Iwan den Schrecklichen zurückgehen. Ein Zeugnis der Schwäche. Man ist betroffen, beim Studium der russischen Geschichte dort auch bis ins kleinste die heutigen Praktiken wiederzufinden. Es ist immer dasselbe, was den Menschen zugefügt wird, dieselbe tödliche Intoleranz, dieselbe Unfähigkeit, Entwicklungen durchzumachen, dieselbe Furcht vor der Freiheit, der derselbe Fanatismus bei Regierung und Bürokratie, dieselbe Willkür auf allen Stufen der sozialen Hierarchie, derselbe unerbittliche düstere Zwang. Schon seit langen Jahren ist die Revolution in eine Phase der Reaktion getreten. (Genauso, als nach dem Thermidor die französische Revolution auf ihrem eigenen Boden in eine lange Periode der inneren Reaktion eintritt, obgleich sie im Verhältnis zum Europa des alten Regimes immer noch – auch unter Napoleon – eine revolutionäre Kraft ist.) Wir dürfen uns nicht verheimlichen, daß der Sozialismus die Keime der Reaktion in sich selbst trägt. Im russischen Bereich haben diese Keime üppige Blüten hervorgebracht. Zur Zeit stehen wir mehr und mehr einem totalitären Staat gegenüber, einer absoluten Kastenherrschaft, die von ihrer Macht berauscht ist und für die der Mensch nicht zahlt. Diese gewaltige Maschine ruht auf einem zweifachen Fundament: einer allmächtigen Geheimpolizei, die die Traditionen der Geheimkanzleien zu Ende des 18. Jahrhunderts (unter der Kaiserin Anna Johannowa etwa) wieder aufgenommen hat, und einem bürokratischen ‚Orden‘, im kirchlichen Sinn des Wertes, von privilegierten Ausführungsorganen. Die Konzentration der wirtschaftlichen und der politischen Macht hat bewirkt, daß der einzelne durch Nahrung, Kleidung, Wohnung, Arbeit gebunden ist und gänzlich der Maschine zur Verfügung steht. Das erlaubt es dieser, den Menschen zu vernachlässigen und auf die Dauer nur noch mit der großen Zahl zu rechnen.

Dieses Regime steht im Widerspruch zu allem, was während der Revolution gesagt, verkündet, gewollt und gedacht worden ist. Es genügt, an Lenins Gedanken über den Kommune-Staat zu erinnern, an die große Arbeiterdemokratie, eine Demokratie in Wirklichkeit und nicht in den Schriften, die das Sowjetsystem werden sollte. Es kristallisiert sich immer mehr heraus: die vollzogenen Veränderungen seit 1926 sind unglaublich: alle im reaktionären Sinn. Man kann sich jetzt nicht mehr vorstellen, daß es sich ein Parteimitglied erlaubt, in einer Versammlung eine einfache politische Frage zu stellen. Die Verhaftung eines alten Bolschewiken war noch 29-30 ein kleines Ereignis. Heute zählt auch das nicht mehr, sie bleibt geheim, und das ist alles. Die Einführung des neuen Paßrechtes – wie es nie vorher existierte – bedeutet für 95 % der Bevölkerung praktisch Aufenthaltsverbot in den größten Städten; für Millionen ihrer Bewohner: Deportation, mit allem, was sie an Gefahren und Leiden nach sich zieht. Für jeden bedeutet das sehr wahrscheinlich das „legale“ Festnageln am Arbeitsort, et bedeutet die Abschaffung einer der letzten individuellen Freiheiten – die, seinen Aufenthaltsort zu wechseln. Wenn jemand Ähnliches vor zwei Jahren vorausgesagt hätte, wäre er als Verrückter beschimpft worden. (Ich hoffe, daß man in der Praxis auf zu viele Schwierigkeiten stößt, auf kleine unerwartete Reaktionen von Seiten der Massen und daß die Herrschaft des neuen Ausweissystems sich nicht durchsetzen wird).

Und die Lüge, die man wie Luft einatmet! Vor einigen Tagen proklamierte die gesamte Presse, daß die Erfüllung des Fünfjahresplans zu einer Lohnerhöhung von 68 % führen würde und zur Sicherstellung des Arbeiters: keine Arbeitslosigkeit. Nun ist der Rubel ungefähr um das dreißigfache gefallen, während sich diese nominelle Lohnerhöhung abspielte. Und selbst in diesen Tagen war nur die rede von Entlassungen; um die Brotmarken wurde mit unglaublicher Heftigkeit gekämpft, die materielle und moralische Unsicherheit des Arbeiters erreichte einen Höhepunkt. So sieht es hier überall und zu jeder Zeit aus.

Außer den sehr großen, gewissermaßen natürlichen Schwierigkeiten – die Isolierung der Revolution, die Rückständigkeit des Landes – war eine lange reihe von groben Fehlern notwendig, um zu diesen Resultaten zu gelangen. Fehler, die, so scheint es, leicht hätten vermieden werden können, wenn das bürokratische Regime nicht ununterbrochen mit einer Sturheit ohnegleichen die idiotischsten Auswahlkriterien auch gegen sich selbst angewandt hätte, damit alle Initiative und Engagement lähmte und schließlich fast jeden gegen sich aufbrachte: nämlich all jene, die daraus nicht direkten Nutzen ziehen. Die Mechanisierung jeder sozialen Tätigkeit und der höchste Grad an Machtkonzentration angesichts einer zutiefst verbitterten und ernüchterten Bevölkerung, von der die ungeheure Masse sich passiv anpaßt und ohne Illusionen den Weg des geringsten Widerstands geht, vergrößern im höchsten Maß die Bedeutung weniger Männer, die in der Tat eine Diktatur ohne Kontrolle ausüben, ohne selbst so etwas wie eine öffentliche Meinung anzuerkennen. Diese wenigen Männer sind noch alte überzeugte Sozialisten, aus der Generation, die die Zeit vor 1917 hervorgebracht hat. Daran gewöhnt, sich vor allem auf Methoden des Zwanges zu verlassen, haben sie unglaublich wenig Ahnung. Ihre Ehrlichkeit als Kommunist wird nicht in Frage gestellt, das ist die einzige und sehr zerbrechliche Garantie der „Generallinie“, der die große Maschine folgt, die sie lenken.

Aber sie leben nicht ewig. Das Regime erlaubt nicht die Bildung von Nachwuchsgruppen. Es bringt unvermeidlich die Angepaßten aus der zweiten Reihe an die Macht, die nicht die geringste Garantie für eine revolutionäre Entwicklung und ein sozialistisches Bewußtsein bieten. Wenn auf die eine oder andere Art und Weise die neuen Männer, die heute noch unbekannt sind, ihre Hand auf die Schalthebel dieses totalitären Staates legen, wohin werden sie gehen, was werden sie machen? Das sind schreckliche, aber unausweichliche Fragen.

Oben wie unten sammelt sich eine furchterregende Macht der Reaktion an. Welche ihrer Formen vermehren sich besonders an der Basis? Zivilcourage wird nicht erlaubt. Großzügigkeit ist nicht möglich in einem Kampf ums Leben von solcher Bitterkeit (für ein Zimmer, eine Brotkarte bringt man sich gegenseitig mit Hilfe von Denunziationen um, man schlägt sich um einen Platz in der Straßenbahn), es gibt keine öffentliche Meinung, die eine Haltung kollektiver Moral aufrechterhält. Die schönen Worte auf den Anschlägen bringen fast jeden zum Lachen und verhöhnen die, die sie ernst nehmen möchten. Der Egoismus versteckt sich in der Augenblicksneigung und wiederholt unterwürfig die Phrasen über den sozialistischen „Wettstreit“.

Es gibt wohl eine Art von Gläubigen, dieselben wie überall: eigennützig die einen, jung und jugendlich aufrichtig die anderen. Jeder normale junge Mann gehört während einiger Jahre zur „schwärmerischen Generation“, und dann ist Schluß – Die guten Eigenschaften der Aufrichtigen sind verdorben durch ihre Selbstgefälligkeit, ihre Unwissenheit über das, was außerhalb der UdSSR vorgeht und pauschal von ihnen verachtet wird, durch ihre Beschränktheit im Denken, die übereinstimmt mit der Frömmelei der Untätigen und Nutznießer. Es gibt noch eine ganze Anzahl von Jugendlichen, die auf dem Weg der Besserung ist, gefangen von konkreten Problemen, begierig zu arbeiten und zu genießen, skeptisch gegenüber Ideen, egoistisch und hart, aber fähig zu Massenaktionen, denn einem kraftvollen Individualismus ist eine hinreichende ursprüngliche Geringschätzung des persönlichen beigegeben. Diese werden in Zukunft ihre stimme erheben.

Kein Wort, das ich hier niederschreibe, das ich nicht abstützen, erläutern und beweisen könnte! Wenn man hier ist, mit dem Kopf, den Augen, der haut sinnlich diese Realität erlebt und man liest dann die Prosa oder Erklärungen westlicher Touristen, die zwar wohlgemeint, aber absolut ungeeignet sind, die dinge zu durchdringen – dann hat man ein Gefühl wie etwa der Soldat im Schützengraben, wenn er die „Front“-Berichte von Journalisten aus der zweiten Etappe liest. Die Reaktion im Herzen der Revolution stellt alles in Frage, gefährdet die Zukunft, die Prinzipien und die schöne Vergangenheit der Revolution selbst, laßt für sie eine innere Gefahr entstehen, die zur Stunde sehr viel realer ist als die äußeren Gefahren, von denen man spricht – mitunter gerade, um die Ersteren vergessen zu lassen. Wird eine im Innern so kranke sozialistische Revolution an dem Tag, an dem sie sie braucht, eine ausreichende Anzahl von Verteidigern und Nachfolgern draußen finden? Die Frage beantwortet sich selbst. Zweifellos rührt aus diesem Übel im großen Maße die extreme Schwäche – und Spaltung – des Proletariats in der weltweiten Krise her.

Es bleibt schließlich meine Überzeugung, daß der Sozialismus, hier und anderswo, nicht siegen wird, bzw. sich nur dann durchsetzen wird, wenn er sich dem Kapitalismus überlegen zeigt, nicht in der Herstellung von Panzern, sondern in der Organisierung der gesellschaftlichen Verkehrsformen; wenn er dem Menschen bessere Verhältnisse als der Kapitalismus bietet; einen besseren Lebensstandard, mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit, eine größere Achtung des Menschen. Es ist Pflicht, dabei zu helfen; es ist daher auch Pflicht, gegen die Übel zu kämpfen, die den Sozialismus verderben. Die Pflicht ist eine doppelte: eine äußere und eine innere Verteidigung. Die Letztere wird immer mehr die Wichtigste. Und diejenige, die gegenüber dem Übel die Augen verschließen, machen sich zu seinem Komplizen durch Unwissen, Blindheit, Ängstlichkeit oder Eigennutz.

Die Oppositionellen befürworten eine Reform; sie haben selbstverständlich Recht. Aber sie ist unmöglich und kann sich nur mit der Zeit verwirklichen – in vielen Jahren – um den Preis langer und mühevoller Kämpfe. Und nichts ist weniger gewiß als das Gelingen. Alles ist in Frage gestellt.

Ich habe mich ganz von meinen persönlichen Problemen entfernt. Nichts von dem, was ich hier geschrieben habe, darf veröffentlicht werden außer für den Fall, daß ich verschwinden würde. Ich möchte, daß dann meine Stimme wenigstens von einigen wenigen gehört wird. Das ist nur eine Klärung ganz unter uns – eine Darlegung persönlicher Ansichten.

Die Mehrzahl der Betrachtungen, die vorangehen, stehen nicht im Zusammenhang mit der aktuellen Krise in der UdSSR (Hungersnot; Zusammenbruch des Rubels; drakonische Maßnahmen, die darauf abzielen, die Arbeit zu erzwingen, da man sie nicht auf eine Weise entlohnt, die es dem Arbeiter erlaubt, zu überleben), die ein Ende haben muß: schnell und mühelos genug, wenn man das Steuer nach rechts werfen würde, was aber auch politische Gefahren in sich birgt; sehr viel langsamer, wenn man auf dem einmal eingeschlagenen Weg einer maßlosen Verstaatlichung und Anwendung von Zwangsmaßnahmen beharrt. In diesem Fall wird es Jahre bedürfen, um wieder zu dem ärmlichen Lebensstandard von 1925 zu gelangen, der heute jedem paradiesisch erscheint. Die aktuellen Schwierigkeiten erscheinen mir weniger gravierend – trotz ihrer tatsächlichen Härte – als der Charakter des Systems, das sie entstehen ließ, und das es fertigbringt, das genaue Gegenteil aller Versprechungen der Revolution praktisch in die Tat umzusetzen.

Ich vermag keinen hervorstechenden Fehler in den Gedanken zu erkennen, die ich mir zur direkten Politik gemacht habe. Hier noch einmal mit anderen Worten, wozu ich mich bekennen werde und von dem ich möchte, daß es bekannt wird, falls es mir Verfolgung einbringt. Meine Position des Rückzugs und der Nichtübereinstimmung ist folgendermaßen:

Ich sehe keinen wirklichen Fehler in dem Ideenkonzept, das ich zwischen 1923 und 1928 innerhalb der Partei unterstützt habe. Ich habe nichts von dem zu widerrufen, was ich seither geschrieben habe. Abgeschnitten von der kommunistischen und Arbeiterbewegung des Westens, ohne seit mehr als fünf Jahren ein einziges Buch oder politisches Dokument gelesen zu haben, das im Ausland veröffentlicht wurde (außer einigen Fragmenten, und das auch nur sehr selten) kann ich mich keiner politischen Gruppierung enger anschließen. Ich sympathisiere mit allen, die gegen den Strom schwimmen, die die Ideen, die Grundsätze und den Geist der Oktoberrevolution zu retten suchen. Ich glaube, daß wir alles noch einmal überdenken müssen, und zwar indem wir anfangen, unter Genossen der verschiedensten Richtungen eine wirklich brüderliche Zusammenarbeit zu entwickeln, sowohl in der Diskussion wie auch in der Aktion.

In drei wesentlichen Punkten, die über allen taktischen Erwägungen stehen, werde ich, was es mich auch kosten mag, ein erklärter Opponent bleiben und nur unter Zwang schweigen:

I. – Verteidigung des Menschen, Achtung vor dem Menschen. Seine Rechte, seine Sicherheit, sein Wert müssen ihm wiedergegeben werden. Ohne das gibt es keinen Sozialismus. Ohne das ist alles falsch, verfault, verdorben. Der Mensch, wer auch immer er sei, und wäre er der letzte der Menschen, ‚Klassenfeind‘, Sohn oder Enkel von Bürgern, darauf pfeife ich; man darf nie vergessen, daß ein Mensch ein Mensch ist. Hier unter meinen Augen, überall, wird das jeden Tag vergessen, das ist das Empörendste, das Antisozialischste, das es gibt.

Und bei dieser Gelegenheit muß ich sagen, ohne daß ich eine Zeile von dem streichen möchte, was ich über die Notwendigkeit des Terrors in den Revolutionen geschrieben habe, die sich in tödlicher Gefahr befinden, daß ich es für eine namenlose, reaktionäre, abstoßende und demoralisierende Abscheulichkeit halte, daß noch fortwährend die Todesstrafe durch die geheime Verwaltungsjustiz verhängt wird (in Friedenszeiten! in einem Staat, der mächtiger ist als irgendein anderer!).

Mein Gesichtspunkt ist der Dserschrnskis zu Anfang 1920, als er, nachdem der Bürgerkrieg beendet schien, die Abschaffung der Todesstrafe in politischen fällen vorschlug und bei Lenin ohne weiteres durchsetzte (sie wurde kurz darauf wieder eingeführt infolge der polnischen Aggression). Es ist auch der der Kommunisten, die jahrelang vorschlugen, die Kompetenzen der außerordentlichen Ausschüsse (Tscheka und G.P.U.) auf die Ermittlungen zu beschränken. Der Preis des Menschenlebens ist tief gesunken, und das ist so tragisch, daß in diesem Regime jede Todesstrafe zu verwerfen ist.

Ebenso abscheulich und nicht zu rechtfertigen ist die Unterdrückung jeder Meinungsverschiedenheit in der Arbeiterbewegung durch Exil, Deportation, so gut wie lebenslängliche Haft – denn das bedeutet die Anwendung von außergewöhnlichen Maßnahmen gegen Arbeiter, Maßnahmen, welche im Feuer des Bürgerkrieges gegen die Feinde der Revolution erlassen wurden.

II. – Verteidigung der Wahrheit. Der Mensch und die Massen haben ein Recht auf sie. Ich bin sowohl gegen die systematische Verfälschung der Geschichte und der Literatur wie auch gegen die Unterdrückung jeder ernsthaften Information in der Presse (die auf bloße Agitation beschränkt ist). Ich halte die Wahrheit für eine Bedingung der geistigen und sittlichen Gesundheit. Wer von Wahrheit spricht, spricht von Aufrichtigkeit. Der Mensch hat ein Recht auf die eine wie auf die andere.

III. – Verteidigung des Denkens. Keine intellektuelle Forschung auf irgendeinem Gebiet ist erlaubt. Alles beschränkt sich auf eine von Zitaten gespeiste Kasuistik. Im letzten Jahr mußte sich Stalin einmischen, und er ließ in der Prawda schreiben, daß man Unrecht habe, die marxistischen Grundsätze auf die Gynäkologie anzuwenden. Die egoistische Furcht vor der Ketzerei mündet in dem lähmendsten bigotten Dogmatismus. Ich bin der Meinung, daß der Sozialismus auf geistigem Gebiet nur durch Wettstreit, Forschung, Kampf der Ideen groß werden kann; daß er den Irrtum nicht zu fürchten braucht, weil er mit der Zeit immer wieder durch das Leben selbst berichtigt wird, wohl aber Stillstand und Reaktion; daß die Achtung vor dem Menschen, für den Menschen das Recht alles zu kennen und die Freiheit des Denkens bedeutet. Nicht gegen die Freiheit des Denkens, nicht gegen den Menschen kann der Sozialismus triumphieren, sondern im Gegenteil durch die Freiheit des Denkens, indem er die Verfassung des Menschen verbessert. Und ich betreibe hier keine Verteidigung des Liberalismus. Ich erinnere nur daran, was in der Sowjetverfassung verankert ist, was von allen Sozialisten anerkannt und proklamiert, worden ist, eingeschlossen jene, die genau das Gegenteil von dem tun, was sie sagen.

Liebe Freunde, ich komme zum Schluß. Ich habe dies in Eile und bruchstückhaft geschrieben, unter schlechtesten Bedingungen. Kaum daß ich, ebenso hastig, mich korrigieren konnte. Ich habe das schnell heruntergeschrieben, laßt es mich auf jeden Fall wissen, wenn Ihr diesen Brief erhalten und gelesen habt. Schickt mir eine Empfangsbescheinigung. Laßt uns vielleicht einige Punkte im Briefwechsel wiederaufnehmen. Falls Ihr mit etwas nicht einverstanden seid, versucht es mir zu sagen, schickt mir eure Einwände, soweit Euch das möglich ist. Selbst wenn es dürftig ist.

Meine Korrespondenz ist äußerst gefährdet. Mit Spanien hat sie vor drei Monaten vollständig aufgehört. Die Zensur hat offensichtlich beschlossen, die Verbindung abzuschneiden. Sie schneidet die Fäden ab. Sie kann alles machen. Ich betone, daß die Briefverbindung, so sehr sie auch gestört wird, für mich, für uns lebenswichtige Bedeutung hat. Laßt diesen Faden nicht abreißen.

Ich hoffe, daß ich Euch bald wiedersehe. Ich werde diese Hoffnung nicht aufgeben. Ich werde weiterkämpfen, so gut ich kann. Ich werde auf jeden Fall aushalten, und wenn es sich zum sSchlechten wendet, werde ich mein Möglichstes getan, und so gut ich konnte, bis zum Ende ausgehalten haben. Sinnlos ist es bestimmt nicht. Ich grüße Euch von ganzen herzen.

Moskau, 1. Februar 1933

Victor Serge

 


Zuletzt aktualiziert am 28.10.2004