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Wenn ich an die Jahre 1921–28 zurückdenke, verstehe ich nicht, warum Literaten diese Zeit die „goldenen zwanziger Jahre“ nennen. Ich habe sie gar nicht golden in Erinnerung. Im Gegenteil. In meiner Erinnerung sind sie voller Spannungen und Armut. Nicht nur wegen der fortfressenden Geldentwertung, sondern besonders wegen der immer stärker werdenden militaristischen, antijüdischen... völkischen“ Tendenzen. Die Pflege der Kriegstradition und des Gedankens an Revanche in den großen Wehrverbänden mit militärischer Disziplin und den zahllosen „Regimentsverteranen“, erhielt in dieser Zeit die wirkungsvollste Unterstützung durch den Film Fridericus Rex, der mit US-amerikanischem Geld von einem Ungarn gedreht worden war. Kein Film lief jemals in Deutschland so lange Zeit und kam bis ins letzte Dorf wie dieser. Der Film peitschte die nationalistischen Instinkte mehr auf als tausend Hitlerreden. Die Bücher mit den Geschichten der Regimenter, die sämtlich „im Felde unbesiegt“ geblieben sein wollten, wurden von der Jugend verschlungen und erreichten weit höhere Auflagen als die Bücher der „Linksintellektuellen“.
Die Reichswehr begann zwar nach außen hin mit hölzernen Tanks zu üben, aber in der Lüneburger Heide wurden schon wieder bei Krupp gegossene Geschütze eingeschossen, die nicht aus Pappe waren. Fast täglich wurden der KPD Berichte über geheime Waffenlager zugetragen und wir erfuhren von militärischen Übungen illegaler Militärverbände auf mecklenburgischen und pommerschen Gütern. Die Zeit der Landesverratsprozesse und der Fememorde begann.
Doch fanden sich wiederum zahlreiche Menschen, die über das Treiben der Militaristen beunruhigt waren und die Anschluß an Organisationen suchten, von denen sie eine Abwehr der politischen und militaristischen Reaktion erwarteten. Die KPD gewann im Jahre 1922 über dreißigtausend neue Mitglieder. Im großen und ganzen aber war die „Linke“ in der Defensive.
Thomas sagte mir im Spätsommer 1922, daß er zum vierten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, der im November in Moskau stattfinden sollte, eine Ausstellung aller bisher vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) in deutscher Sprache herausgegebenen Schriften plane. Die Ausstellung solle im Kreml, im St.Georgssaal, einem Nebensaal des Kongreßsaales,stattfinden. Ich solle sie aufbauen und leiten. Thomas, der die Not in Sowjet-Rußland kannte, riet mir, alles Notwendige in solchen Mengen einzukaufen, daß ich in Moskau von keinem Menschen irgendwelche Hilfeleistung zu erbitten brauchte. So kaufte ich ein, was zum Aufbau eines Messestandes erforderlich war: roten Dekorationsstoff, Leisten und Bretter zum Aufbau einer Wand, an der die Bilder aufgehängt werden sollte, Nägel, Klebstoff, Bindfaden, natürlich auch reichlich Tischlerwerkzeug, für alle Fälle auch Glühbirnen und Sicherungen.
Das Material, sicher in haltbare Kisten verpackt ließ ich durch eine Speditionsfirma nach Stettin bringen. Dort wurden die Kisten auf ein russisches Schiff verladen, das außer Stückgut auch ungefähr dreißig Passagiere an Bord nahm. Mein geliehener Paß wurde von der deutschen Paß- und Zollkontrolle in Ordnung befunden. Da ich außer „Towarischtsch“ kein Wort Russisch kannte, hatte Thomas mir einige Sätze in russischer Sprache mit Bezug auf die Kisten zum Auswendiglernen aufgeschrieben.
Es wurde eine regnerisch-stürmische Seefahrt. Von den Passagieren kamen nur wenige zu den Mahlzeiten, die anderen lagen seekrank in ihren Kabinen. Die Fahrgäste waren nicht nur Delegierte, die zum Weltkongreß wollten, es waren auch heimkehrende Russen, eine internationale Rote-Kreuz-Delegation, einige Diplomaten und Felleinkäufer dabei. Am späten Abend des übernächsten Tages kamen wir vor Kronstadt an. Das Schiff lag bis zum frühen Morgen still, um den Lotsen abzuwarten, der das Schiff durch die Fahrrinne nach Petersburg steuern sollte. In der Nacht vor Kronstadt waren alle Fahrgäste wieder wohlauf und feierten im Speisesaal die Revolution mit Ansprachen, Verbrüderungen und Gesang. Als ich am Vormittag auf Deck ging, näherte sich das Schiff bereits dem Anlegeplatz am Quai Leutnant Schmidt in Petersburg.
Die Kongreßdelegierten und ich wurden in ein Hotel am Prospekt des 25. Oktober, früher Newski-Prospekt, der Hauptstraße Petersburgs, gefahren. Hier teilte uns das Empfangskomitee mit, daß wir erst am nächsten Abend nach Moskau weiterfahren könnten. So hatte ich eineinhalb Tage Zeit, etwas von Petersburg zu sehen.
In den Tagesstunden und am Abend bis in die späte Nacht hinein durchstreifte ich die Straßen, Newa- und Kanalufer von Petersburg. Ich besuchte den Platz vor dem Finnischen Bahnhof, das Winterpalais, das Smolny-Institut, in dem die Sowjet-Regierung bis zur Übersiedlung nach Moskau ihren Sitz hatte; die Stätten, an denen Lenin und Trotzki in den Zehn Tagen, die die Welt erschütterten die Entscheidung des Jahrhunderts herbeigeführt hatten. Ich ging zu den Kanälen und Straßen, deren Namen mir aus den Romanen Dostojewskis geläufig waren und zum Haus Puschkins am Moika-Ufer. Verlaufen kann man sich in dieser weiträumigen Stadt nicht, fast von jeder Straßenkreuzung aus erblickt man die siebzig Meter hohe goldene Nadel des Turms der Admiralität, deren riesiger Bau am Anfang des Prospekts des 25. Oktober liegt.
Am folgenden Morgen war für die Delegierten eine Führung durch die Ermitagegemäldegalerie vorgesehen, die den Vormittag in Anspruch nahm. Anschließend ging ich nochmals zum Leutnant-Schmid Quai, um mich zu überzeugen, ob meine Kisten zur Bahn geschafft waren.
Petersburg hatte schon sein unangenehm rauhes Oktoberwetter. Die Straßen waren nicht sehr belebt, ich sah nicht viel von den Menschen, die mit hochgeschlagenen Kragen vorüberhasteten. Der Aufenthalt in Petersburg war zu kurz, um schauen zu können, wie die Bevölkerung lebt, ob es Läden, Cafés, Restaurants, Kinos gab. Theater, Balletts, Museenführungen gab es immer, die gehörten zum Kulturprestige der Revolution.
Ich gehörte nicht zu den Leuten, die ein Regierungssystem nach der Pünktlichkeit oder Unpünktlichkeit ihrer Eisenbahnen beurteilen, aber ich spürte doch einige Genugtuung, als unser Zug am nächsten Morgen fahrplanmäßig in Moskau ankam. Auf dem Bahnsteig vor der Sperre hatte sich ein Mann mit einem großen Pappschild postiert, auf dem in mehreren Sprachen geschrieben stand, daß Delegierte sich bei ihm melden sollten. Mit dem Autobus brachte er uns in das Hotel Lux an der Twerskaja Straße, das für Gäste der Kommunistischen Internationale reserviert war. Nachdem ich ein Zimmer zugewiesen und meine Lebensmittelkarten erhalten hatte, machte ich mich auf den Weg zu dem Gebäude, in dem die Kommunistische Internationale ihren Sitz hatte. Es lag an der Mochowaja Straße und ungefähr fünfzig Schritte vom Alexandrowski-Garten-Portal des Kreml entfernt. In diesem Haus befanden sich die Büros des Exekutivkomitees der Internationale, und jede Sektion, das heißt jede angeschlossene Partei, hatte je nach ihrer Bedeutung ein oder zwei Zimmer. Im Eingang dieses Hauses befand sich eine Wache, die mit Polizisten besetzt war, die Fremdsprachen verstanden. Besucher konnten nur ins Haus hinein, nachdem ein Polizist mit dem gewünschten Büro telefoniert hatte und die Besucher abgeholt wurden.
Leiter des Organisationsbüros der Kommunistischen Internationale und damit auch Leiter der internationalen Verbindung war Ossip Piatnitzki. Thomas hatte mir von ihm gesagt, daß er zu den ersten Mitarbeitern Lenins gehörte und daß er vor dem Ersten Weltkrieg von Königsberg aus den geheimen Grenzdienst der Sozialdemokratischen Partei Rußlands-Bolschewiki, geleitet hatte. Piatnitzkis Aufgabe war gewesen, Personen, die Parteizeitung und andere illegale Schriften nach und von Rußland über die Grenze zu bringen. Auch in Leipzig hatte Piatnitzki einige Zeit sein Quartier gehabt und von hier aus die Verbindungen mit den Bolschewiki in Wien, Zürich, Paris, London und anderen Orten gehalten.
Beim Eintritt ins Büro Piatnitzkis stellte ich fest, daß wir uns bereits kannten. Als ich im Frühjahr 1922 mehrere Tage in der Wohnung Frau Rapus, die damals in einen Vorort von Berlin übergesiedelt war, an einer schweren Erkältung krank lag, kam Ruth Österreich-Jensen mit einem mir fremden Mann, um mich zu besuchen. Beide blieben ungefähr eine halbe Stunde; der Mann wollte mich kennenlernen und fragte auch nach verschiedenen Arbeiten. Er hatte keinen Namen genannt und ich fragte nicht, da er in Begleitung Ruth Österreichs war. Jetzt stand ich vor meinem damaligen Besucher, der mich sogleich mit meinem Vornamen ansprach und mir in seinem harten Deutsch sagte, daß die Ausstellung im Georgsaal aufgebaut werden sollte. Ich erhielt einen Ausweis zum Kreml, den ich täglich abstempeln lassen mußte. Ein Sekretär ging mit mir zur Kremlwache, um mich dem Offizier vorzustellen, damit die täglichen Formalitäten beim Eintritt und Verlassen des Kremls nicht unnötig lange dauern sollten.
Meine Kisten waren an das Büro der Kommunistischen Internationale adressiert, sie waren noch nicht eingetroffen. Ich ging mit einem Brief Piatnitzkis zum Bahnhof. Mit den Bahnbeamten suchte ich stundenlang in den noch nicht ausgeladenen Waggons aus Petersburg und in den Lagerschuppen nach meinen Kisten. Sie waren nicht zu finden. Den nächsten Vormittag verbrachte ich wiederum auf dem Güterbahnhof mit vergeblichem Suchen. So verlief auch der dritte Vormittag. Zuerst ging ich zum Büro, um zu berichten, dann zum Bahnhof; aber alles Suchen war ergebnislos.
Thomas hatte mir eingeschärft, mich nicht zu ärgern und mich niemals zu beschweren. Wenn irgend etwas schiefgehen sollte, nehme er alles auf seine Kappe. Der Eröffnungstermin des Kongresses rückte näher und ich hatte noch nicht mit dem Aufbau der Ausstellung beginnen können. Zu meinem Glück traf ich am dritten Tag, als ich vom Bahnhof recht deprimiert zum Hotel kam, beim Mittagessen Frida Rubiner, die Witwe des Dichters Rubiner. Sie war als Übersetzerin des Präsidiums zum Kongreß eingeladen worden. Ich schilderte ihr meinen Verdruß mit den Kisten. Sie rief den Präsidenten der Kommunistischen Internationale Grigori Sinowjew an. Dieser beauftragte die Bahnpolizei und dazu die staatliche Polizei, nach den Kisten zu suchen. In zwei Tagen wurde der Waggon mit den Kisten gefunden, er hing an einem Güterzug in Richtung Ural und stand auf einer Station außerhalb Moskaus. Mit einem Lastwagen wurden die Kisten zurückgeholt. Vom „traditionellen“ russischen Mißtrauen gegen die Ausländer blieben auch die Freunde der Kommunistischen Internationale nicht verschont. Mit einem weiteren Ausweis für den Lastwagen und die Kisten passierte ich das Haupttor der Kremlwache am Roten Platz. Ungefähr zehn Soldaten der Kremlwache mit einem Offizier begleiteten mich bis vor den Eingang zum Grafen Kremlpalast an der Moskwa-Straße. Der Offizier erlaubte nicht, daß sie hineingetragen wurden, er machte mit dem Gesten verständlich, daß sie auf der Straße ausgepackt werden müßten, und um mir verständständlich zu machen, daß eventuell Sprengstoff darin sein könne, riß er seine Arme hoch und rief „bum!“ Ehe ich einen Dolmetscher holen konnte und trotz meines Protests, machten sich die Soldaten über die Kisten her. Mit Bajonetten stachen die Soldaten von oben und von den Seiten in die Kisten hinein, brachen die Deckel und die Seitenwände auf, so daß die Bücher zum Teil auf die Straße fielen. Dann halfen sie mir freundlichst, die Bücher und das Ausstellungsmaterial in das Gebäude zu tragen.
Es war eine teure Hilfe. Der angerichtete Schaden war nicht mehr zu reparieren. Die wertvollen handsignierten Abzüge von Käthe Kollwitz' Radierung Gedenkblatt für Karl Liebknecht, das die Künstlerin im Berliner Leichenschauhaus kurz vor der Beerdigung Liebknechts gezeichnet hatte, und ebensoviele Fotos der Totenmaske waren zerstört, auch die Bilder von Rosa Luxemburg und Leo Jogiches. Beschädigte Bücher konnte ich ersetzen, ich hatte von jedem Buch mehrere Exemplare mitgebracht. Für den beschädigten Dekorationsstoff erhielt ich von der Hausverwaltung schönen roten Samt, der besser zum goldüberladenen Georgsaal paßte als mein mitgebrachtes Fahnentuch. Zum Aufbau des Standes selbst hatte ich einiges Talent, ich hatte ja auch immer die Bücherregale in den geheimen Lagerkellern selbst gebaut. In zwei Tagen war ich mit dem Aufbau meines Standes fertig und hatte bis zur Eröffnung des Kongresses Zeit, mich in Moskau umzuschauen. Auch nach der Eröffnung hatte ich dazu oft Gelegenheit, die Plenarsitzungen fanden nicht täglich statt. Die zahlreichen Kommissionen tagten dann im Bürogebäude der Internationale.
Ich machte mich auf die Suche nach Waldemar Rackow und Willi Budich, von denen ich wußte, daß sie seit einiger Zeit in Moskau lebten. Rackow ließ mich vom Hotel abholen. Ich fand ihn in einer fast dörflich anmutenden Umgebung hinter der Arbat-Straße, einer der belebtesten Straßen von Moskau. Durch den Torweg eines Hauses kam ich in einen Garten, in dem hinter Bäumen und Hecken verborgen mehrere Landhäuser standen. In einem dieser Häuser wohnte mein Freund. Ich weiß nicht, ob dieser kleine Park inmitten Moskaus erhalten geblieben ist. Damals, 1922, sah ich auch nach zahlreiche Holzhäuser in Moskau, man sagte mir, daß die Stadt zu einem Sechstel aus Holzhäusern bestände. Budich traf ich im Lux. Er war in einer Stadt in Westfalen verhaftet worden, es gelang ihm aber zu fliehen, bevor er nach Bayern ausgeliefert werden konnte. Da er nun sehr gefährdet war, hatte das Zentralkomitee der KPD seine Übersiedlung nach Moskau gefordert. Beide, Rackow und Budich, waren in ihren Berufen in der Wirtschaft tätig, nicht im Apparat der Kommunistischen Internationale. Rackow und Budich ermöglichten es mir, in diesen sechs Wochen mancherlei vom russischen Leben, vom Leben der Partei und der Masse der Bevölkerung und von der Stadt Moskau kennenzulernen. Es war ein hartes Leben. Die Menschen waren von der Not gezeichnet, die der Krieg und der Bürgerkrieg verursacht hatten. Selten sah ich lachende Gesichter, der graue Ernst der Menschen beeindruckte mich sehr. Ich entnahm aus den Gesprächen mit Partei- und Sowjet-Funktionären, daß die Hoffnung, die Lenin 1917 ausgesprochen hatte, die Periode der harten proletarischen Diktatur werde nur einige Monate dauern, längst zu Grabe getragen war. Alle Parteileute betonten gleichzeitig, daß dies die Folge des Ausbleibens einer wirksamen Hilfe von seiten der Arbeiterklasse des westlichen Industrieländer sei. Das Ausblieben der Hilfe wurde ebensooft als Hauptgrund der Aufbauschwierigkeiten angegeben, wie die Verluste an qualifizierten Arbeitern im Bürgerkrieg.
Ich konnte etwas in das harte Leben der verantwortlichen Funktionäre der Kommunistischen Partei Rußlands hineinsehen und ihre Tragödie verstehen. Die Partei hatte den Sprung vom Halbfeudalismus in die Zukunft getan und hatte nicht genügend Träger des Neuen. Die Verluste an fähigen Parteimitgliedern in den Jahren des Bürgerkrieges und wohl auch die Ausschlüsse von Personen aus der Partei, die geglaubt hatten, daß die Mitgliedschaft Sonderrechte gewähre, bedingten, daß jeder leitende Funktionär die Arbeit von zehn leisten mußte. Jedes intelligente Parteimitglied war mit Funktionen und Verpflichtungen in der Partei und in den Sowjets überhäuft, die ihn zwangen, achtzehn Stunden täglich zu arbeiten. Wenn ich einmal einen dieser Revolutionäre zu Hause antraf, lag er gewöhnlich angezogen auf dem Kanapee, Telefon, Tee und Zigaretten neben sich, immer bereit, aufzustehen und zu einer Versammlung, zum Büro oder zur Fabrik zu gehen. Alle waren überarbeitet und physisch sehr geschwächt. Mir schien es, als ob Tee und Zigaretten ihre Hauptnahrung wären.
Einen außergewöhnlichen Menschen lernte ich in Alexander Dworin kennen. Ich hatte schon in Leipzig einige Worte mit ihm gesprochen, als er im Jahre 1921 dort zu einem Besuch war. Er hatte in Leipzig studiert und war nach Ausbruch des Krieges im Jahre 1914 interniert worden. Als er vom Sturz des Zarismus erfuhr, flüchtete er und konnte sich nach Rußland durchschlagen. Im Bürgerkrieg wurde er zum General ernannt und kommandierte eine Division in der Gegend des Kaspischen Meeres und des Urals. Jetzt, als ich ihn aufsuchte, war er Dozent an der Kommunistischen Akademie für Parteifunktionäre. Seine Frau, die ebenfalls mehrere Sprachen beherrschte, war erste Sekretärin Losowskis, des Präsidenten der neugegründeten Gewerkschaftsinternationale, „Profintern“. Auch Dworin nahm mich einmal zu einer Partei-Mitgliederversammlung in einem Distrikt mit und übersetzte mir den Inhalt der Fragen und Diskussionen. In den letzten 14 Tagen meines Moskauer Aufenthaltes ging ich beinahe jeden Abend zu Dworin. Ich konnte stets erst nach 11 Uhr abends zu ihm gehen, weil er selbst erst zu so später Stunde von Vorlesungen oder Referaten zurückkehrte. Jedesmal waren mehrere Funktionäre anwesend. Nicht nur Parteileute im engen Sinne, sondern auch parteilose Sowjets und „Intelligenzler“, Maler, Musiker, Redakteure, Professoren, die immer bis gegen 2 und 3 Uhr morgens über Probleme des russischen Lebens in einer für mich erstaunlich offenen und kritischen Weise diskutierten. Ganz im Gegensatz zu Budich und Rackow, die fast nur über die deutsche Partei und die deutsche Revolution sprachen. Bei Dworin diskutierte man, wie weit im gegenwärtigen Staatskapitalismus Ansätze des Sozialismus stärker oder schwächer werden, über den neuartigen Schulunterricht, über die Schwierigkeiten der Ausbildung der demobilisierten Soldaten, die nicht ins heimatliche Dorf zurückkehren wollten und umgeschult werden mußten, über antireligiöse Propaganda und ihre Wirkung, über jüdische religiöse Bräuche und ob das Judentum nur als Religion gelten soll. In diesen Diskussionen hörte ich im Zusammenhang mit der Besetzung der verschiedenen Ämter auch den Namen Stalin. Doch nur nebenher; niemand ahnte, welche Macht Stalin einmal an sich reißen würde.
Ich hatte bei alten Gesprächen die Überzeugung gewonnen, daß tatsächlich die Sowjets die Träger der Macht sind und die Kommunistische Partei die leitende Kraft ist. Vielleicht war es die Tatsache, daß die Mitglieder der Partei mehrere Funktionen auf sie vereinigten, die im Auslande zu falschen Schlüssen führten. So hatte ich vor meiner Reise eine Rede Rathenaus aus dem Jahre 1920 gelesen, in der er erklärte, daß es eine Sowjetrepublik nicht gäbe, sondern „die Autokratie eines Klubs“. In den Fabriken gäbe es zwar Sowjets, aber „sie haben nichts zu sagen, der Regierungskommissar befiehlt“. Für diese Zeit war das falsch geurteilt. Die Partei war in Rußland niemals ein „Klub“, und der Regierungskommissar war damals in Betrieben eingesetzt worden, in welchen die Belegschaften noch nicht in der Lage waren, einen Betriebssowjet zu bilden. Meistens war der Regierungskommissar ein Sowjetmitglied eines anderen Betriebes der gleichen Branche. In den ersten Jahren nach der Revolution mußten in zahlreichen mittleren und kleinen Betrieben die Arbeiter durch die Kommunistische Partei von der Notwendigkeit der Errichtung eines Betriebssowjets und, beispielsweise, von der Einhaltung von Sicherheits- und hygienischen Vorschriften, Einrichtung von Kantinen und sogar auch von der Notwendigkeit des Achtstundentages erst überzeugt werden. Die Durchführung der Reformen im riesigen Rußland ging allerdings sehr ungleichmäßig vor sich. Haben wir doch auch heute noch in Deutschland zahlreiche Betriebe, deren Belegschaften nicht in der Lage sind, die gesetzliche Betriebsvertretung zu wählen.
Als ich nach Moskau kam, war man schon dabei, Fahnen und Transparente für die Feier des 7. November anzubringen. Dieser Tag hat für die Russen eine größere Bedeutung als dar 14. Juli für die Franzosen. Die ersten fünf Jahre waren allen Stürmen zum Trotz durchgestanden, es hatte keinen „Thermidor“ gegeben. Die Bevölkerung war am 7. November zu Hunderttausenden auf den Straßen. Mit Mühe drängelte ich mich zum Roten Platz durch. Piatnitzki hatte mir eine Karte für die Gästetribüne gegeben, die mir die Polizei- und Militärketten öffnete. Das alljährliche Schauspiel, der Aufmarsch der Arbeiterbevölkerung Moskaus, die betriebsweise mit Fahnen und Transparenten über den weiten Platz zog und die Parade der Moskauer Garnison dauerte bis in die späten Nachmittagsstunden hinein. Am Abend wurde zu Ehren der Delegierten des Weltkongresses eine Festvorstellung im Bolschoi-Theater veranstaltet. Neben den Begrüßungen der Gäste durch die Sowjet-Regierung stand das Ballet Der Korsar auf dem Programm. Ich hatte es versäumt, mir eine Einlaßkarte zu besorgen und ging auf gut Glück zum Theater. Dort stand ich in der Menschenmenge vor dem Militärkordon. Nach einigem Warten sah ich Matias Rakosi, den späteren Diktator Ungarns. Ich rief seinen Namen, er kam zurück und führte mich durch die Kontrollen. Einmal im Theater, benötigte ich keinen Ausweis oder Karte mehr. Ich suchte mir einen günstigen Platz und genoß ein großartiges Schauspiel, das mir allein schon eine Reise nach Moskau wert zu sein schien.
Es war wohl am zweiten oder dritten Tag des Kongresses, als Grigori Sinowjew und Nikolai Bucharin zu meinem Stand kamen. Beide kannten alle ausgestellten Bücher, Thomas hatte sie ihnen stets nach Erscheinen geschickt. Die Protokolle der bisherigen drei Weltkongresse, 1919, 1920, 1921, hatte ich als Mittelpunkt nebeneinander auf den Tisch gelegt. Das Protokoll des ersten Kongresses umfaßte ca 200 Seiten, das des zweiten ca. 800 Seiten und das Protokoll des dritten war ca. 1.100 Seiten stark. Sinowjew sagte etwas auf russisch zu Bucharin und fuhr mit der Hand über die Bücher, die Steigerung anzeigend. Ohne verstanden zu haben, was er gesagt hatte, sagte ich zu Sinowjew: „Der Umfang der Protokolle zeigt nur den Umfang der Reden, nicht das Wachsen der Kommunistischen Internationale“. Sinowjew drehte sich brüsk um und ging weiter. Bucharin lachte. Am nächsten Jage sagte mir Piatnitzki, daß Sinowjew sich bei ihm über meine Bemerkung beschwert habe. Piatnitzki fügte hinzu, daß Sinowjew sehr empfindlich sei, ich könne mit jedem anderen, auch mit Lenin sprechen, aber nicht mit Sinowjew. Lenin, Trotzki, Radek und Mitglieder der Delegationen besuchten meinen Stand.
In dieser Zeit gehörte Sinowjew zu den mächtigsten, arbeitswütigsten und qualifiziertesten russischen Kommunisten. Er war nicht nur Präsident der Kommunistischen Internationale, Mitglied des Zentralkomitees der russischen Partei und des Politbüros, sondern er war auch Präsident des Peterburger Sowjets, Oberbürgermeister von Petersburg. Petersburg war seine politische Basis. Um einige Tage in der Woche in Petersburg zu sein, wohnte er mehr im Sonderwagen, der an den Nachtschnellzug Moskau-Petersburg angehängt war, als in seiner Moskauer Wohnung. Im Eisenbahnwagen hatte er sein Büro. So hielt er es einige Jahre hindurch. Auch während des Kongresses fuhr er einige Male in seine Stadt, um am übernächsten Vormittag, die Tagungen begannen erst um 11 Uhr, wieder den Vorsitz zu führen. Er war ein unermüdlicher Arbeiter. Im Zug schrieb oder diktierte er seine täglichen Artikel und Kommentare für die Parteipresse. Dworin sagte mir, daß man Sinowjew in Funktionärskreisen die „Grammophonplatte Lenins“ nenne.
Auch Bucharin war einer der ersten Mitarbeiter Lenins und vor dem Kriege Mitherausgeber der illegalen Parteizeitung Prawda. Jetzt war er der anerkannte Parteitheoretiker, der frei von allen Ämtern, aber als Mitglied des Zentralkomitees der russischen Kommunistischen Partei, den Kommunismus zu lehren und über die Reinheit der Lehre zu wachen hatte. Er war im Umgang wohl der freundlichste und toleranteste aller russischen Führer. Seine Bücher ABC des Kommunismus und Theorie des historischen Materialismus waren leicht verständliche Lehrbücher zur Heranbildung der jungen Kommunisten.
Bucharin wurde einige Jahre später, als Nachfolger Sinowjews, Präsident der Kommunistischen Internationale. Ich begegnete ihm noch öfters. Einige Monate vor seinem Tode sah ich ihn in Paris.
Die deutschen Delegierten kamen täglich an meinen Stand. Ich kannte fast alle aus ihren Bezirken oder vom Zentralausschuß her. Darunter waren Ruth Fischer, Walter Ulbricht, damals Parteisekretär in Thüringen, Ernst Wollweber, Parteisekretär in Schlesien. Mit Wollweber hatte ich in der Zeit nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch oft zu tun gehabt, er hatte in seinem Bezirk einen sicher funktionierenden Nachrichtendienst aufgezogen. Ich sah Bela Kun mit deutschen Delegierten, die dem Exekutivkomitee noch unbekannt waren, auf- und abgehen; „um zu hören, wes Geistes Kind sie sind“, sagte mir Bela Kun anderntags.
Als Rackow mich wieder einmal besuchte und wir im Gang zum großen Kongreßsaal standen, trat ein Offizier hinzu und sprach mit Rackow Russisch. Während des Gesprächs trat ein weiterer Mann hinzu. Dieser hatte ein braunes, etwas ledern wirkendes Gesicht, dunkles Haar, bekleidet war er mit einem Blusenhemd und einer Jacke, wie fast jeder Russe. Als die beiden Männer sich verabschiedet hatten, sagte Rackow, der Offizier sei Woroschilow gewesen, Kommandant des Militärbezirks Moskaus, der andere der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Rußlands, Stalin.
Nach dem, was ich von Rackow, Dworin und Budich erfuhr, stimmt es nicht, daß die kommunistische Diktatur von Anfang an das private gesellige Leben überwachte. Revolutions- und regierungsfeindliche Äußerungen waren im Bürgertum noch oft vernehmbar. Budich erzählte mir einen Vorfall, der sich gerade einige Tage zuvor in Moskau abgespielt hatte. In einem der damals noch zahlreichen kleinen Kabarett-Restaurant wurde ein Sketsch aufgeführt, mit folgender Szene: Auf dem Podium, das ein Zimmer darstellen sollte, sitzt ein Mann am Tisch, als ein zweiter Mann aus dem Publikum mit zwei Bildern unter dem Arm hinausgeht. „Ich habe hier Bilder von Lenin und Trotzki mitgebracht“, sagte der Hinzutretende, „was machen wir damit?“ „Das eine stelle an die Wand, das andere hänge auf“, antwortete der Mann am Tisch unter dem Gelächter der Zuschauer. Vor einigen Tagen war nun zum letzten Male in dem Kabarett gelacht worden, sagte Budich.
Eines Nachmittags gingen Budich und ich vom Kreml zum Hotel, als ein Mann im Pelzmantel und einer Pelzmütze auf dem Kopf Budich deutsch ansprach. Es war recht kalt, Budich und ich zitterten vor Kälte. Der Mann wollte von Budich einige Auskünfte und, als er sah, wie wir beide vor Kälte zitterten, sagte er lachend: „Ihr habt die Macht, ich einen Pelz, der ist mir lieber.“ Budich sagte mir beim Weitergehen erbittert: „Dieser Mann ist seit der Neuen Ökonomischen Politik in der Außenhandelsdelegation beschäftigt. Solche parteilose, oft feindlich gesinnte Leute arbeiten jetzt an wichtigen Stellen und erhalten mehrfach höhere Gehälter als wir Parteimitglieder; wir jedoch müssen alle Verantwortung tragen.“
Von meinem Quartier, Hotel Lux, erreichte ich zu Fuß in einer Viertelstunde den Kreml und auch das Haus der Kommunistischen Internationale. Das Hotel war sehr zweckmäßig eingerichtet, es hatte große Restaurationsräume eine Bäckerei, eine Wäscherei, auf jedem Flur waren mehrere Badezimmer. Der riesige Bau war bis unter das Dach mit Delegierten belegt, die aus allen Teilen der Welt gekommen waren. Bald reichten die Zimmer nicht aus und eines Morgens, als ich erwachte, sah ich zwei in Decken gewikkelte Gestalten auf zusammengestellten Stühlen schlafen. Es waren Delegierte, die kein Zimmer mehr erhalten konnten und zu mir einquartiert waren. Ich war spät und erschöpft zu Bett gegangen und hatte den nächtlichen Zuzug nicht bemerkt. Beide waren ungefähr in meinem Alter. Sie kamen vom Balkan und blieben bis zu ihrer Abreise meine Gäste.
Im Hotel Lux wohnte auch der Leiter der deutschen Parteidelegation und derzeitige Vorsitzende der KPD, Ernst Meyer. Durch ihn erfuhr ich ein weiteres Mal, zu welchen grotesken Auswüchsen das Mißtrauen der Russen trieb – und des Polizeiapparates im besonderen, der bereits begann, sich mehr und mehr zu verselbständigen. Bei meinen täglichen Gängen zum und vom Kreml traf ich eines Nachmittags Ernst Meyer mit seiner Frau auf der Twerskaja. Beide kamen gerade aus ihrem Hotel. Er war erregt und verstört und erzählte mir, daß am gleichen Nachmittag, während er zum Kongreß war, sein Zimmer durchsucht worden sei. Man habe auch Toilettenartikel in der Hand gehabt und in die unverschlossenen Koffer hineingeschaut. Die Zimmerfrauen seien es bestimmt nicht gewesen, das Zimmer war mittags schon aufgeräumt. Der Hoteldirektor behauptete, von dem ungebetenen Besuch nichts zu wissen. Das konnte stimmen. Ich versuchte meinen Parteivorsitzenden mit dem Hinweis zu beruhigen, daß es sich um einen Irrtum handeln müsse und daß er mit Sinowjew sprechen solle. Sinowjew hat dann auch den Leiter der Sicherheitsorgane angewiesen, sich zu entschuldigen. Einen Grund für die Durchsuchung des Zimmers konnte der Polizist nicht angeben. „Wir sind angerufen worden“, erklärte er. Wer Ernst Meyer war, hätte die Polizei nicht gewußt.
Als ich eines Tages im Hotel Lux die Treppe hinunterging, wurde ich in der Halle von mehreren Männern angesprochen, die mir eine Mappe vorlegten und mich ersuchten, meinen Namen einzutragen. Es war eine Petition an Lenin. Die Männer waren „Sozialrevolutionäre“, die Unterschriften sammelten zur Begnadigung ihrer Parteigenossen, die wegen Attentaten auf kommunistische Funktionäre und Sabotageakten zum Tode verurteilt worden waren. Ich habe die Petition ohne Bedenken unterschrieben. Die Todesstrafe war in Rußland nach dem Siege über die Konterrevolution nach der Einnahme von Rostow am Don abgeschafft worden, jedoch nach einer Kette von Attentaten gegen Sowjetführer wieder eingeführt worden. Der Prozeß gegen die „Sozialrevolutionäre“, einer Organisation aus der Zarenzeit, hatte in einigen Ländern, auch in Deutschland, zu heftigen Polemiken gegen Sowjet-Rußland geführt. Die Russen, die damals nichts zu verbergen hatten, hatten auch den deutschen Rechtsanwalt Dr. Kurt Rosenfeld, Mitglied des Zentralkomitees der USPD, als Verteidiger zugelassen. Einige Tage nach dem Zusammentreffen mit den Unterschriftensammlern erhielt ich eine Einladung von Karl Radek, der in diesen Jahren als vertrauter Ratgeber Lenins auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn war. Bei meinem Eintreten in sein Zimmer rief er belustigt, „da kommt der Tolstojaner!“ Radek hatte die Mappe mit den Unterschriften auf dem Tisch liegen. Er sagte sogleich, er habe nichts gegen meine Unterschrift einzuwenden, aber er möchte gern meine Motive wissen. Ich erzählte ihm von unseren Diskussionen im Jugendbildungsverein über die Todesstrafe. Ich sagte, daß wohl über ein Schlachtfeld Gras wachse, aber nicht über ein Schafott und nicht über einen politischen Mord. Wir sprachen ungefähr zwei Stunden lang über Tolstoj, Alexander Herzen, Puschkin und natürlich über die gescheiterte deutsche Revolution.
Von den verurteilten „Sozialrevolutionären“ wurde niemand hingerichtet, einige erhielten nach einiger Zeit sogar die Erlaubnis, die Sowjet-Union zu verlassen. Nachträglich erfuhr ich, daß auch Clara Zetkin an Lenin appelliert hatte, die Verurteilten zu begnadigen. Ich erzähle diese Episode, weil sie beweist, daß es in der Zeit Lenins möglich war, zu Gunsten von Gegnern der Sowjetmacht an die Regierung zu appellieren.
Lenin hielt das Schlußwort des Kongresses. Ich hatte Lenin, und neben ihm Trotzki schon zehn Tage vorher, während seines Referates über Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution gesehen und gehört. Lenin hatte sich in diesem Referat zum größten Teil auf Erklärung und Verteilung des Rückzuges vom „Kriegskommunismus“ auf die „Neue Ökonomische Politik“ beschränkt. Dabei hatte er auch die Resolution des dritten Weltkongresses über den organisatorischen Aufbau der kommunistischen Parteien des Westens kritisiert. Er hatte die Resolution als „zu sehr nach russischen Gesichtspunkten verfaßt“ erklärt, die „in dieser Form von den westeuropäischen Ländern nicht verstanden werden konnte.“
Am letzten Tage des Kongresses hielt Lenin das Schlußwort. Ich saß einige Schritte vor ihm. Lenin machte gar nicht den Eindruck eines Diktators, er war es auch nicht. Lenin sah überarbeitet aus, sein Gesicht war blaß und eingefallen. Seine Rede hielt Lenin in deutscher Sprache. Radek saß neben ihm und flüsterte ihm Worte zu, wenn er einige Male nach passenden Ausdrücken suchte. Lenin sprach sehr nüchtern, eindringlich ohne Pathos. Das Geistvolle in seinen einfachen Sätzen lag in der Vollkommenheit seiner Idee. Lenin sprach nicht lange. Was er zur Situation in Deutschland und in der deutschen kommunistischen Partei im einzelnen zu sagen hatte, hatte er bereits in der deutschen Kommission gesagt. Er, der früher in der Verbannung und im Exil in kleinen Gruppen über Probleme des Kampfes der Arbeiterklasse diskutiert und unnachsichtig sich von Genossen trennte, wenn diese ein Schwanken in der Idee der Revolution zeigten, wollte jetzt alle revolutionären Kräfte in der Welt zusammenführen und halten, auch wenn sie nicht in allen Fragen der Taktik übereinstimmten.
Es war die letzte öffentliche Rede Lenins. Einen Monat später erlitt er den zweiten Schlaganfall.
Nach der Rede Lenins erklärte Sinowjew den Kongreß für beendet. Zur letzten Sitzung waren fast sämtliche Partei-, Regierungs- und Militär-Spitzenfunktionäre gekommen. Die meisten Teilnehmer blieben einige Stunden beisammen, um mit den russischen Genossen noch persönlich sprechen zu können. Im Georgsaal waren Tische mit Samowaren aufgestellt worden; es gab Tee und Brot. Ich verschenkte die Bücher meiner Ausstellung an jeden, der mich deutsch ansprach. Um den Abbruch brauchte ich mich nicht zu kümmern. Zurückzubringen hatte ich nichts.
Meine Rückreise nach Berlin führte mit der Bahn über Riga. Wir waren eine Gruppe von vielleicht zehn Personen. Auf dem Bahnhof in Riga wurden wir von Angestellten der dortigen russischen Botschaft abgeholt. Wir blieben über Nacht in der Botschaft, es fuhr kein Anschlußzug mehr. Ich konnte noch einen Spaziergang durch die Stadt machen, immer verfolgt von einem Mann, der mit mehreren anderen einige Häuser von der Botschaft entfernt, im Tor eines Hauses gestanden hatte. Nach meinen Rundgang gesellte er sich wieder zu seinen Kollegen, die im gleichen Torweg standen.
Die deutsche Paß- und Zollkontrolle in Ostpreußen sammelte die Pässe ein, die sie kurz vor Abfahrt des Zuges zurückgab.
Weit nach Mitternacht, als der Zug zum Lokomotivwechsel in meiner Heimatstadt Schneidemühl hielt, sah ich auf dem spärlich beleuchteten Bahnhof nur einige Bahnbeamte hin- und hereilen, andere schlugen mit ihren langstieligen Hämmern an die Wagenräder; alles war wie zur Zeit meiner Kindheit.
Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023