Karl Retzlaw

SPARTACUS
Aufstieg und Niedergang

* * *

5. Der erste Versuch, den Krieg
durch Streik zu beenden


Der Waffenstillstand im Osten hatte in der deutschen Bevölkerung bereits zu viele der Regierung unerwünschte Hoffnungen geweckt. Mit Ungeduld wartete man auf den versprochenen Frieden und auf das Brot der Ukraine. Wir im Jugendbildungsverein und in der Spartakusgruppe sprachen mit freudiger Anerkennung über die Überlegenheit des Revolutionärs Trotzki gegenüber den deutschen Generals-Gewaltmenschen. Auch bei den Gesprächen mit Kollegen im Betrieb fand die Haltung Trotzkis in Brest Litowsk allgemein Zustimmung. „Es lebe Trotzki“, schrieben wir an Klotüren, an Zäune und Häuser. Sonst aber hatten wir traurig kalte Weihnachts- und Neujahrstage hinter uns. Die zahlreichen Urlauber die ihre Familien besuchen konnten, brachten keine Pakete mehr mit. Es waren Urlauber darunter, die vom Balkan und aus Österreich kamen und vom Hunger und der Unzufriedenheit berichteten, die dort herrschten. Auch zu meiner Arbeitsstelle kamen Urlauber. Frauen die an den Drehbanken arbeiteten wurden von ihren Männern besucht, die zum Teil erst jetzt erkannten wie schwer das Leben in der Heimat geworden war. Die Gespräche wurden offener und aggressiver. Urlauber machten uns Vorwürfe, daß wir zu viel arbeiteten. „Wenn ihr nicht so viel arbeiten würdet, müßten wir wegen Munitionsmangel Schluß machen; gewinnen können wir den Krieg sowieso nicht mehr.“

Meine Antwort war ebenso einfach: „Bleibt doch hier, geht nicht mehr raus.“ Die Sprüche: „Jeder Schuß ein Russ’, jeder Stoß ein Franzos’, jeder Tritt ein Brit,“ waren nicht mehr zu hören.

Wie an meiner Arbeitsstelle waren auch die Belegschaften anderer Betriebe in Bewegung gekommen. Wenn wir auch wenig Verbindung zu anderen Betrieben hatten, so wußten wir doch, daß überall die gleichen Fragen diskutiert wurden, und daß in den Diskussionen immer häufiger das Wort „Streik“ fiel. Die Presse berichtete über diese Stimmungen in den Betrieben nicht, ebensowenig über schwere Unfälle. Teils war sie nicht informiert, teils unterdrückte die Zensur diese Art Berichte.

Seit Rosa Luxemburgs Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften war in der Arbeiterbewegung nach 1906 der Begriff der „Spontaneität“ diskutiert und viel mißdeutet worden. Alle Erfahrungen lehren, daß es im revolutionären Kampf keine Spontaneität gibt. Die Unzufriedenheit schwelt lange unbeachtet, sie wächst mehr oder minder schnell und gelangt, meistens durch ein erregendes Ereignis, zu dem Punkt, an dem sie zum Ausbruch kommt. Wie Wasser im Kessel auf kleiner aber steter Flamme auch zum Kochen kommt. Wenn es aber zu lange dauert, verpuffen die Energien, wie das Wasser verdampft. Nur dem Unbeteiligten erscheint der Ausbruch spontan.

Die Vertrauensmänner der Betriebe hatten aus ihrer Mitte einen engeren Kreis, die „Obleute“, gebildet, die einen Funktionär des Metallarbeiterverbandes, Richard Müller, zu ihrem Vorsitzenden gewählt hatten. Richard Müller war Mitglied der USPD, zu der sich auch die Mehrheit der Obleute bekannte. Diese Körperschaften kamen des öfteren zusammen, nicht nur um über die Hilfsmaßnahmen gegen den Hunger zu beraten, sondern auch, um gegen die Fortsetzung des Krieges zu protestieren. Sie forderten sogar den Vorstand der USPD auf, den allgemeinen Streik auszurufen. Zu einer solchen Kraftprobe fühlte sich der Vorstand jedoch nicht stark genug und lehnte ab.

Die Betriebsvertrauensleute hatten richtig erfaßt, daß die jetzige Situation politische Forderungen und Aufgaben verlangte, die eigentlich die Führung durch eine politische Partei notwendig machte. Daß der Vorstand der SPD den Kampf nicht führen konnte und auch nicht wollte, verstand sich von selbst. So lag die Leitung des Streiks bei den Obleuten der Betriebsvertrauensleute. Es mußte schnell gehandelt werden. Wir erfuhren jetzt auch, daß in Österreich vor mehreren Tagen, Mitte Januar, große Streiks ausgebrochen waren, in deren Verlauf Arbeiterräte gebildet wurden. Die Stärke und Ausbreitung der österreichischen Streiks alarmierten die deutschen Militärbehörden und die mit ihnen verbundenen Gewerkschaftsführer, die alles taten, um ein Übergreifen nach Deutschland zu verhindern.

Am Kaisergeburtstage, den 27. Januar 1918, war die Polizei in Berlin bei Paraden beschäftigt. So eignete sich dieser Tag am besten zu einer unbewachten Versammlung der Vertrauensleute, hier wurde der Streik für den nächsten Tag beschlossen.

Am Morgen des 28. Januar stand ich mit anderen Vertrauensleuten frühzeitig am Tor meiner Arbeitsstelle und forderte jeden Eintretenden auf, ohne Kleiderwechsel zum Arbeitsplatz zu gehen. Nachdem die Belegschaft vollständig war, ging ich durch die Abteilungen und gab Losungen aus, zu einer Versammlung in die große Werkhalle zu gehen.

Ich war in der Zwischenzeit von den Vertrauensleuten der Abteilungen meiner Arbeitstelle zum „Obmann“ und Sprecher gewählt worden. Auf einem Tisch in der Mitte der Versammelten stehend begann ich meine Rede. Die wenigen Sätze, die ich sprach, habe ich noch in Erinnerung, da sie mir zustimmend von den Kollegen, anklagend von der Polizei, der Kommandantur und vom Untersuchungsrichter beim Reichsgericht immer wieder vorgehalten wurden. „Wir streiken nicht aus Kohlrübengründen, wir streiken, um den Krieg zu beenden!“ schrie ich mit der erheblichen Lautstärke, die mir gegeben war; „wir wollen Frieden ... wir wollen dem Kaiser und seinen Generälen keine Waffen mehr liefern! Wir wollen Verbrüderung mit der russischen Revolution ... wir wollen streiken, bis der Krieg beendet ist! Es lebe die russische Revolution, es lebe Lenin und Trotzki!“ So wiederholte ich meinen Aufruf; immer wieder unterbrochen von den Zurufen der über tausend begeisterten Frauen und Männer.

So ging es wohl eine halbe Stunde lang, bis sich alles etwas beruhigte und ich den Kollegen sagen konnte, daß am Nachmittag die Versammlung der Obleute aller Betriebe stattfinden würde, und daß sie jetzt nach Hause gehen und sich am Vormittag des nächsten Tages vollzählig am Fabriktor versammeln sollten.

Inmitten der Versammlung standen auch die Leute der Werksleitung, auch der Besitzer Cassirer. Während seine leitenden Angestellten mit schreckensbleichen Gesichtern dastanden, war ihm unverhohlene Sympathie anzusehen. Wie ich erfuhr, war er der Bruder des Kunsthändlers Bruno Cassirer und Schwager der Schauspielerin Tilla Duneux. Er meldete sich später nicht als Zeuge bei der Polizei.

So begann der große Munitionsarbeiterstreik vom Januar Februar 1918 im Betrieb Kabelwerk Cassirer, Berlin-Charlottenburg. Ähnlich wird es in anderen Betrieben zugegangen sein. In Berlin legten in diesen Tagen vier bis fünfhunderttausend Arbeiter die Arbeit nieder. Von hier sprang der Funke auf ganz Deutschland über.

Der Streik erweckte viele Hoffnungen. Wir waren überzeugt, das Leben von Millionen Menschen retten zu können. Wir glaubten die deutsche Militarkaste zu Friedensverhandlungen zwingen zu können.

Am Nachmittag dieses Tages am 8. Februar 1918 traten die Delegierten der Betriebe zusammen. Die Streikleitung wurde erweitert und in „Arbeiterrat“ umbenannt. Die beiden großen Parteien SPD und USPD delegierten je drei Vorstandsmitglieder in den Arbeiterrat. Für die Mehrheitssozialdemokraten waren es Ebert, Scheidemann und Otto Braun. Die Obleute der der Betriebsvertrauensleute stellten fünf Mitglieder, den Vorsitz behielt Richard Müller.

Gegen die Wahl Eberts und Scheidemanns gab es starken Widerspruch. Rufe „Kaiserlakaien!“ ertönten. Man wußte, daß Ebert der Haupttreiber gewesen war beim Ausschluß jener Reichstagsabgeordneten, die sich der Fraktionsdisziplin nicht länger beugen wollten und die Kriegskredite ablehnten. Das instinktive Mißtrauen gegen Ebert sollte sich als berechtigt erweisen. Jahre später gestand Ebert im berüchtigten Magdeburger Prozeß, daß er nur in die Streikleitung gegangen sei, um die Kontrolle über die Arbeiter zu behalten: er hätte von vornherein die Absicht gehabt, zu bremsen, den Streik nicht zu einem Erfolg werden zu lassen.

Der Arbeiterrat legte ein politisches Programm vor: Frieden ohne Annexionen, Hinzuziehung von Arbeitervertretern zu den Friedensverhandlungen, Aufhebung des Belagerungszustandes und der Militarisierung der Betriebe, Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung, Freilassung der politischen Gefangenen. Demokratisierung und Einführung der versprochenen Wahlrechtsreform.

Als ich am anderen Morgen zum Betrieb kam, standen schon zwei Polizisten mit gezogenem Säbel am Haupttor. Angesichts der sich versammelnden Belegschaft von über tausend Frauen und Männern sagten sie, daß sie zur Überwachung der im Betrieb untergebrachten französischen Kriegsgefangenen abkommandiert seien. Wir zogen zu einem Lokal im Laubengelände an der Jungfernheide. Dort sprach ein Vertreter des Arbeiterrats, ich verlas die Forderungen, die tags zuvor beschlossen worden waren. Ich wurde in die Streikleitung der Betriebe Nordcharlottenburg delegiert. Um die Streikenden zusammenzuhalten und sie laufend zu informieren, vereinbarten wir, jeden Morgen im Laubengelände zusammenzukommen. Hier glaubten wir, vor Polizeiüberfällen sicher zu sein. In Berlin war am gleichen Tag von den Militärbehörden ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot erlassen und der verschärfte Belagerungszustand proklamiert worden. Es begannen bereits die Verhaftungen von Streikenden und Demonstranten, dem Verbot trotzten. Mit anderen Mitgliedern der Streikleitung blieb ich den größten Teil des Tages über im Lokal. Ebenso in den folgenden Tagen. Spätnachmittags war ich im Jugendbildungsverein, dessen Mitglieder überall als Boten und Flugblattverteiler aktiv waren, abends waren die Zusammenkünfte der Spartakusgruppe. in der über die Streiklage berichtet wurde, und wo wir Flugblätter und Weisungen erhielten. Ich war in diesen Tagen nur nachts für wenige Stunden zu Hause.

Bereits am dritten Streiktag begannen Frauen zu klagen, kein Geld mehr zu haben. Auch der tägliche Napf Kohlrüben der Kantine fehlte ihnen schon. Doch hatte die Belegschaft noch für einige Tage Lohn zu erhalten. Nach einer Verhandlung mit Cassirer wurde uns die Restlöhnung ausgezahlt. Die kaufmännischen Angestellten die im Betrieb geblieben waren, hatten die Lohnzahlungen schon vorbereitet. Wieder im Lokal angelangt, begannen wir, für die gewerkschaftlich nicht organisierten Frauen Geld zu sammein. Zur Ermutigung schüttete ich vor allen Augen den Inhalt meiner Lohntüte auf den Teller.

Es kamen von unserer Belegschaft täglich fünf- bis sechshundert Frauen und Männer ins Streiklokal, sie mußten informiert und aufgemuntert werden. Täglich mehrmals mußte ich aufs Podium und Berichte über die Streiktage geben oder ich las aus Flugblättern und den Spartakusbriefen vor. Kollegen, die aus verschiedenen Teilen der Stadt kamen, brachten die wildesten Gerüchte von Massenverhaftungen mit. Soldaten und Polizei patrouillierten in den Straßen. Am vierten Tag kamen schon mehrere Kollegen aufgeregt zu mir und legten den Gestellungsbefehl vor, den sie soeben erhalten hatten. Jetzt gab es Vorwürfe gegen die Streikleitung. Ich sammelte die Gestellungsbefehle ein und ging damit zur zentralen Streikleitung, die bereits Verhandlungen mit den Militärbehörden aufgenommen hatte. Es mögen mir wohl fünfzehn Kollegen ihre Gestellungsbefehle gegeben haben. Ich erklärte ihnen, daß niemand zu gehen brauche, solange die Verhandlungen im Gange seien. Sie glaubten es gern.

Am fünften Tag begann der Streik abzubröckeln. Mehrere Betriebe begannen wieder zu arbeiten. Der Arbeiterrat hatte den Streik ja ohne die Gewerkschaftsverbände geführt und wollte ihn auch ohne die Vermittlung der Gewerkschaftsvorstände wieder beenden.

Unsere Cassirer-Belegschaft blieb insgesamt sieben Tage im Ausstand. Im Bereich Berlin-Nordwesten hatten wir den Streik am längsten durchgehalten. Das wurde in späteren Versammlungen der Metallarbeiter lobend erwähnt. Auch der Untersuchungsrichter beim Reichsgericht erwähnte das später, allerdings nicht im lobenden Sinne.

Weder die Militär- noch die Zivilbehörden hielten die Vereinbarungen ein, daß keine Maßregelungen erfolgen würden. Sofort nach Beendigung des Streiks wüteten die Behörden mit zahlreichen Verhaftungen und Einberufungen zum Militär. Unter den Verhaftungen waren viele Mitglieder des Spartakusbundes. In der Folge wurde auch die politische Polizei weiter verstärkt; Polizeibeamte wurde aus dem Militärdienst an die „innere Front“ zurückgerufen. Besonders die Hetze der Alldeutschen gegen den „inneren Feind“ überschlug sich, sie schrieen nach Rache. Diese Leute betrachteten den Abbruch, und damit den Mißerfolg des Streiks, als ihren Sieg. Nicht ganz zu Unrecht, sie genossen ihren Krieg noch neun Monate länger. Drei oder vier Tage nach dem Streik erhielt auch ich meinen Gestellungsbefehl. Ich ging damit zu Paul Nitschke, der gerade dabei war, Wäsche und Zahnbürste einzuwickeln. Auch er hatte seinen Befehl erhalten, ohne Frist, zum folgenden Tag. Da wir längst beschlossen hatten, Gestellungsbefehle nicht zu befolgen, mußten wir Unterkünfte suchen. Paul Nitschke ging in der Dunkelheit zu einer befreundeten Familie, wo er bleiben konnte. Ich hatte ein Frist von einigen Tagen und verabschiedete mich im Betrieb. Meinen Gestellungsbefehl schickte ich ordnungshalber an die Absendestelle zurück, mit dem Vermerk daß ich mit ihrem Kriege nichts zu tun habe. Ebenso schickte ich auch die während des Streiks eingesammelten Gestellungsbefehle der Kollegen an die Militarbehörden zurück. Diese hatte ich durchkreuzt und vermerkt: „Ungültig laut Vereinbarung Streikleitung – Militärbehörde.“ Von der politischen Polizei erfuhr ich später, daß die Betreffenden schwer erschrocken waren, als sie von der Polizei geholt wurden. Da sie aber übereinstimmend aussagen konnten, wie sich die Sache verhielt, kamen sie mit kurzen Arreststrafen davon. Aber es wurde allen die Kokarde von der Militärmütze entfernt; sie wurden „Soldaten zweiter Klasse“.

Ich ging von zu Hause fort. Als nach mehreren Tagen die Polizei kam, um mich zu holen, war meine Mutter sicherlich ebenfalls erschrocken; ich hatte ihr kein Wort von meinen Absichten gesagt. Als einige Wochen darauf die politische Polizei erfuhr, daß ich auch ein Spartakusmitglied war, kamen zwei Kriminalbeamte zu meiner Mutter, verhörten sie und durchsuchten die Wohnung. Das sollte sich noch mehrere Male wiederholen. Beim ersten Besuch wurde ein Protokoll aufgenommen, das ich später zu lesen bekam. Meine Mutter hatte zu Protokoll gegeben, daß sie froh wäre, daß ich ein „Politischer“ sei, sie hätte gefürchtet, daß ich mich in Kneipen herumtreibe, wenn ich oft erst spät in der Nacht nach Hause gekommen war.

In diesen Wochen erlitt der Spartakusbund schwere Verluste. Jogiches und andere Vorstandsmitglieder, darunter Kühn, der Leiter meiner Gruppe Moabit, und der Verlagsbuchhändler Laub wurden während einer Besprechung in Neukölln von der Polizei überrascht.

Auch das Versteck von Paul Nitschke erwies sich bald als nicht sicher. Eines Tages kam ein angeblicher Postbeamter in Uniform mit einem eingeschriebenen Brief zu Paul Nitschke. Die nichtsahnende Frau Fr. rief Paul Nitschke aus dem Hinterzimmer. Der „Briefträger“ zog einen Revolver, wies sich als Kriminalbeamter aus und verhaftete ihn. Frau Fr. erhielt für das Beherbergen drei Wochen Gefängnis.

So waren wir nur noch fünf Mitglieder in meiner Spartakusgruppe. Bald darauf nur noch vier. Die Leitung hatte jetzt der unentwegt aktive Budich. Wir kamen unter den notwendigen Vorsichtsmaßnahmen jedesmal an einem anderen Ort zusammen, weil wir nicht sicher waren, ob die Polizei bei einem der Verhafteten die Adresse der Wohnung, in der wir uns meistens trafen, gefunden hatte.

Von der Lichnowsky-Denkschrift sollte ich im Auftrag der Spartakusgruppe mehrere Exemplare von Leow abholen. Als ich einige Tage darauf an seiner Wohnungstür klingelte, öffnete Frau Leow, die weinend aufschrie, ich solle fortgehen, in der Nacht sei Polizei dagewesen und habe ihren Mann verhaftet. Am Abend wagte sich ein Mädchen unseres Jugendbildungsvereins zu Frau Leow, um zu hören, was passiert war. Das Mädchen berichtete mir, daß ich Glück gehabt hätte, denn kurz nach meinem Besuch wären mehrere Kriminalbeamte gekommen, um die Wohnung nochmals gründlich zu durchsuchen. In diesem Zusammenhang mußte den Beamten mein Name bekannt geworden sein, denn am gleichen Tage durchsuchten Beamte der politischen Abteilung VII die Wohnung meiner Mutter. Hierbei fanden sie in der Familienbibel ein Bild von mir.

Ich führte jetzt das Leben eines „Illegalen“, das mir aus der russischen Literatur nicht fremd war. Nach den Schilderungen Alexander Herzens, Turgenjews, Tolstois, war mir das Leben der „Illegalen“ heldenhaft erschienen. Doch jetzt war es nicht Literatur, sondern Realität, und ich spürte bald die Bitterkeit des Gehetztseins. Irgendwie hatte ich die Begabung dafür, und ich hatte auch die Einsicht, daß Illegalität nur dann einen Sinn hat, wenn man mit der sich gestellten Aufgabe verbunden bleibt. Wer in der Illegalität nicht arbeiten kann, für den ist sie ein nervenaufreibendes Verstecken, also sinnlos. Ich hatte bereits Schriften aus und über die Zeit des Bismarckschen „Sozialistengesetzes“ gelesen, aber von einer „illegalen Tradition“ konnte in der deutschen Arbeiterbewegung keine Rede sein. Nach 1848 lehnten deutsche Demokraten als freiheitsliebende Menschen, die sich der preußischen absolutistischen Militärherrschaft nicht beugen wollten, illegale Tätigkeiten ab. Sie zogen es vor auszuwandern. Illegale Arbeit ist mit ermüdendem Leerlauf verbunden. Allein die Vorsichtsmaßnahmen nehmen mindestens die Hälfte der Zeit und der Energien in Anspruch. Ein „Illegaler“ muß überall unauffällig und zurückhaltend sein. So mußte auch ich immer daran denken, daß die politische Polizei hinter mir her war. Bekannte hatten mir erzählt, daß an den Anschlagsbrettern im Polizeipräsidium mein Streckbrief klebe. Wenn sich bei einem „Illegalen“ durch Geduld und Energie, niemals nachlassende Vorsicht und stolz ertragene Entbehrungen nicht ein besonderer Sinn und die Kraft für die Illegalität ausbildet, kommt das Ende sehr rasch.

Ich hatte keine feste Schlafstelle, sondern ging abends, nach den Zusammenkünften in unserem Jugendbildungsverein, mit einem der Freunde zu ihm nach Hause. Für die Eltern war irgendein harmloser Grund dafür zu finden. Morgens, wenn mein Freund zur Arbeit ging, ging ich gleichfalls fort. Dann kam die Frage, wo ich tagsüber bleiben konnte, und ich mußte auch an eine neue Schlafstelle für die kommende Nacht denken. Es war noch März und kaltes Wetter. Geld, um in ein Café oder Restaurant zu gehen und lesen zu können, hatte ich nicht. Bibliotheken mit Lesesälen gab es nicht. Das Schlimmste war, daß ich keine Lebensmittelkarten hatte. Es gab ohne diese nichts Eßbares mehr zu kaufen. Zu meinem Glück waren in Berlin noch einige städtische Badeanstalten geöffnet. Sauberkeit und Wäschewechsel erleichterten die Obdachlosigkeit.

Ich hatte nach der ersten Woche meiner Illegalität ein Mädchen vom Jugendbildungsverein zu meiner Mutter geschickt, um ein Treffen zu vereinbaren. Die Mutter kam; sie stellte keine Fragen, dafür brachte sie Essen und Wäsche mit. Danach traf ich meine Mutter wöchentlich ein- oder zweimal in der Mittagsstunde, an verschiedenen Stellen. Bei Regenwetter setzten wir uns in einen Hausflur, um die mitgebrachte Suppe zu essen; bei trockenem Wetter trafen wir uns im Tiergarten. Manchmal, wenn sie glaubte, beobachtet zu sein, kehrte sie wieder nach Hause um. Der Treffpunkt galt dann für den nächsten Tag. Ich blieb oft ohne warme Suppe, aber ich war schon zufrieden, wenn ich zwei oder drei Mal in der Woche warmes Essen hatte. Es war immer dasselbe Essen, Kohlrüben mit Kartoffeln, zusammen gekocht.

Die Kriminalbeamten kontrollierten einige Male die Patienten im Arzt-Wartezimmer. Dank dieser Patienten, die ahnungslos ein- und ausgingen, fiel es nicht auf, wenn meine Freunde vom Jugendbildungsverein Bücher und Wäsche, manchmal auch Essen für mich holten.

Das Beispiel Rodomiaskis, Paul Nitschkes und mein eigenes wurde auch von anderen Mitgliedern des Jugendbildungsvereins befolgt. Die Mitglieder, die einen Gestellungsbefehl erhielten, lehnten den Militärdienst ab. Sie gingen aber nicht in die Illegalität, sie warteten, bis sie abgeholt wurden. Der Untersuchungsrichter beim Reichgericht brüllte später bei Vernehmungen stets „Deserteurverein“, wenn von unserem Jugendbildungsverein die Rede war.

Die Mädchen vom Jugendbildungsverein halfen, so gut sie konnten, uns Illegale mit Lebensmitteln zu versorgen. Da war das schon erwähnte Mädchen aus der Lehrter Straße, das in dem Militärbekleidungsamt Spandau arbeitete. In der dortigen Kantine gab es Soldatenessen. Wenn es möglich war, brachte sie in einer Kaffeekanne Essen nach Hause, da konnte ich mitessen. Andere Mädchen konnten hin und wieder Essenmarken für die öffentlichen Küchen beschaffen. Gelegentlich konnte ich auch bei Maria Wagner und ihrer Freundin Anna Nemitz essen. Beide Frauen waren politisch aktive Mitglieder der USPD mit einem großen Bekanntenkreis. Sie konnten mir auch einige Male Schlafstellen vermitteln. Ich half ihnen in ihrem Parteibezirk Charlottenburg bei ihren organisatorischen Arbeiten.

Meine politische Arbeit im Jugendbildungsverein, in der Spartakusgruppe und im Parteibezirk der USPD Berlin-Moabit machte ich trotz aller Schwierigkeiten weiter. Die Zusammenkünfte der Restgruppen fanden weiterhin ziemlich regelmäßig statt. Im Monat März hätten wir die Wahlarbeit im Wahlkreis Nieder-Barnim für die Ersatzwahl zum Reichstag zu leisten. Es standen der unabhängige Sozialdemokrat und Kriegsgegner Rudolf Breitscheid und der Mehrheitssozialdemokrat und Kriegsbewilliger Rudolf Wissell, der spätere Arbeitsminister in der Weimarer Republik, zur Wahl. Gewählt wurde Wissell.

Ich hielt noch Verbindung zu Kollegen meiner früheren Arbeitsstelle, AEG-Turbine und Kabelwerk Cassirer. Gelegentlich ging ich zum Schichtwechsel zu den Betrieben, um mit den Kollegen zu sprechen. Bei Cassirer stand eines Morgens ein Polizist vor dem Tor, der anscheinend auf mich wartete. Ich bemerkte ihn etwas spät, machte aber noch rechtzeitig kehrt. Er schrie: „Stehenbleiben!“ zog seinen geschweiften Säbel und warf ihn hinter mir her. Ich verschwand durch die Anlagen des Gustav-Adolf-Platzes, der fünfzig Meter entfernt lag, während der Polizist, als ordentlicher Beamter, die Verbotsschilder beachtete und die eingefaßten Wege entlang eilte. Schußwaffen durften die Beamten damals nur bei direkten Angriffen benutzen. Ich drehte mich einige Male um und sah, daß Kollegen aus den Fenstern der Fabrik mir nachwinkten.

Alle unsere lebhaften Diskussionen drehten sich um den Gewaltfrieden von Brest-Litowsk und die Möglichkeit eines neuen Streiks. Die Streikpropaganda hatte nach Abbruch des großen Munitionsarbeiterstreiks niemals aufgehört. Die Militärbehörden hatten mittlerweile Großbetriebe militärisch besetzt und die Belegschaften dienstverpflichtet. Budich berichtete in einer Sitzung der Spartakusgruppe, daß in der Berliner Kommandantur Pläne vorlägen, nach denen bei erneuten Streiks die Arbeiterwohnbezirke und alle Betriebe, die für den Kriegsbedarf arbeiteten, besetzt werden sollten. Jetzt war es aber bereits so weit, daß die Arbeiter weniger die Militärbehörden fürchteten, weit mehr war ihr Wille gelähmt durch die eigene Bürokratie. Nichts wirkt lähmender auf Arbeiter, als die ständigen Warnungen der Organisations-Bürokratie, die ihnen einredet, diese oder jene Aktion sei „zwecklos“, sie habe „keine Aussicht auf Erfolg“. Das ist die Bonzensprache, auf die der Arbeiter hört.

Aus der Organisationsdisziplin erklärt es sich, warum keine Beweise dafür vorhanden sind, daß die große Masse der deutschen Arbeiterschaft den Diktatfrieden von Brest-Litowsk tatsächlich verurteilte. Daß das Bürgertum und die Kirche zuerst den Überfall auf das unverteidigte Rußland und dann den darauf folgenden Diktatfrieden jubelnd bejahten, versteht sich aus der deutschen Geschichte. Daß es aber in Kreisen der Diplomatie Bedenken und Warnungen gab, erfuhren wir erst nach dem Kriege. Die Bedenken blieben politisch ohne Wirkung, sie sind beute lediglich Aktenstücke für nach Alibis suchende Historiker.

Über die Religion und die Kirchen haben wir im Jugendbildungsverein und in der Spartakusgruppe nur selten diskutiert. Wir waren einhellig der Auffassung, daß ein überzeugter Sozialist aus der Kirche austreten muß. In dieser Frage erschien uns der Grundsatz sechs des Erfurter Programms klar und ausreichend. Er lautet:

»Erklärung der Religion zur Privatsache

Abschaffung aller Aufwendung aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.«

Wir waren natürlich der Meinung, daß die Kirchen jeden Krieg verurteilen müßten. Das taten sie nicht, im Gegenteil, es wurden unter den Soldaten Postkarten verbreitet; die deutsche Soldaten schießend und marschierend zeigten, denen eine lichte Christus- oder Engelsgestalt voranschwebte. Da die Belgier, Franzosen, Russen, Engländer auch christliche Völker waren, denen vielleicht auch eine Christus- oder Engelsgestalt voranschwebte, fragten wir uns, ob es mehrere Christusse gäbe und ob sie einander den Schädel einschlagen würden, wenn sie jemals aufeinander treffen sollten.

Als ob Gott eingeschriebenes Mitglied der Alldeutschen wäre, schrieb im Frühjahr 1918, nach Unterzeichnung des Brest-Litowsker Diktats, die Allgemeine Evangelisch- Lutherische Kirchenzeitung“:

»Friede ohne Annexionen und Entschädigung! So war der Beschluß der Menschen ... Aber Gott wollte auch hier anders. Er ließ die Machthaber Rußlands aus dem Taumelkelch trinken ... und die Verhandlungen abbrechen. Gerade das war Gottes Stunde. Die Heere Deutschlands rückten hinüber, nahmen Stadt um Stadt, Land um Land ... und Rußland mußte unermeßliche Beute hergeben ... mit allerlei Schätzen und Lebensmitteln; Gott wußte, daß wir es brauchten. Und weiter brauchten wir Geschütze und Munition, zum letzten Schlag gegen den Feind im Westen. Auch das wußte Gott. Bezahlt und verfertigt hatten es England und Frankreich, die Empfänger waren die Deutschen ... So war es von Gott beschlossen, ein wahrer Gottesfrieden, entgegen allem was Menschen planten und wollten.

Möge es mit den befreiten Randländern werden wie immer, Rußland bekommt sie niemals wieder.«

In keiner atheistischen Schrift ist der Glaube an Gott jemals so verhöhnt worden wie in diesem alldeutschen Kirchenblatt! War die katholische Kirche anders? Der Kölner katholische Erzbischof von Hartmann hatte bereits 1915 geschrieben: „Ihr Helden, die ihr den Tod gefunden habt auf dem blutigen Feld der Ehre, wie jubelt ihr jetzt mit euren Siegeskronen in himmlischer Herrlichkeit!“

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich Hermann Duncker und seine Frau Käte kennengelernt habe. Beide waren Mitglieder der Zentrale des Spartakusbundes. Jedenfalls kannte ich beide schon, als ich eines Tages zu ihnen ging, um für meine Gruppe Informationen und die Adresse einer verlorengegangenen Verbindung zu holen. Die Dunckers wohnten in Berlin-Steglitz; in der Nähe wohnten auch Franz Mehring und die Familie Wilhelm Piecks. Natürlich nahm ich an, daß Dunckers Wohnung überwacht würde, und ich hatte vorsichtig zu sein. Ich kam, ohne Verdächtiges zu bemerken, zur Wohnung und blieb zum Abendessen. Als ich das Haus verließ, stand einige Häuser weiter ein Polizist, der mir folgte, bis ich an der Straßenecke einen zweiten sah, der „Halt“ schrie. Nun rannte ich los, es war noch genügend Raum, um zwischen beiden hindurchzulaufen. In den kurzen Straßen mit den Vorgärten war ich schnell um die Ecken. Als ich mich umdrehte und keinen unmittelbar folgen sah, rannte ich in einen Hausflur und klingelte an der ersten Tür der Parterrewohnung. Ein Mann öffnete. Ich hatte wohl im Augenblick den richtigen Instinkt und bat um ein Glas Wasser und fragte, ob ich mich einen Augenblick hinsetzen könnte. Er bejahte; ohne zu zögern, bot mir einen Sessel an und rief nach seiner Frau, die im Nebenraum war. Einige Minuten später klingelte es, und als der Mann die Tür öffnete, stand einer der Polizisten draußen und fragte, ob ein junger Mann, „ein Deserteur“, ins Haus gelaufen sei. Mein Beschützer verneinte und schloß die Tür. Ich brauchte ihnen nur zu sagen, daß ich Bekannte, die in der Nähe wohnen, besucht hatte, die sicherlich von der Polizei beobachtet würden. „Da waren Sie wohl bei Doktor Duncker?“ fragte der Mann. Ich bejahte und wir kamen ins Gespräch, das sich bis nach Mitternacht hinzog. Beide luden mich ein, zu bleiben und auf dem Sofa zu schlafen. Es war ein Schauspieler-Ehepaar. Er mochte wohl um die Siebzig sein, seine Frau erschien jünger, war aber auch schon silberhaarig. Es ergab sich von selbst, daß wir über den Krieg sprachen, und es stellte sich heraus, daß beide entschiedene Kriegsgegner waren. Sie erzählten, daß sie in früheren Jahren als Schauspieler viel im Ausland gewesen seien und viele Menschen des Kulturlebens, auch führende Leute der Militärkaste und der Politik, kennengelernt hätten.

Am nächsten Morgen ging die Frau aus dem Haus, um ihre Brot- und Milchration zu holen. Sie berichtete nach ihrer Rückkehr, daß noch Polizisten auf der Straße patrouillierten, ich solle noch bleiben. Ich blieb vier Nächte und drei Tage.

Beim Abschied versprach ich, ihnen einige Schriften zu schicken. Als ich fort war, bemerkte ich, daß ich nicht einmal nach dem Namen meiner Retter gefragt hatte, beide auch nicht nach meinem. Erst nach dem Kriege, als ich zur Beerdigung von Franz Mehring nach Stieglitz kam, konnte ich sie besuchen. Sie waren an meinem persönlichen Erleben interessiert, nicht an meiner politischen Tätigkeit. Als ich sie zwei Jahre später wieder besuchen wollte und an der Tür schellte, öffnete mir eine fremde Frau. Sie sagte, der alte Schauspieler sei gestorben, seine Witwe wohl in einem Altersheim, oder auch gestorben, sie wisse es nicht genau.

Am Abend, nachdem ich das gastlich Haus verlassen hatte, traf ich im Jugendbildungsverein die Freunde und berichtete von meinem Erlebnis. Eines der Mädchen ging auch sogleich zu meiner Mutter, um ein Treffen für den nächsten Tag zu vereinbaren. Als ich anderntags meine Mutter traf, erzählte sie, daß in den letzten Tagen täglich ein Kriminalbeamter in der Wohnung gewesen sei. Daher riet sie mir für einige Zeit von Berlin fortzugehen. Sie gab mir einen Brief an einen Bauern bei Neustettin in Pommern mit. Ich solle versuchen, so lange wie möglich bei ihm zu bleiben und dort zu arbeiten. Im Brief selbst standen nur Familienangelegenheiten als Vorwand der Reise. Meine Mutter hatte auch die Fahrkarte geholt Von einem Berliner Fernbahnhof aus konnte ich nicht fahren, diese wurden scharf kontrolliert. Ich mußte zum nächsten Vorort, wo die Personenzüge hielten und auch die mitfahrenden kontrollierenden Kriminalbeamte ausstiegen. Am Nachmittag des nächsten Tages war ich am Ort.

Der Bauer schien gar nicht erfreut zu sein von meinem Besuch. Er sagte, daß ich nur einige Tage bleiben könne, seine Ställe und Scheunen seien mit russischen Kriegsgefangenen belegt. Er habe weit mehr zugewiesen bekommen, als er benötige. Aber er wolle den Brief beantworten und mir die Antwort mitgeben. Die Antwort erfordere zum Glück für mich mehr als eine Woche. Ich half bei Arbeiten auf dem Felde und hatte Obdach und Essen. Der Bauer bewirtschaftete sein Gehöft, Äcker und Wiesen mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern. Zwei Söhne waren im Felde. Die Familie war baptistisch. Sie lebte überaus einfach. Der Bauer hielt sich streng an die Kriegs-Wirtschaftsvorschriften und lieferte das Erwirtschaftete ab. Es gab jeden Tag das gleiche Essen. Morgens und abends selbstgebackenes Roggenbrot mit einer Scheibe Speck und einer Tasse Buttermilch, mittags gab es mit Zwiebeln gestampfte Kartoffeln, die wie ein Napfkuchen auf einen Teller aufgebaut waren. Der Teller stand in der Mitte des Tisches. Nach dem Gebet langte jeder mit seinem Löffel in die Kartoffeln, bis der Teller leer war. Dann wurde wieder gebetet und jeder ging an seine Arbeit. Ich aber fuhr nachmittags, mit dem Fahrrad des Bauern, in der Umgebung herum.

Nach Einbruch der Dunkelheit saß die Familie im Wohnzimmer, der Bauer las aus der Bibel vor, sonst sprach kaum jemand ein Wort. Die Mädchen lauschten dem Gesang der Russen, der aus der Scheune herüberklang. Nach einigen Tagen, nach dem Abendessen, die Mädchen waren schlafen gegangen, erzählte der Bauer von seinen Sorgen, die ich meiner Mutter berichten sollte. Der Bauer wußte nicht, ob seine beiden Söhne noch lebten, sie hatten seit zwei Jahren nicht geschrieben. Er glaubte, daß das Regiment ihn doch benachrichtigen würde, falls die Söhne gefallen oder in Kriegsgefangenschaft geraten sein sollten. Die Frau des Bauern sagte, daß auch die Töchter ihr Sorge bereiteten. Sie seien schon Mitte zwanzig und fänden keine Männer. Die jungen Männer aus den umliegenden Dörfern und Gehöften seien im Kriege gefallen oder in Kriegsgefangenschaft. Hinzu kam allmählich die Angst wegen der russischen Kriegsgefangenen, die Mädchen schauten zu viel zu ihnen hinüber.

Ich mußte vom Krieg und vom Leben in der Stadt erzählen. Die Familie hatte keine Zeitung abonniert, der Bauer hielt sich an das, was er gelegentlich auf dem Markt gehört hatte. Dort erzählte man furchterregende Dinge über die Unzufriedenheit der Arbeiter in den Städten.

Ich glaubte bei den Gesprächen, die Leute meiner frühen Kindheit zu hören. Gott bestimme alles, gute und schlechte Ernten und auch den Krieg. Ob die Söhne wiederkehren oder nicht, bestimmte Gott. So wurde jedes Abendgespräch quälend für mich. Der Bauer und seine Frau schauten mich entsetzt an, als ich sagte, daß gute und schlechte Ernten vom Wetter und von der Arbeit abhingen, und daß der Krieg das Werk verbrecherischer Menschen sei.

Ich erfuhr auf meinen Nachmittagsfahrten durch die Domänen des ostelbischen Junkertums mit ihren großen Rittergütern anschaulich eine der wirklichen Ursachen der Hungersnot in den Städten. Obwohl es schon bald Ende April war, waren weite Strecken fruchtbaren Landes unbebaut. Keine Saat sproß. Ich sah zahlreiche Gruppen russischer Kriegsgefangener an den Gutshäusern, Mauern und Hecken arbeiten, sie arbeiteten in den Gärten an den gutseigenen Landwegen, aber nicht auf den Äckern. Nach einigen solcher Fahrten fragte ich am Abend den Bauern warum die Felder brach lägen, warum keine Saat zu sehen sei. Der Bauer erzählte, daß schon im Vorjahr ein großer Teil den Äcker brach gelegen hatten, obwohl massenhaft russische Kriegsgefangene in den Scheunen und Ställen der großen Besitzungen gelegen hätten; daß die großen Rittergüter weniger ablieferten als die Bauern des Dorfes und der Umgebung, obwohl alle Bauern zusammen weniger Ackerfläche, weniger Vieh und weniger Pferde hätten. Die Herren Gutsbesitzer seien mit den Preisen unzufrieden, sie ließen darum die Äcker brachliegen und erhöhten den Wert ihrer Güter durch Bau-, Wald-und Wegearbeiten. Die Arbeit der russischen Kriegsgefangenen koste nur Kartoffeln und ein wenig Brot, und diese Kosten ließen sich die Herren von der Regierung ersetzen. Die Gutsherren hätten Fisch, Geflügel, Wild und man könnte auf der örtlichen Bahnstation feststellen, wieviel Lebensmittel im Reisegepäck verstaut an städtische Adressen gingen. Der Bauer übte keine Kritik. Er nahm alles hin als selbstverständliches Recht der großen Herren. Aber ich wußte Bescheid, wer das Volk aushungerte ... Der Bauer schrieb den Brief an meine Mutter zu Ende und drängte auf meine Abreise. Zwei Tage später war ich wieder in Berlin, um gleich an der Vorbereitung einer illegalen Jugend-Maifeier teilzunehmen.

Der Jugendbildungsverein hatte in diesem Frühjahr 1918 seinen Namen in „Freie Jugend Großberlin“ geändert. Der Vorstand der USPD versuchte eine eigene Jugendorganisation zu schaffen. Wo ihm das gelang, schloß diese sich mit den Jugendbildungsvereinen, die unter Leitung der Spartakusgruppen standen, zusammen.

Der 1. Mai 1918 wurde von der deutschen Arbeiterschaft wiederum nicht durch Arbeitsruhe gefeiert. Die „Freie Jugend Großberlin“ veranstaltete darum eine Ersatzfeier am darauffolgenden Sonntag, dem 5. Mai 1918, im Walde zwischen Frohnan und Stolpe, nördlich von Berlin. Ich fuhr mit meiner Gruppe in der Straßenbahn bis Tegel, dann gingen wir durch den Tegler Forst zum Treffpunkt bei Stolpe. Es konnte nicht ausbleiben, daß Gruppen Jugendlicher mit zahlreichen zusammengerollten roten Fahnen auffielen und von eifrigen Leuten der Polizei gemeldet wurden. Draußen war die Gendarmerie des Landkreises „zuständig“, die auch alarmiert worden war und uns schon auf dem Hinweg erwartete. Sie folgte uns zum Versammlungsplatz. Wir lagerten im Walde, die Fahnen wurden entrollt, Lieder gesungen, Referate angehört, und vor allem konnten sich die Mitglieder der einzelnen Berliner Gruppen begrüßen. Es war die erste gemeinsame Kundgebung der sozialistischen Jugend Großberlins im Kriege.

Als die Gendarmerie sich durch Zuzug von anderen Orten für genügend stark hielt, stürmte sie in die lagernden Jugendlichen, verhaftete die Fahnenträger und beschlagnahmte die Fahnen. Die Verhafteten wurde zur Polizeiwache Stolpe geführt. Wir zogen mit Gesang hinterher. Es war ein schöner Mai-Sonntag, der Wald war von vielen Berliner Ausflüglern besucht – damals war die Gegend noch wenig bebaut – so hatten wir Tausende von Zuschauern. Wir riefen unaufhörlich im Chor: „Freiheit“, „gebt die Gefangenen heraus“. Das war dem Bürgermeister und Polizeimeister recht peinlich, und der Bürgermeister hielt es für ratsamer, die Gefangenen und die Fahnen freizugeben. Wir zogen mit Gesang und entrollten Fahnen durch den Wald wieder nach Berlin zurück. So eine „illegale“ Demonstration war damals noch ohne Blutvergießen möglich. Die Polizisten und Gendarmen hatten anstelle der späteren republikanischen Maschinengewehre ein großes und grobes Kasernenhof-mundwerk. Sie schimpften auf den ganzen Weg „Lausejungen“, „Gören“ u. s. w., worauf wir nur noch lauter sangen. Doch Befehl zum Schießen hatten die Gendarmen nicht.

Meine Tätigkeit und meine Freiheit fanden ein abruptes Ende. Polizisten in Zivil, die uns von Berlin aus gefolgt waren, hatten sich zwar nicht bemerkbar gemacht, wohl aber Notizen und Fotos.

Hermine Strey, eines der beiden tapferen Mädchen, die vor zwei Jahren, am 1 Mai 1916, auf dem Potsdamer Platz mit den Polizisten rangen, um die Verhaftung Liebknechts zu verhindern, arbeitete in einer Großbank in der Französischen Straße. Bei schönem Wetter pflegte sie mit Kolleginnen in der Mittagspause auf einer der Bänke auf dem Gendarmen-Markt zu sitzen. Dorthin ging ich einige Tage nach der Feier bei Stolpe, an der sie auch teilgenommen hatte. Ich setzte mich zu ihr, um mit ihr über die weitere Arbeit zu sprechen. Nach einigen Minuten standen wir auf und gingen langsam zu ihrer Arbeitsstelle zurück. Ich hatte zwar beim Sitzen auf der Bank zwei Männer auf- und abgehen sehen, die uns dauernd anschauten, doch Hermine Strey beachtete das nicht.

Vor dem Bankgebäude verabschiedeten wir uns. Ich war nur einige Schritte weitergegangen, als zwei Männer mich von hinten an den Schultern packten und „Hände hoch“ schrien. Der eine Mann drückte mit den Lauf seines Revolvers in die Seite, der andere holte seine Handschellen aus der Tasche. Dann riefen sie eine Droschke, und die Fahrt ging zum Polizeipräsidium Alexanderplatz. Ich wurde zur politischen Abteilung VII geführt. Der Kommissar nahm meinen Steckbrief von der Wand und sagte: „Endlich kann ich ihn hier abnehmen, er hat viel zu lange hier gehangen. Aber damit Sie es gleich wissen, in meiner Abteilung geht es nicht um den Gestellungsbefehl, mit so geringfügigen Sachen beschäftigen wir uns nur am Rande, hier geht es um Spartakus. Ihre Militärstelle müssen wir trotzdem gleich benachrichtigen.“ Dann fügte er hinzu: „Ihre Bekannte beobachten wir seit langem, heute hat es sich ja gelohnt.“

Der Nachmittag und der nächste Tag vergingen beim Erkennungsdienst. Dann begannen die Vernehmungen. Es waren immer drei Beamte um mich besorgt, zwei für die Vorführungen und einer, der die Protokolle schrieb. Einer der Beamten erzählte, daß er, als Ausflügler getarnt, die Feier im Walde bei Stolpe mitgemacht und mich dort gesehen habe.

Am dritten Tag wurde die Sache dramatisch-lächerlich. Ich wurde früh-morgens von den zwei Beamten zur Abteilung VII geführt. Als ich in den Korridor dieser Abteilung kam, standen dort ungefähr zwanzig frühere Kollegen von der Fabrik Cassirer. Einige begannen bei meinem Erscheinen zu schimpfen, andere schüttelten die Fäuste und drohten zu schlagen. Die beiden Kriminalbeamten, zwischen denen ich ging, drängten die Kollegen zurück. Auch der Kommissar kam aus seinem Zimmer und gebot Ruhe. Nun folgte das Verhör und die Gegenüberstellungen pausenlos bis zum späten Nachmittag. Ein Kollege nach dem anderen sagte aus, daß ich Flugblätter und Spartakusbriefe im Betriebe habe kursieren lassen, und daß ich Streikführer gewesen sei. Ich erfuhr daß die Aussagen zum Teil schon seit dem letzten Streik protokolliert worden waren. Sie sollten jetzt in meiner Gegenwart bestätigt werden. Es waren an die hundert Kollegen gefragt worden, die meisten hatten alles vergessen, aber diese zwanzig hatten Protokolle unterschrieben. Alle behaupteten von mir verführt worden zu sein. Einige benahmen sich so dramatisch, daß ich das Lachen nicht halten konnte, worauf der Kommissar jedesmal mit einem Tag Dunkelzelle bei Nahrungsentzug drohte. „Hier gibt es nichts zu lachen“, sagte der Kommissar, „hier geht es um den Staat.“ Ich wunderte mich, daß keine einzige Frau unter den Zeugen war und fragte den Kommissar wo denn die Frauen seien. „Die Weiber behaupten, nichts gesehen und nichts gehört zu haben, antwortete er, „die Aussagen der Männer genügen uns.“ Als ich fragte, ob er die Zeugen nicht nach Hause schicken könne, es seien doch alles die gleichen Aussagen und alles sei doch klar, sagte der Kommissar: „Ihre Sache liegt beim Reichsgericht, der Untersuchungsrichter des Reichsgerichtes braucht jedes Protokoll. Sie werden ihn morgen kennenlernen.“ Um das Kapitel Cassirer vorweg abzuschließen, möchte ich noch hinzufügen, daß nach dem Zusammenbruch des Reiches, Mitte November 1918, ein Bote der Firma Cassirer zu meiner Mutter kam mit der Einladung an mich, zum Betrieb zu kommen. Als ich dann zu einer vereinbarten Stunde kam, prangte am Tor ein Pappschild mit einer Girlande „Herzlich willkommen!“ Die Belegschaft versammelte sich in der Kantine und ich wurde als „Revolutionsheld“ gefeiert und noch mit anderen schmeichelnden Titeln bedacht. Der Redner der Belegschaft entschuldigte die Kollegen, die mich im Polizeipräsidium bedroht oder beschimpft hatten. Sie hätten nur „Theater gespielt“. Es wurde mir dann ein Geldbetrag überreicht, das Ergebnis einer Sammlung, an der sich auch der Chef des Hauses beteiligt hatte. Ich bedankte mich für den Empfang und den Geldbetrag und erklärte zur Erleichterung der Geschäftsleitung, daß ich leider nicht in den Betrieb zurückkehren werde, da ich noch eine Lehre nachzuholen hätte.

Ich glaube, daß die Polizei aller Länder wohl die gleiche Methode anwendet, den gleichen kostspieligen Leerlauf, die gleiche wichtigtuerische Verschlagenheit. So zeigt jede Polizei die Neigung, einem Verhafteten schwebende Dinge anzuhängen, die sie gern „erledigt“ sehen möchte. So auch bei mir. Der Kommissar der zuerst ganz „geschäftsmäßig“ sachlich war, fing an, mir Dinge vorzuhalten, von denen ich nie gehört oder die ich nie gesehen hatte. Ich erfuhr nun von Gruppen und Einzelpersonen, die irgendwelche Schriften gedruckt, einen Sabotageakt verübt oder Soldaten zu Desertion überredet halten. Ich selbst aber kannte nur meinen Jugendbildungsverein und die Spartakusgruppe. Protokolle, in denen andere Organisationen erwähnt wurden, unterschrieb ich nicht. Die Polizei arbeitete noch recht primitiv. Spitzel in unseren Reihen hatte es nicht gegeben.

Zum Untersuchungsrichter der „Spartakussache Leo Jogiches und Genossen“ beim Reichsgericht war ein Dr. Hothöfer bestellt worden. Er hatte sein Büro im Untersuchungsgefängnis Moabit. Die beiden Kriminalbeamten der Abteilung VII brachten mich anderntags dorthin. Als nach einiger Zeit ein Kanzleibeamter das Zimmer von innen öffnete und uns einließ, saß Holthöfer an seinem Schreibtisch und blätterte in den Akten. An einen zweiten Tisch saß ein junger Referendar, während der Kanzleibeamte sich schon vor die Schreibmaschine gesetzt hatte. Als ich näher an die Barriere vor dem Tisch getreten war, sah ich aufgestapelte Spartakusbriefe, Flugblätter und die Lichnowsky-Denkschrift liegen. Auf dem Umschlag einer Aktenmappe war zu lesen: Hoch- und Landesverrat Leo Jogiches und Genossen.

Nachdem der Kanzleibeamte meine Personalien verlesen hatte, begann Holthöfer unvermittelt mit einem Wort-Trommelfeuer, das sich eine Woche lang jeden Tag wiederholen sollte. Die erste Frage verblüffte mich so stark, daß ich sie bis an das Ende meiner Tage nicht vergessen werde: „Wo haben Sie das englische Gold versteckt?“ Ich war eher darauf gefaßt, der Teilnahme an der Ermordung Julius Cäsars beschuldigt zu werden, als darauf, englisches Gold erhalten zu haben. Ich brauchte einige Zeit, um zu antworten, daß ich nichts von englischem Gold wüßte. „Aha, Sie leugnen also auch, daß Sie Ihre Lohntüte bei der Streikversammlung auf den Teller gelegt haben?“ Ich antwortete: „Das leugne ich gar nicht, da war doch kein Gold drin.“ Er begann zu schreien, ich solle nichts verdrehen: „Sie und die ganze Spartakusbande gehören vor den Sandhaufen gestellt!“ und so fort. Dann wieder ruhiger, sagte er: „Das Geld, das Sie auf den Teller legten, haben Sie doch von der englischen Regierung zurückerhalten?“ Er fuhr fort: „Wir wissen, daß die englische Regierung den Druck der Spartakusbriefe und der anderen Druckschriften bezahlt hat. Wovon haben Sie denn gelebt?“ Ich antwortete, daß Freunde mich unterstützt hätten. „So, und was sagen Sie zum Baralong-Mord?“ fragte er. Wieder brauchte ich geraume Zeit, um zu antworten, daß ich nicht wüßte, was diese Angelegenheit mit meiner Sache zu tun hätte, daß ich nur mit meinem Jugendbildungsverein und der Spartakusgruppe zu tun gehabt hatte. Beim Wort „Jugendbildungsverein“ unterbrach er mich schon schreiend: „Deserteurverein, Deserteurverein!“ (Der „Baralong-Mord“ bezog sich auf die Versenkung eines deutschen U-Bootes durch den als Fischkutter getarnten britischen Hilfskreuzer Baralong. Die Versenkung des deutschen U-Bootes wurde zu einer niederträchtigen Hetze gegen England benutzt, und es wurde die Aushungerung Englands durch die U-Boot-Blockade gefordert An dieser Hetze beteiligten sich besonders einige deutsche Dichterlinge mit ihren „Gott strafe England“-Sprüchen. Im Spartakusbrief vom Januar 1916 war gegen diese Anti-Englandhetze scharf protestiert worden).

Mit dieser Art Vernehmung vergingen die Vormittagsstunden des ersten Tages. Die Vernehmung am Nachmittag begann mit den gleichen Fragen die in verschiedenen Varianten immer wieder gestellt wurden. Das Ergebnis des Tages war ein Zweizeilen-Protokoll. Auf Vorhaltung leugnet der Angeschuldigte hartnäckig, etwas von englischem Gold zu wissen. Vom „rollenden Rubel“ war damals noch nicht die Rede.

Die folgenden Tage vergingen mit der Verlesung von Stellen aus den Spartakusbriefen und aus Flugblättern. Ich sollte bestätigen, daß ich den Inhalt gekannt und die Schriften verbreitet habe. Dann wurden nochmals alle Aussagen der Kollegen der Firma Cassirer verlesen, die ich schon bei der politischen Polizei bestätigt hatte.

Endlich wurde die Vernehmung etwas gehaltvoller. Der Untersuchungsrichter beauftragte den Referendar, ein Memorandum vorzulesen. „Damit Sie wissen, worum es geht“, sagte er zu mir. Das Memorandum war ungefähr zehn Seiten stark, es war von Jogiches unterzeichnet. Es behandelte die Ursachen des Krieges und die Kriegsführung. Die Sprache war ohne jede Umschweife scharf und klar. »Die Hauptschuld liegt bei der deutschen Regierung«, hieß es, der Krieg sei »ein imperialistischer Raubkrieg«, die Beendigung des Krieges sei »nur durch eine Revolution der Arbeiterklasse möglich.«a Af meinen Wunsch bekam ich das Memorandum selbst in die Hand, um es aufmerksam lesen zu können. Die mit Jogiches verhafteten Mitglieder der zentralen Spartakusgruppe hatten das Memorandum nach ihm unterzeichnet. Ich sollte einige Mitglieder der Zentrale jetzt zum ersten Male sehen.

Es kamen zwei Kriminalbeamte ins Zimmer, setzten sich beiderseits zu mir hinter die Barriere. In der Tür, hinter der ein unterirdischer Gang zum Untersuchungsgefängnis führte, erschienen einzeln Mitglieder der Zentrale. Als erster kam Jogiches. Der Untersuchungsrichter fragte zuerst ihn, dann mich, ob wir uns kannten. Er verneinte, ich verneinte. In Abstanden von ungefähr zehn Minuten wurde ich einem Mitglied der Zentrale nach dem anderen gegenübergestellt, auch Kühn. Er kannte mich nicht, so ich ihn auch nicht. Paul Nitschke war nicht dabei. Dann kam Willi Leow. Er sprach mich mit meinem Namen an, so gab ich auch seinen zurück. Damit wurde abgebrochen.

Die Tage der ersten Woche verliefen mit recht anstrengenden Verhören. Wieder war es Sonntag geworden. Der Tag verging ohne Vernehmung. Am Montag vormittag kam ein Aufseher und sagte, daß ich meine Sachen packen sollte. Ich wurde ins Zimmer des Untersuchungsrichters geführt, wo meine beiden Beamten von der politischen Polizei warteten. Holthöfer verkündete mir: „Sie werden jetzt vorerst den Militärbehörden übergeben. Die Reichsgerichtssache gegen Sie läuft weiter.“ Ich habe Holthöfer nicht wieder gesehen.

Die Beamten führten mich zum Hausvogteigefängnis, das von den Militärbehörden übernommen worden war. Hier nahm man mir meine Zivilkleidung ab und ich erhielt Arbeitssoldaten-Uniform. Ich konnte eine Postkarte an meine Mutter schreiben, daß sie meine eigene Kleidung abholen könne.

Am folgenden Morgen hatte ich die freudige Überraschung, Paul Nitschke zu sehen. Als ich früh um fünf mit dem Kübel aus der Zelle heraustrat, stand er vor der übernächsten Zelle. Zuerst war ich etwas erschrocken. Er sah schon sehr blaß und verfallen aus. Schnell schlüpfte ich hinter ihn und er flüsterte mir zu, daß er gleich nach seiner Verhaftung durch die politische Polizei nach hier gebracht worden war, von einem Prozeß wisse er noch nichts. Hier gab es keine „Kalfaktoren“. Wie beim Morgenappell wurden die Zellen mittags und abends aufgeschlossen, die Gefangenen traten mit ihrem Napf zur Essensausgabe an. So konnten wir uns dreimal am Tag sehen. Am folgenden Morgen steckte mir Paul Nitschke ein Buch zu, das ich unter meiner Jacke verbarg.

Am gleichen Vormittag kam auch schon meine Mutter, um meine Zivilkleidung abzuholen. Sie brachte vorsorglich ein Buch, es war Max Brods Tycho Brahes Weg zu Gott, Briefpapier und Wäsche mit. Auf ihre Bitte um Sprecherlaubnis holte man mich ins Wachzimmer. Sie gab mir die mitgebrachten Sachen, die Soldaten schauten gar nicht hin, und wir konnten uns einige Minuten sprechen. Ich konnte ihr mitteilen, daß ich in den nächsten Tagen vor ein Kriegsgericht in Schöneberg kommen würde. Sie versprach wiederzukommen.

Das Buch, das Paul Nitschke mir zugesteckt hatte, war das erste große Werk Leo Trotzkis, Die Russische Revolution von 1905. Das Buch war 1909 in deutscher Übersetzung in einem sozialdemokratischen Parteiverlag in Dresden erschienen. Hier im Militärgefängnis waren eigentlich nur die Bibel und eine Soldatenfibel erlaubt. Ich mußte darum aufpassen, und ich las im Stehen mit dem Rücken zur Tür, um hören zu können, falls eine Wache an meine Tür kommt und durch das „Spionloch“ schaut. In den Zellen gab es morgens und abends kein Licht, aber es war Frühling, und im vierten Stock, wo ich meine Zelle hatte, war es lange hell.

So las ich im Militärgefängnis zum ersten Male von Trotzki, wie die erste russische Arbeiterrevolution entflammte, wie die ersten revolutionären Arbeiter-Delegiertenräte, die „Sowjets“, entstanden waren und wie die Revolution schließlich niedergeworfen wurde. Trotzkis Schilderung des Transports der Verurteilten nach Sibirien, das Leben der Verbannten, seine Flucht, erinnerten mich an die Bücher Dostojewskis und Alexander Herzens über Sibirien. Die den Gefangenen entgegengebrachte Sympathie und die Hilfsbereitschaft großer Teile der Bevölkerung, und besonders die Hilfe der sibirischen Bauern für die Verbannten, berührten mich stark. Der Revolutionär Trotzki stellte sich mit diesem Buch als Schriftsteller in die Reihe der großen Russen Tolstoi und Gorki, aber das politisch Entscheidende dieses Buches war, daß Trotzki hierin die Theorie der „Permanenten Revolution“ entwickelte. Trotzki schrieb:

»Gerade in der Zeitspanne zwischen dem 22. Januar und dem Oktoberstreik 1905 haben sich beim Verfasser die Ansichten über den Charakter der revolutionären Entwicklung Rußlands gebildet, die die Bezeichnung der Theorie der „Permanenten Revolution“ erhielten.

Diese gelehrte Bezeichnung drückte den Gedanken aus, daß die russische Revolution, vor der unmittelbar bürgerliche Ziele stehen, in keinem Fall bei ihnen stehenbleiben kann. Die Revolution kann ihre nächsten bürgerlichen Aufgaben nicht anders lösen, als durch die Besitzergreifung der Macht durch das Proletariat. Hat es aber die Macht in seine Hand genommen, so kann es sich nicht auf den bürgerlichen Rahmen der Revolution beschränken ...

Hat das siegreiche Proletariat kraft der historischen Notwendigkeit den engen bürgerlich-demokratischen Rahmen gesprengt, so wird es gezwungen sein, ihren nationalstaatlichen Rahmen zu durchbrechen, das heißt, es muß bewußt danach streben, die russische Revolution zum Vorspiel der Weltrevolution zu machen.«

Zur Zeit der Veröffentlichung und in der ersten Phase der bolschewistischen Revolution von 1917 galt diese Theorie als ein Axiom. Später war sie eine der Ursachen des Zerwürfnisses und der Auseinandersetzungen Trotzkis mit Stalin. Mir schien, daß die Geschichte diese Theorie Trotzkis bestätigt hatte, und ein Jahrzehnt nach dem Lesen dieser Sätze im Gefängnis, als die Nachfolge Lenins zu Gunsten Stalins entschieden war und der Kampf gegen Trotzki mörderische Formen annahm, bildete ich 1927 die erste Trotzki-Oppositionsgruppe in Deutschland. Ich schrieb damals in einem Brief – wieder aus dem Gefängnis an die Kommunistische Internationale: » ... für mich bleibt Trotzki immer der engste Kampfgefährte Lenins und der Organisator des Sieges der russischen Revolution. In der Geschichte werden die Namen Lenin und Trotzki so untrennbar bleiben, wie die von Marx und Engels.«

Die Lektüre des Buches von Trotzki regte mich zu Vergleichen mit der Politik unserer Spartakusgruppe an. Ich fand wenig Ähnlichkeit mit der deutschen Arbeiterbewegung. Die jahrzehntelange illegale Tätigkeit der russischen Sozialisten unter Führung Plechanows, Martows, Trotzkis und anderer war weit aufreibender und opferreicher gewesen und sie drang auch in die Herzen und Gehirne der Arbeiterintelligenz ein. Doch glaube ich sagen zu können, daß wir im Spartakusbund das nach Umständen und Mitteln Mögliche geleistet haben. Welcher Historiker kann heute leugnen, daß die politischen Artikel der Spartakusbriefe die jeweilige politische Situation im Kriege mit außerordentlicher Klarheit und Klugheit darstellten. Wir waren aktiv gegen den Krieg. Das erhob uns über alle Unmenschen und das Unmenschliche der Zeit. Wir störten die Eroberungspläne eines brutalen machtbesessenen Militär- und Industriellenklüngels. Wir agitierten für Streiks zur Beendigung des Krieges. Wir waren kleine Gruppen innerhalb der Millionenmasse der Arbeitenden. Wir neben uns auf im Kampf gegen eine selbstgeschaffene Bürokratie, die in der russischen Arbeiterbewegung unbekannt war.

Am nächsten frühen Morgen wurde ich von zwei Landwehrleuten abgeholt. Es waren zwei gesetzte Männer in den vierziger Jahren, scheinbar Geschäftsleute, die mich mit der Straßenbahn zum Kriegsgericht Schöneberg brachten. Der Transportführer war über mich informiert worden. Er sagte gleich auf der Straße zu mir: „Ich wähle auch sozialdemokratisch, trotzdem schieße ich sofort, wenn Sie zu flüchten versuchen.“ Gewichtig fügte er hinzu:

„Pflicht ist Pflicht!“

Am Alexanderplatz bestiegen wir die Plattform einer Straßenbahn. So konnte ich einmal wieder das pulsierende Leben der Großstadt sehen. Die beiden Männer unterhielten sich auf der Hin- und Rückfahrt ausschließlich über Frauen und Essen. Der Krieg war so sehr ein Teil des Lebens geworden, daß er anscheinend nur dann noch Gesprächsstoff abgab, wenn Bekannte oder Verwandte direkt betroffen waren. Ich hätte gern etwas über den Krieg erfahren, denn seit meiner Verhaftung hatte ich keine Zeitung mehr gesehen. Die anderen Mitfahrenden auf der Plattform verhielten sich schweigend. Niemand entfaltete eine Zeitung.

Nach stundenlangem Warten im Vorraum des Gerichtszimmers wurde ich aufgerufen. Ein Vernehmungsrichter des Militärgerichts nahm meine Angaben zur Person und über die Gründe der Nichtbefolgung des Gestellungsbefehls auf. „Nichtbefolgung des Gestellungsbefehls“, hieß es jetzt, kein Wort mehr von Desertion. Der Gerichtstermin wurde auf den Dienstag der folgenden Woche festgesetzt. In der Zwischenzeit sollte ich noch zu einer Vernehmung auf die Berliner Stadtkommandantur geführt werden.

Ich hatte die Gelegenheit, eine Postkarte an meine Mutter zu schreiben und ihr den Gerichtstermin mitzuteilen. Die Rückfahrt ins Gefängnis erfolgt wieder mit der Straßenbahn. Ich gab die Postkarte einem Mitfahrenden, der sie sogleich in einen Postkasten geworfen haben muß, denn sie erreichte meine Mutter rechtzeitig.

In dem überfüllten „Hausvogtei“-Gefängnis blieb den Gefangenen selbst der tägliche halbstündige Rundgang auf dem Hof versagt. Ich machte aber einen unvergeßlichen Sonntagmorgen-Spaziergang, der mir wieder einen Einblick in die deutsche Volksseele gab. Wenn dieses Erlebnis sich im ersten Kriegsjahr ereignet hätte, würde ich es auf die verblendete Kriegsbegeisterung der ersten Monate zurückführen. Jetzt aber waren wir bereits im vierten Kriegsjahr.

Es war der dritte Sonntag im Mai. Ich wurde gegen zehn Uhr vormittags ins Wachzimmer geführt. Dort erwarteten mich die beiden Kriminalbeamten der politischen Abteilung und außerdem zwei Soldaten mit aufgesteckten Bajonetten. Der Wachhabende des Gefängnisses sagte mir, daß diese Begleitung mich zur Stadtkommandantur führen würde. Die Kriminalbeamten nahmen mich in die Mitte, an jeder Hand eine Kette. Die beiden Soldaten gingen hinterher. So war ich ausreichend bewacht. Wir marschierten durch einen Teil der Königsstraße, dann nicht den kürzeren Weg über den Schloßplatz, sondern durch die Kaiser-Wilhelm-Straße und den Lustgarten. Bereits in der Königsstraße schlossen sich unter Gejohle mehrere Leute an. Im Lustgarten war an diesem Sonntagvormittag ein Militärkonzert, mehrere Tausend Menschen waren auf dem Platz. Meine Begleiter hatten Mühe, mich durch die zusammenlaufenden Menschen zu führen. Männer drohten mit ihren Spazierstöcken, Frauen mit ihren Schirmen. Die drohenden Schreie wurden meinen Begleitern bald unangenehmer als mir. Ich hatte mich schon seit dem Tag meiner Verhaftung in eine Art Märtyrerrolle hineingelebt, die mich jedes Ungemach mit einer leichten Fröhlichkeit ertragen ließ.

Die Stadtkommandantur befand sich im Schloß des alten Kaisers Wilhelm I. An dem großen Eckfenster zur Schloßfreiheit, von dem aus der alte Kaiser Paraden und Wachablösungen zu beobachten pflegte, standen Offiziere, die die Zusammenrottung der Menschen um unseren Zug gesehen hatten. Eine Ordonnanz kam uns im Eilschritt entgegen mit dem Befehl, mir sofort die Fesseln abzunehmen. Oben im Zimmer erhielten die beiden Soldaten Order, eine Droschke für die Rückfahrt zu holen.

Die Vernehmung dauerte nicht lange. Sie bezog sich nur auf die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky. Inzwischen hatten die Ententemächte die Denkschrift auch in die Hände bekommen und sie angeblich in Zehntausenden von Exemplaren über den deutschen Linien abwerfen lassen. Ich konnte nur wiederholen, daß ich die Denkschrift verbreitet hatte, aber über ihre Herkunft nichts sagen könne. Damit mußte man sich begnügen.

Am folgenden Dienstag ging es wieder mit der Straßenbahn zum Militärgericht in Schöneberg. Als ich zum Verhandlungszimmer kam, standen meine Mutter und Liesel Trobach, das zweite der beiden tapferen Mädchen, die sich bei der Verhaftung Liebknechts auf die Polizisten gestürzt hatten, bereits an der Tür des Gerichtszimmers.

Es verlief alles schneller, als mir lieb war. Ich hatte eine kleine Rede vorbereitet, die ich aber nicht halten konnte. Nach Verlesung der Anklageschrift fragte mich der Richter ob die verlesenen Angaben zutrafen. Ich bejahte und konnte nur noch hinzufügen, daß ich mich weigere auf Menschen zu schießen, die weder mir noch dem deutschen Volk ein Leid zugefügt haben. Er unterbrach und verkündete ohne weitere Fragen „Sechs Monate Gefängnis wegen Nichtbefolgung des Gestellungsbefehls“. So standen wir nach wenigen Minuten wieder im Korridor. Auf dem Wege zur Straßenbahn verabschiedete ich mich von meiner Mutter. Liesel Trobach fuhr auf der Plattform der Straßenbahn bis zum Alexanderplatz mit und ich konnte ihr unterwegs von den Umständen meiner Verhaftung vom Spartakusprozeß, von Paul Nitschke und allen Erlebnissen der letzten Wochen berichten. Meine beiden Wach-Landwehrmänner hatten sich sicherlich den Inhalt unseres Gesprächs anders gedacht und waren nicht interessiert.

 


Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023