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Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse |
Als in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die kolonialpolitische Welle sich in Frankreich und England zu heben begann, stand Deutschland ohne jeden kolonialen Besitz da. Das Fehlen eines einheitlichen wirtschaftlichen Gebietes und einer zentralisierten Gewalt hatte es ihm im 16. und 17. Jahrhundert unmöglich gemacht, gleich Frankreich, England und Holland eine koloniale Tätigkeit zu entfalten, an die bei Beginn des Zeitalters der kapitalistischen Kolonialpolitik angeknüpft werden konnte. Als Deutschland schließlich durch die wirtschaftliche Entwicklung, sowie durch Blut und Eisen geeinigt wurde, hatten die besitzenden Klassen anfangs Wichtigeres zu tun, als auf kolonialen Raub auszugehen. Die Bourgeoisie begann sich in dem neuerbauten Reiche häuslich einzurichten, die Junker und die Regierung sorgten dafür, dass sie bei dem Umbau keine zu enge Unterkunft bekamen. Für das deutsche Kapital war die Eroberung von Kolonien damals eine fernliegende Sache. Es hatte noch in Deutschland viel Raum für seine Entwicklung, einen Boden, der vom französischen Milliardensegen befruchtet, von gierigen Händen aufgerissen, so umgerüttelt wurde, dass die giftigen Profitpflanzen nur so in die Höhe schossen. Und obwohl dieser wilden Spekulation bald eine Krise auf dem Fuße folgte, hatte die industrielle Entwicklung Deutschlands noch einen weiten Spielraum im Innern. Nach der wirtschaftlichen Krise vom Jahre 1874 wandten sich die Spitzen der kapitalistischen Welt zuerst dem Schutzzoll zu, dem ersten Heilmittel, das ihnen die Möglichkeit geben sollte, auf Kosten der Konsumenten und der verarbeitenden Industrie Extraprofite einzuheimsen. Weite Kreise der verarbeitenden Industrie hielten selbst angesichts der überstandenen Krise den Schutzzoll für unnötig: sie hatten noch Vertrauen in die heilenden Kräfte des Kapitalismus. Da sie keine Interessen in den kapitalistisch unentwickelten Ländern hatten, und ihr Handelsverkehr mit England und Amerika sich in stetem Aufstieg befand, hatte die Frage der Gewinnung von Kolonien selbst für diesen Teil des deutschen Kapitals, der für den Export produzierte, kein Interesse. Noch 1885 schrieb Robert Janasch, einer der ersten Befürworter der kolonialen Ausbreitung Deutschlands [15]: „Unter unseren Kaufleuten sind es kaum wenige Hunderte, welche durch ihren Unternehmergeist, sowie durch die Art ihres Geschäftsbetriebes veranlasst worden sind, sich eingehender über die Vorgänge auf den Gebieten der extensiven Kultur zu unterrichten, und welche das Bedürfnis fühlen, an denselben aktiv und zweckbewusst teilzunehmen. Der Einwand, dass der deutsche Kaufmann und Industrielle durch seine Beteiligung an dem so bedeutenden Export Deutschlands tatsächlich sein Interesse an dem internationalen Kulturleben bekunde, ist hinfällig, sobald man gewahrt, dass diese Beteiligung über die Grenzen der alltäglichen Routine spekulativmerkantiler Tätigkeit nicht hinausreicht. Wo hat sich der Unternehmungsgeist und das Kapital der Börse, unserer großen Sanken, das große Privatkapital Einzelner koloniale Unternehmungen, durch Ausführung großer technischer Kulturwerke ersten Ranges, wie wir deren oben gedachten, betätigt? Und soweit dies ausnahmsweise der Fall gewesen, ist es in Verbindung mit ausländischen Unternehmern, im Dienste ausländischer Interessen geschehen. Während die englischen, ja sogar die französischen und belgischen Banken mit den großen überseeischen Märkten in unmittelbarer Verbindung durch ihre Filialen und Kartellbanken stehen, ist es uns bis jetzt noch nicht gelungen, für australische und viele der südamerikanischen Hauptplätze direkte Bankbeziehungen herzustellen, und die englische Vermittlung ist zur Zeit noch unentbehrlich. Es ist eine wenig erfreuliche Tatsache, dass die 1870/71 von den deutschen Kriegsschiffen in den chinesischen Häfen entnommenen Kredite durch Vermittlung dortiger französischer Geldinstitute realisiert werden mussten! Dass unter solchen Verhältnissen der auf die Erwerbung überseeischer Absatzgebiete bedachte Unternehmungsgeist der deutschen Industriellen niedergehalten wird, bedarf keines weiteren Kommentars.“
Für die koloniale Ausbreitung traten nur einige Hamburger und Bremer Firmen ein, die Niederlassungen an der Westküste Afrikas und in der Südsee besaßen. Sie suchten die Regierung dafür zu gewinnen, ihren Handel zu unterstützen; denn sie wussten, dass die Regierung, einmal in ihre Händel hineingezogen, nicht mehr imstande sein würde, die Finger von ihnen zu lassen.
Bismarck [16] stand den Fragen der kapitalistischen Kolonialpolitik keinesfalls so fremd gegenüber, wie das oft behauptet wird. Schon sein durch den Sieg über Frankreich stark gehobenes Machtgefühl spornte ihn an, den anderen kapitalistischen Staaten auf diesem Gebiete nachzuahmen. Natürlich konnte mangels einer kolonialen Tradition in Deutschland, angesichts der Gleichgültigkeit des größten Teils des Bürgertums gegenüber den Kolonialunternehmungen und der noch größeren Verständnislosigkeit des Junkertums für eine so ausgesprochene kapitalistische Politik, wie die Kolonialpolitik, keine Rede sein von einem zielbewussten, weitblickenden Eintreten Deutschlands in die Bahnen der Kolonialpolitik. In der ersten Zeit nach der Reichsgründung konnte auch schon deshalb keine Rede davon sein, weil die auswärtige Politik [17] die Aufmerksamkeit Bismarcks in Europa festhielt. Die Verschiebungen in den Mächteverhältnissen, die der Gründung des Deutschen Reiches auf dem Fuße folgten, waren so groß, dass der Wunsch, Deutschlands internationale Lage zu stärken und sich die Errungenschaften des Sieges vom Jahre 1871 zu sichern, den ersten Platz in der Politik Bismarcks einnahm. Nach dem Frankfurter Frieden erblickte Russland auf einmal an seiner Westgrenze an Stelle des schwachen zerklüfteten Deutschland das durch Blut und Eisen geeinigte starke Reich; Frankreich aber war schwächer, als es den Interessen des Moskowiterreiches entsprach. Als Deutschland auf dem Berliner Kongress dem Zarismus nicht ohne jeden Vorbehalt die Stange halten wollte – Bismarck forderte zwar nur, dass Russland ihm offen seine Wünsche klarlege, damit er sie ihm nicht von den Augen abzulesen brauche –, da verbarg die russische Regierung ihren Groll nicht. Sie verstieg sich zu direkten Drohungen an die Adresse ihrer bisherigen Berliner Mamelucken: wenn Deutschland nicht ohne Widerrede die russischen Forderungen in der Orientfrage unterstützte, drohte sie Feindschaft an auf Leben und Tod. Das erklärte der Zar brüsk in einem Briefe an den Kaiser. Bismarck fürchtete, es könnte zu einem Bündnis zwischen Russland und Frankreich kommen, das bei der noch blutenden elsass-lothringischen Wunde zu einem Revanchekrieg führen könnte. Auch Österreichs Haltung bereitete ihm Sorge. Das vor Deutschland geheimgehaltene Reichsstädter Abkommen, in dem Russland noch vor dem Türkisch-Russischen Kriege seine Zustimmung zur Einverleibung Bosniens und Herzegowinas durch Österreich, als Preis für die österreichische Neutralität während des bevorstehenden Krieges gab, weckte in Bismarck die Furcht, es könnte auch zu einem Einverständnis zwischen Österreich und Russland über die Balkanfrage kommen, durch das Österreich im Bunde mit Russland und Frankreich die Scharte von Königgrätz auszuwetzen in der Lage sein würde. Von bösen Träumen, Koalitionsträumen, geplagt, um das Wort Schuwalows zu gebrauchen, entschied sich Bismarck gegen das Bündnis mit Russland, das Deutschland mit der ganzen Welt verfeinden und es Russland auf Gnade und Ungnade ausliefern würde. Nachdem er über die Bündnisfrage bald nach dem Frankfurter Frieden in Wien sondiert hatte und der Einwilligung Österreichs gewiss war, musste er noch den starken Widerstand niederringen, den der „Heldengreis“ einer Abkehr von Russland entgegenstellte. Die Familieninteressen – Kaiser Wilhelm war Oheim des Zaren –, der felsenfeste Glaube, dass nur die russische Knute für das Hohenzollernsche Gottesgnadentum in schlechten Zeiten Hilfe gewähren könnte, die höllische Angst vor der Macht des Zarismus, machten den Kaiser so widerspenstig, dass er sich seine Zustimmung nur durch die Rücktrittsdrohung des ganzen Kabinetts abringen ließ. Nachdem der Widerstand des Kaisers gebrochen war, stand nichts mehr dem Bündnis im Wege. Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, obwohl überhaupt nicht befragt, äußerten lärmend ihr Einverständnis; in Österreich regte sich nur ein schwacher Unwille bei den slawischen Parteien; die Furcht vor den Machinationen Russlands in Ostgalizien, vor einem Zusammenstoß mit ihm auf dem Balkan, war für die österreichische Regierung ausschlaggebend.
So entstand der österreichisch-deutsche Bund als Abwehrvertrag gegen Russland. Die beiden Mächte gelobten sich Hilfe für den Fall, dass eine von ihnen durch Russland angegriffen, oder dass Russland einem dritten, sie angreifenden Staate seine Hilfe leihen würde. Deutschland wollte die Unterstützungspflicht auch auf den Fall eines französischen Angriffs ausdehnen, aber dafür war Österreich nicht zu haben.
Diesem Bündnis schloss sich nach langen Vorberatungen auch Italien an, obwohl bei ihm der Gegensatz zu Österreich wegen Welschtirol und Triest vorhanden war. Aber andere wichtige Momente bewirkten, dass das soeben erst geeinigte, mit Frankreich verfeindete Italien sich dem Bunde anschloss: es war die römische und die tunesische Frage.
Unter dem Einfluss der Klerikalen war Napoleon III. als Verteidiger der weltlichen Macht des Papstes aufgetreten. Als nach der Niederwerfung der Kommune in Frankreich die schwärzeste Reaktion ans Ruder kam, schien sie einen Kreuzzug gegen Italien wegen der Einverleibung Roms in das italienische Reich vorzubereiten. Dies verursachte noch vor dem Berliner Kongress eine Annäherung Italiens an Österreich und Deutschland. Victor Emanuel reiste 1873 nach Wien und Berlin. Obwohl die auf dem Berliner Kongress beschlossene Angliederung Bosniens und Herzegowinas an Österreich, bei der Italien keine „Entschädigung“ bekam, Italiens Beitritt zum Dreibund im Jahre 1879 noch nicht perfekt werden ließ, so sorgte die damals neueinsetzende koloniale Betätigung Frankreichs dafür, dass der Beitritt Italiens nicht lange mehr auf sich warten ließ. Im geheimen Einvernehmen mit England – es war die Entschädigung für die Einnahme Zyperns durch England – und mit Deutschland – Bismarck sah gerne zu, dass Frankreich seine Kräfte außerhalb Europas beschäftigte, weil ihm dann keine für den Revanchekrieg übrig blieben – riss Frankreich Tunis an sich, auf das Italien schon lange Hoffnungen gesetzt hatte. Die außerordentliche Entrüstung der italienischen Bourgeoisie und der Militärkreise führte Italien endgültig dem Bunde zu. Sein Beitritt sicherte das Land vor Österreich und gab ihm die Unterstützung Deutschlands gegen Frankreich. So entstand der Dreibund.
Obwohl er die größten Befürchtungen Bismarcks bannte, blieb jedoch auch ferner das Hauptinteresse der auswärtigen Politik des Deutschen Reiches an den Mächteverhältnissen in Europa haften. Jedenfalls hatte Bismarck in größerem Maße als früher freie Hand auch für die koloniale Ausbreitung. Er wusste jedoch gut, dass Kolonialpolitik in erster Linie Geschäft ist, und dass sich kapitalistische Geschäfte ohne den Willen der Bourgeoisie überhaupt nicht machen lassen. „Um eine überseeische Politik mit Erfolg treiben zu können, muss jede Regierung in ihrem Parlament, soweit sie von ihm abhängig ist, soweit sie eine konstitutionelle Regierung ist, eine im nationalen Sinne geschlossene Majorität, eine Majorität, die nicht von der augenblicklichen Verstimmung einzelner Parteien abhängt, hinter sich haben. Ohne eine solche Reserve im Hintergrunde können wir keine Kolonialpolitik und keine überseeische Politik treiben,“ so führte er im Jahre 1884 bei der Einbringung der Dampfer-Subventionsvorlage im Reichstage aus. Dass aber die Mehrheit der deutschen Bourgeoisie in ihrem Herzen noch keine Kolonialfreundlichkeit gefunden hatte, zeigte ihm die Haltung des Reichstags in der Samoafrage. Als im Jahre 1880 das Hamburger Handelshaus Godeffroy, das in der Südsee Handel und Plantagenbau trieb, in Bedrängnis geraten war und eine Aktiengesellschaft seine Interessen nur unter der Bedingung übernehmen wollte, dass die Regierung die Zinsgarantie gewährte, war Bismarck bereit, das zu tun, damit „der deutsche Name“ durch den Untergang des Geschäftes nicht in schlechten Ruf gerate. Gegen die Stimmen der Junker, die immer dafür zu haben waren, wenn aus den Taschen des Volkes Parasiten gemästet werden sollten, und gegen einen Teil der Nationalliberalen, lehnte die Mehrheit des Reichstages, bestehend aus Freisinnigen, Zentrum, einem Teil der Nationalliberalen und den Sozialdemokraten, die Vorlage der Regierung ab, die der Aktiengesellschaft eine 3-4 prozentige Zinsgarantie geben wollte. Noch vier Jahre später hat Bismarck erklärt: „Ich bin durch die Niederlage der Regierung in der Samoafrage lange Zeit abgehalten worden, etwas Ähnliches wieder vorzubringen.“ Das entsprach aber nicht den Tatsachen: als er diese Worte sprach, befand sich sein kleiner Finger schon in den Krallen des kolonialen Teufels, der bald auch seine Hand umklammern sollte, obwohl die damaligen Interessen des deutschen Kapitals der Kolonien nicht benötigten und die auswärtige Lage des Reiches noch nicht ganz gefestigt war.
Wie schon erwähnt, standen Bremer und Hamburger Firmen in Handelsbeziehungen zu Westafrika. Deutsche Missionare hatten in Südwestafrika seit den sechziger Jahren gewirkt und den Boden für das deutsche Handelskapital vorbereitet. Das nützte die Bremer Firma Lüderitz aus, um dort eine Handelsfaktorei zu gründen. Sie kaufte von einem Eingeborenenhäuptling einen Landstrich an – der Küste von Angra Pequena im Umfange von 900 deutschen Quadratmeilen. Die Regierung gewährte Lüderitz unter der Bedingung Schutz, dass seine Kaufrechte weder gegen die Eingeborenenrechte noch gegen die begründeten Ansprüche irgend einer Macht verstießen. Zu gleicher Zeit wandte sie sich an die englische Regierung mit der Anfrage, ob diese Anspruch auf die von Lüderitz gekauften Gebiete erhebe. Die englische Regierung antwortete, sie habe zwar keine Herrschaftsrechte in diesen Gebieten, aber sie erhebe auf die Küste zwischen der Kapkolonie und der portugiesischen Kolonie Angola Anspruch.
Da Bismarck diese Antwort als völkerrechtlich unbegründet und als Beweis ansah, dass England auch in der Zukunft der kolonialen Ausbreitung Deutschlands Schwierigkeiten bereiten wollte, hielt er es für nicht vereinbar mit der Machtposition, die das Deutsche Reich seit dem Deutsch-Französischen Kriege eingenommen hatte, und telegraphierte am 24. April des Jahres 1884 – welcher Tag also als Tag der Gründung der deutschen Kolonialpolitik gelten kann – an den deutschen Konsul in Kapstadt, dass die Erwerbungen von Lüderitz unter deutschem Schutz ständen, worauf die deutsche Flagge in Südwestafrika gehißt wurde. England gab nach und ermutigte dadurch Bismarck zum weiteren Zugreifen. Dies schien ihm um so angezeigter, als der russisch-englische Gegensatz in Mittelasien Englands Widerstandskraft gegenüber den kolonialen Gelüsten Deutschlands schwächte, während bei der weiteren Verzögerung der Kolonialerwerbungen damit zu rechnen war, dass in der nächsten Zukunft nichts mehr zu besetzen sein würde. Bismarck begnügte sich nicht mit Südwestafrika. Er nützte die Tatsache aus, dass sich in Kamerun und Togo einige deutsche Handelsniederlassungen befanden und dass deutsche Missionare dort die schwarzen Seelen für Gott und das Kapital bearbeiteten. Er wartete nicht mehr, bis sich die Firmen an die Regierung wandten, sondern spornte die Firmen Woermann, Jantzen, Thorwaldten zum Abschluss von Verträgen mit den Häuptlingen an der Küste Togos und Kameruns an. Nachdem dies geschehen war, wurde auch hier die deutsche Flagge gehißt. Das Vorgehen Bismarcks ermutigte schneidige Abenteurernaturen, und so gründete Karl Peters, der in London die englische Kolonialpolitik studiert hatte, eine Deutschostafrikanische Gesellschaft die an der Küste Ostafrikas von den Häuptlingen 2500 deutsche Quadratmeilen Land kaufte und erschacherte. Ähnlich ging es in Neuguinea zu, wo die „Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft“ und die Hamburger Firma Hernsheim Fuß gefasst hatten. Einmal im Sattel, ritt Bismarck auch hier einen scharfen Trab. Der Widerstand Englands reizte ihn, und er gewährte auch diesen Privatunternehmungen Schutz für ihre territorialen Erwerbungen.
Die hier kurz skizzierte Geschichte der Erwerbung der deutschen Kolonien [18] zeigt, dass sie von keinen größeren ökonomischen Interessen getrieben worden ist. Eine kleine Schicht von Kapitalisten ging dem ihr winkenden Profit in weiten Ländern nach. Sie dachte nicht an die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands, nicht an alle schönen Argumente, die jetzt von den Verfechtern der Kolonialpolitik ins Feld geführt werden. Da in dieser Zeit Frankreich und England in größerem Umfange Kolonialpolitik zu treiben begannen, fürchtete die deutsche Regierung, das deutsche Kapital würde, wenn es einmal Lust an Kolonialpolitik gewinnen sollte, keinen Happen mehr abbekommen. Sie griff also zu, planlos, ziellos, wo auch nur die kleinsten wirtschaftlichen Interessen des deutschen Kapitals ihrem Vorgehen einen Schein der Berechtigung lieferten. Und das Bürgertum, das anfangs keine Lust verspürte, sich in koloniale Nesseln zu setzen, stimmte in seiner Mehrheit dieser Politik zu. Den Vertretern des Großkapitals, den Nationalliberalen, leuchtete es ein, dass gewisse Elemente unter ihnen aus dieser Politik große Profite herausschlagen würden; das Zentrum sah in den Kolonien ein neues Gebiet für die Betätigung der Klerisei; den Konservativen winkten Beamtenstellen für ihre Söhne. Weitere Kreise der Bourgeoisie, die damals absolut kein Interesse an den Kolonien haften, wurden für diese Einschwenkung in das Fahrwasser der Kolonialpolitik eingefangen durch eine rührige Propaganda, die seit einigen Jahren von einer Schar Ideologen, wie Fabri, Janasch, Hübde-Schleiden, getrieben wurde; das Bild der Reichtümer, die England aus seinen Kolonien herausholte, das Bild der Verluste an Menschen und Kapital, welches von der damals so massenhaften deutschen Auswanderung verursacht wurde, verfehlten ihre Wirkung nicht, um so mehr, als der nationale Katzenjammer, der angesichts der Fruchtlosigkeit des Sozialistengesetzes und des Kulturkampfes die Bourgeoisie ergriffen hatte, eine „nationale“ Anspornung erforderte, wie sie von dem Trugbild der kolonialen Ausbreitung geliefert wurde. Wie unvorbereitet aber die Regierung für die übernommenen Aufgaben war, geht aus dem Standpunkt hervor, den Bismarck am 26. Juni 1884 im Reichstag vertrat: „Den Interessenten der Kolonie soll das Regieren derselben überlassen und ihnen, nur für Europäer, die Möglichkeit europäischer Jurisdiktion und desjenigen Schutzes gewährt werden, den wir ohne stehende Garnison leisten können. Ein Vertreter des Reiches, ein Konsul, wird die Autorität des Reiches wahren und Beschwerden entgegennehmen; Handelsgerichte werden weitere Streitigkeiten entscheiden. Nicht Provinzen sollen gegründet werden, sondern Unternehmungen mit einer Souveränität welche dem Reiche lehnbar bleibt; ihre Fortbildung bleibt im wesentlichen den Unternehmern überlassen.“
Aber schon die nächsten Jahre zeigten, dass die Logik der Ereignisse größer war, als die Voraussicht der deutschen Regierung. In Südwestafrika sollten die Hoheitsrechte auf die „Deutsche Gesellschaft für Südwestafrika“ übergehen, die aus eigenen Mitteln eine Truppe zu unterhalten die Pflicht hatte. Aber die Gesellschaft wollte die entsprechenden Kosten nicht tragen, und so wurde die Verwaltung vom Reiche übernommen. In Ostafrika brach im Jahre 1888 ein Aufstand der Eingeborenen aus, die durch die Erhebung der Zölle gereizt waren, und das Reich musste alsbald mit Marine und Landtruppen eingreifen. Es verausgabte bis zum Jahre 1891 834 Millionen Mark für die Niederwerfung des Aufstandes, worauf es auch diese Kolonie in eigene Verwaltung übernahm. Ähnlich ging es in Kamerun zu; und auch in den Kolonien, wo es zunächst zu keinen Aufständen kam, zeigte es sich, dass die privaten Gesellschaften weder die Lust noch die Möglichkeit hatten, die großen Kosten der Aufpfropfung eines staatlichen Mechanismus auf die primitiven Verhältnisse der unterjochten Völker zu tragen. Im Jahre 1895 gestand auch der Direktor der Kolonialverwaltung, Kayser, dem Reichstag, dass der bismarcksche Plan der Kolonialpolitik Bankrott erliften habe.
„Wir haben die Erfahrung gemacht“, führte er am 28. März 1895 aus, „dass die Zeit der privilegierten Kompagnien vorüber ist, und wir dürfen es heute wohl auch aussprechen, dass wir uns beim Beginn unserer Kolonialpolitik in einem großen Irrtum befunden haben, wenn wir annahmen, dass die Kompagnie, eine Privatgesellschaft, in der Lage sein könnte, staatliche Hoheitsrechte auszuüben. Heutzutage verlangen wir ja auch in den unzivilisierten Ländern und auch in unseren Schutzgebieten schon eine Art staatlicher Organisation mit einem gewissen Rechtsschutz, der unmöglich von einer Privatgesellschaft im vollen Umfange gewährt werden kann.“
Der Art, wie Deutschland zu seinen Kolonien kam, entsprach naturgemäß ihre Entwicklung. Nur da, wo das Kapital stürmisch Anlagesphären, Absatzgebiete heischt, nur da, wo es durch die Arbeit langer Jahre den Boden für seine zukünftige Kolonie vorbereitet, besteht die Möglichkeit des kolonialen Aufschwungs, natürlich, sofern die natürlichen Verhältnisse es erlauben. In den deutschen Kolonien fehlten alle diese Entwicklungsfaktoren. Mit Ausnahme Südwestafrikas handelte es sich um tropische Kolonien, in denen der dauernde Aufenthalt für Europäer nur auf einzelnen Hochebenen möglich war. Das Fehlen von schiffbaren Flüssen fast in allen Kolonien erschwerte ihr Durchdringen. Der sehr niedrige Entwicklungsgrad ihrer Einwohner eröffnete nur geringe Aussichten für den Handelsverkehr. Wollte die Regierung bei diesen Verhältnissen noch andere Ansiedler als Beamte und Schutztruppen in die Kolonien bringen, so musste sie dem Kapital Vorrechte [19] geben, die ihm die Kolonien direkt auslieferten. Der Neu-Guinea-Kompagnie würde im Jahre 1885 das ausschließliche Recht verliehen, in dem Schutzgebiete „herrenloses“ Land in Besitz zu nehmen und darüber zu verfügen, sowie Verträge mit den Eingeborenen über Land und Grundberechtigungen abzuschließen. Dasselbe Monopolrecht bekam die Deutsch- Ostafrikanische Gesellschaft. Selbst als die Hoheitsrechte dieser Gesellschaft im Jahre 1890 auf die Regierung übergingen, wurde ihr ein weitgehendes Bodenmonopol verliehen. Erst im Jahre 1902 entäußerte sie sich dieser Vorrechte, die selbst nach amtlichem Urteil die Entwicklung des Schutzgebietes verhinderten. Ähnlich verhielt es sich mit dem Bergbau-Monopol in Südwestafrika. An fünf Gesellschaften wurden in Südwestafrika 32 Prozent des Gesamtflächeninhalts dieser Kolonie abgetreten. Selbst angenommen, dass dieser Boden wirklich unbewohnt war, was für einen großen Teil gar nicht zutrifft, selbst davon abgesehen, dass der Boden der Schwarzen verschenkt wurde von den offiziellen Verfechtern des Eigentums, so genügt nur daran zu erinnern, dass Südwestafrika das einzige Land ist, das sich für die Ansiedlung einer größeren Masse von Kolonisten irgendwie eignet. (Der bekannte blutige Kolonialpolitiker Peters [20] schätzt die Aufnahmefähigkeit dieser Kolonie auf 100.000 Kolonisten.) Angesichts dessen bedeutete diese Politik eine Besteuerung aller Ansiedler, die in Südwestafrika Farmen anlegen wollen, zugunsten der hinter der Kolonialgesellschaft stehenden Berliner Banken. Die Kolonialgesellschaften nahmen die ihnen gemachten Millionengeschenke an, aber es fiel ihnen nicht ein, das Land zu erschließen. Sie forderten, dass ihnen der Staat mit dem Bahnbau vorangehe, ohne den in den Kolonien überhaupt nichts zu erreichen sei. So blieben denn die Kolonien in einem Zustande der Stagnation und waren weder als Rohstoffland noch als Absatzgebiet von irgend welchem Wert für die deutsche Industrie. Eine spärliche Anzahl von Farmern, die in ihnen Glück suchten, einige Handelsfaktoreien, die die Eingeborenen mit Schnaps und Waffen versorgten, aus Deutschland eingeführte Assessoren, die die preußische Kunst der Bevormundung aller hier einzuführen suchten, eine Handvoll Offiziere und Missionäre – das waren die glorreichen Pioniere der deutschen Kolonialpolitik. Die Frucht eines vom Baume des deutschen Kapitalismus zu früh abgebrochenen Zweiges, der, auf einen unfruchtbaren Boden verpflanzt, seine Kräfte nicht entfalten konnte, waren die deutschen Kolonien vom ersten Tage ihrer Gründung an wurmstichig. Nur eine Pflanze schoss üppig in den deutschen Kolonien hervor: die Pflanze der Verrohung. Jener Beamte Leist, der im Jahre 1894 in Kamerun durch seine Barbareien Aufstände der Eingeborenen provozierte, sein Nachfolger, der Assessor Wehlau der Leute für Diebstahl mit dem Tode bestrafte, Peters, der seine schwarze Geliebte aufknüpfen ließ – diese in kurzer Zeit aufeinander folgenden Kolonialskandale zeigten deutlicher als der gänzliche Stillstand der Kolonien, dass die deutsche Kolonialpolitik nur die Ausbeutung und Unterdrückung verstärkt hat. Von einer Entfaltung der Produktivkräfte in den Kolonien war keine Rede. Was Wunder also, wenn selbst in den kapitalistischen Kreisen, die an der Misswirtschaft in den Kolonien nicht direkt interessiert waren, in dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts keine Kolonialfreundlichkeit herrschte?
Nächstes Kapitel
Im Fahrwasser des Imperialismus
15. Deutsche Aufgaben in der Gegenwart in, Roschers Kolonien, S.371, Leipzig 1885.
16. Otto Ernst Reventlow: Was würde Bismarck sagen, Berlin 1909, S.13-31.
17. Bismarck: Gedanken und Erinnerungen, Bd.2, S.239-287. Cottaische Ausgabe 1909.
18. M. Koschitzky, Deutsche Kolonialgeschichte, Leipzig 1887, 2 Bände.
19. Köbner: Einleitung in die Kolonialpolitik, Jena, Fischer 1909, S.210-224. Dr. A. Zimmermann: Kolonialpolitik, 1905, S.361-65.
20. Karl Peters: Zur Weltpolitik, Berlin 1911, Verlag Sigismund, S.154.
Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008