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Durch jede Norm des positiven Rechts wird ein bestimmtes Interesse. geschützt. Woher kommen die Interessen? Sind sie ein Produkt des menschlichen Willens und des menschlichen Bewußtseins? Nein, sie werden durch die ökonomischen Beziehungen der Menschen geschaffen. Einmal entstanden, widerspiegeln sich die Interessen in dieser oder jener Form im Bewußtsein der Menschen. Um ein bestimmtes Interesse zu schützen, muß man sich seiner bewußt werden. Deshalb kann und soll man jedes System des positiven Rechts als Produkt des Bewußtseins betrachten. [1] Nicht durch das Bewußtsein der Menschen werden die Interessen ins Leben gerufen, die durch das Recht geschützt werden, folglich wird der Inhalt des Rechtes nicht durch das menschliche Bewußtsein bestimmt; sondern durch den Zustand des gesellschaftlichen Bewußtseins (der gesellschaftlichen Mentalität) in der gegebenen Epoche wird diejenige Form bestimmt, die die Widerspiegelung des gegebenen Interesses in den Köpfen der Menschen annehmen wird. Ohne den Zustand des gesellschaftlichen Bewußtseins zu berücksichtigen, könnten wir uns die Geschichte des Rechtes absolut nicht erklären.
In der Geschichte des Rechtes muß stets die Form sorgfältig vom Inhalt unterschieden werden. Von der formalen Seite aus erfährt das Recht, genau so wie alle anderen Ideologien, den Einfluß aller oder zumindest gewisser anderer Ideologien: der religiösen Anschauungen, der philosophischen Begriffe u.a. Allein dieser Umstand macht es bis zu einem gewissen – mitunter sehr hohen – Grade schwierig, den Zusammenhang aufzudecken, der zwischen den Rechtsbegriff en der Menschen. und ihren gegenseitigen Beziehungen im gesellschaftlichen Produktionsprozeß besteht. Aber das wäre nur halb so schlimm. [2]
Wirklich schlimm ist aber, daß auf den verschiedene Stufen der gesellschasftlichen Entwicklung jede gegebene Ideologie in sehr ungleichem Maße den Einfluß der anderen Ideologien erfährt. So war das alte ägyptische und zum Teil auch das römische Recht der Religion untergeordnet; in der neuesten Geschichte hat sich das Recht (wir wiederholen und bitten, es nicht zu vergessen: formal gesehen) unter dein starken Einfluß der Philosophie entwickelt. Um den Einfluß der Religion auf das Recht auszuschalten und ihn durch ihren eigenen Einfluß zu ersetzen, mußte die Philosophie einen harten Kampf bestehen. Dieser Kampf war bloß die ideelle Widerspiegelung des gesellschaftlichen Kampfes des dritten Standes gegen die Geistlichkeit, aber dieser Kampf erschwerte dennoch in hohem Grade die Ausarbeitung von richtigen Anschauungen über den Ursprung der Rechtseinrichtungen, da sie infolge dieses Kampfes ein offenkundiges und unzweifelhaftes Produkt des Kampfes abstrakter Begriffe zu sein schien. Im allgemeinen gesprochen, versteht natürlich Labriola ausgezeichnet; welcher Art faktische Beziehungen hinter diesem Kampf der Begriffe stecken. Sobald aber von Einzelheiten die Rede ist, streckt er vor der Schwierigkeit der Frage seine materialistischen Waffen und hält es, wie wir gesehen haben, für möglich, sich auf einen Hinweis auf die Unwissenheit oder die Macht der Traditionen zu beschränken. Außerdem nennt er noch den „Symbolismus“ als letzte Ursache vieler Bräuche.
Der Symbolismus ist in der Tat ein nicht geringfügiger „Faktor“ in der Geschichte gewisser Ideologien. Als letzte Ursache der Bräuche ist er aber nicht zu verwenden. Nehmen wir ein solches Beispiel. Bei dem kaukasischen Stamm der Ishawen schneidet sich die Frau den Zopf ab, wenn ihr Bruder stirbt, tut es aber beim Tode ihres Mannes nicht. Das Haarabschneiden ist eine symbolische Handlung, die eine noch ältere Sitte der Selbstopferung auf dem Grabe des Verstorbenen abgelöst hat. Warum begeht aber die Frau diese symbolische Handlung am Grabe ihres Bruders und nicht am Grabe ihres Mannes? Laut Behauptung des Herrn M. Kowalewski muß man in diesem Brauch ein Überbleibsel der längst vergangenen Epoche sehen, da der älteste Verwandte mütterlicherseits der nächste Kognat, das Haupt der Gens war, die durch ihre wirkliche oder scheinbare Abstammung von der Stammutter verbunden war. [3] Daraus folgt, daß die symbolischen Handlungen nur dann verständlich werden, wenn wir Sinn und Ursprung der durch sie versinnbildlichten Beziehungen verstehen. Woher kommen diese Beziehungen? Die Antwort auf diese Frage ist natürlich nicht in den symbolischen Handlungen zu suchen, obwohl diese mitunter auch manche nützliche Fingerzeige geben können. Der Ursprung des symbolischen Brauchs des Haarabschneidens am Grabe des Bruders ist aus der Geschichte der Familie zu erklären, eine Erklärung der Geschichte der Familie ist aber in der Geschichte der ökonomischen Entwicklung zu suchen.
In dem Fall, der unser Interesse hervorgerufen hat, hat der Ritus des Haarabschneidens am Grabe des Bruders die Form der Familienbeziehungen überlebt, der er seine Entstehung verdankt. Da haben Sie ein Beispiel für den Einfluß der Tradition, auf die Labriola in seinem Buche hinweist. Die Tradition kann aber nur das erhalten, was schon existiert. Sie erklärt nicht den Ursprung des betreffenden Ritus oder der betreffenden Form überhaupt, ja nicht einmal ihre Erhaltung. Die Kraft der Tradition ist eine Kraft der Trägheit. In der Geschichte der Ideologien muß man sich häufig fragen, warum der betreffende Ritus oder Brauch sich erhalten hat, trotzdem bereits nicht nur die Beziehungen, die ihn hervorgerufen hatten, sondern auch andere, ihnen verwandte Bräuche oder Zeremonien, die durch diese Beziehungen erzeugt wurden, verschwunden sind. Diese Frage ist gleichbedeutend mit der Frage, warum die zerstörende Einwirkung der neuen Beziehungen gerade diese Zeremonie oder diesen Brauch verschont, die anderen aber beseitigt hat. Diese Frage mit einem Hinweis auf die Macht der Tradition beantworten, heißt sich auf eine Wiederholung der Frage in bejahender Form beschränken. Wie kann dem abgeholfen werden? Es ist notwendig, sich der gesellschaftlichen Psychologie zuzuwenden.
Die alten Bräuche verschwinden dann, die alten Riten werden dann gebrochen, wenn die Menschen in neue Beziehungen zueinander treten. Der Kampf der gesellschaftlichen Interessen findet seinen Ausdruck in der Form des Kampfes der neuen Bräuche und Riten gegen die alten. Kein symbolischer Ritus oder Brauch, an sich genommen, kann die Entwicklung der neuen Beziehungen weder im positiven noch im negativen Sinne beeinflussen. Wenn die „Hüter“ leidenschaftlich für die alten Bräuche eintreten, so deshalb, weil in ihren Köpfen die Vorstellung von den für sie vorteilhaften, liebgewordenen und gewohnten gesellschaftlichen Einrichtungen sich aufs engste mit der Vorstellung von diesen Bräuchen verbindet (assoziiert). Wenn die Neuerer diese Bräuche hassen und verspotten, so deshalb, weil in ihren Köpfen die Vorstellung von diesen Bräuchen sich mit der Vorstellung von den für sie hemmenden, ungünstigen und unangenehmen gesellschaftlichen Beziehungen assoziiert. Folglich handelt es sich hier nur um eine Ideen-Assoziation. Wenn wir sehen, daß irgendein feierlicher Brauch nicht nur die Beziehungen überlebt hat, die ihn erzeugt hatten, sondern auch die ihm verwandten Bräuche, die durch dieselben Beziehungen hervorgerufen waren, so müssen wir die Schlußfolgerung ziehen, daß in den Köpfen der Neuerer die Vorstellung von ihm nicht so stark verbunden war mit der Vorstellung von der verhaßten Vergangenheit, wie die Vorstellung von anderen Bräuchen. Warum nicht so stark? Auf diese Frage zu antworten, ist es manchmal leicht, mitunter aber ganz unmöglich, da die notwendigen psychologischen Angaben fehlen. Aber selbst in den Fällen, wo wir uns gezwungen sehen, diese Frage, zumindest bei dem heutigen Stand unserer Kenntnisse, als unlösbar zu betrachten, müssen wir dessen eingedenk sein, daß es sich hier nicht um die Macht der Tradition handelt, sondern um gewisse Ideen-Assoziationen, die durch gewisse tatsächliche Beziehungen der Menschen in der Gesellschaft hervorgerufen sind.
Aus der Entstehung, Veränderung und Zerstörung der Ideen-Assoziationen unter dem Einfluß der Entstehung, Veränderung und Zerstörung gewisser Kombinationen der gesellschaftlichen Kräfte erklärt sich in hohem Grade die Geschichte der Ideologien. Labriola hat dieser Seite der Frage nicht die Beachtung geschenkt, die sie verdient. Das kommt in seiner Auffassung von der Philosophie klar zum Ausdruck.
1. „Das Recht ist nicht etwa wie die sogenannten physischen, die Naturkräfte, etwas, was außerhalb der Handlungen des Menschen existiert ... Im Gegenteil, das ist die Ordnung, die die Menschen für sich selbst geschaffen haben. Ob sich der Mensch in seiner Tätigkeit dem Gesetz der Kausalität unterwirft, oder frei, willkürlich handelt – das ist für die betreffende Frage gleichgültig. Wie dem auch sei, nach dem Gesetz der Kausalität und dem Gesetz der Freiheit entsteht das Recht dennoch nicht außerhalb der menschlichen Tätigkeit, sondern im Gegenteil ausschließlich durch die Vermittlung des Menschen.“ (N.M. Korkunow, Vorlesungen über die allgemeine Rechtstheorie, Petersburg 1894, S.279.) Das ist durchaus richtig, wenn auch recht mangelhaft ausgedrückt. Herr Korkunow hat aber vergessen hinzuzufügen, daß die vom Recht beschützten Interessen von den Menschen nicht aus freien Stücken geschaffen werden, sondern durch ihre gegenseitigen Beziehungen im gesellschaftlichen Produktionsprozeß bestimmt werden.
2. Obwohl sich auch das sehr ungünstig auswirkt, z.B. sogar auf solche Werke wie Gesetz und Brauch im Kaukasus des Herrn Kowalewski. Herr M. Kowalewski betrachtet dort oft das Recht als Produkt der religiösen Anschauungen. Die richtige Forschungsmethiode wäre eine Andere: Herr Kowalewski hätte sowohl die religiösen Anschauungen als, auch die Rechtseinrichtungen der kaukasischen Völker als Produkt ihrer gesellschaftlichen Beziehungen im Produktionsprozeß betrachten sollen; und nach Feststellung des Einflusses der einen Ideologie auf die andere hätte er versuchen sollen, die einzige Ursache dieses Einflusses zu finden. Herr Kowalewski hätte offensichtlich diese Art der Untersuchung um so eher akzeptieren sollen, als er selbst in seinen anderen Werken kategorisch die kausale Abhängigkeit der Rechtsnormen von den Produktionsmethoden anerkennt.
3. Gesetz und Brauch im Kaukasus, Bd.II, S.75.
Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008