Georgi Plechanow/h4>

Beiträge zur Geschichte des Materialismus
Holbach – Hélvetius – Marx

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Vorwort

Durch die drei Studien, die ich der Kritik des deutschen Lesers unterbreite, möchte ich zum Verständnis und zur Erklärung der materialistischen Geschichtsauffassung von Karl Marx beitragen, die eine der größten Errungenschaften des theoretischen Denkens des 19. Jahrhunderts ist.

Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass mein Beitrag sehr bescheiden ist. Wollte man den vollen Wert und die ganze Tragweite der genannten Geschichtsauffassung klar nachweisen, so müsste man eine vollständige Geschichte des Materialismus schreiben. Da es mir unmöglich ist, dies zu tun, habe ich mich darauf beschränken müssen, durch besondere Monographien den französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts mit dem modernen Materialismus zu vergleichen.

Von den Vertretern des französischen Materialismus habe ich Holbach und Helvétius gewählt, die meines Erachtens in vielfacher Hinsicht höchst bedeutende Denker und bis auf unsere Tage noch nicht genügend gewürdigt worden sind.

Man hat Helvétius oft widerlegt und verleumdet, aber man hat sich nicht die Mühe gegeben, ihn zu verstehen. Bei der Darstellung und Kritik seiner Werke arbeitete ich, um den Ausdruck zu gebrauchen, auf jungfräulichem Boden. Als Fingerzeige konnten mir nur wenige flüchtige Bemerkungen dienen, die ich in Hegels und Marx’ Werken fand. Nicht mir steht das Urteil darüber zu, ob ich das richtig nutzte, was mir von diesen beiden großen Meistern auf dem Gebiete der Philosophie überkommen ist.

Holbach, der als Logiker weniger kühn, als Denker weniger revolutionär war als Helvétius, galt schon zu seiner Zeit für weniger „shocking“ als der Verfasser des Buches Vom Geiste. Er erschreckte nicht so sehr wie dieser, man beurteilte ihn günstiger und war gerechter gegen ihn. Trotzdem ist auch er nur halb verstanden worden.

Eine materialistische Philosophie muss, wie jedes moderne philosophische System, eine Erklärung für zwei Klassen von Tatsachen geben: für die der Natur auf der einen Seite, für die der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit auf der anderen Seite. Die materialistischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, wenigstens jene unter ihnen, die an Locke anknüpften, besaßen ebenso gut ihre Philosophie der Geschichte wie ihre Naturphilosophie. Will man sich davon überzeugen, so braucht man ihre Werke nur mit etwas Aufmerksamkeit zu lesen. Die unbestreitbare Aufgabe der Historiker der Philosophie wäre es also gewesen, die historischen Ideen der französischen Materialisten ebenso darzulegen und zu kritisieren, wie sie ihre Naturauffassung darlegten und kritisierten. Diese Aufgabe ist nicht gelöst worden. Wenn ein Geschichtsschreiber der Philosophie zum Beispiel von Holbach spricht, so kommt für ihn gewöhnlich nur dessen Système de la Nature in Betracht, und was er aus diesem Werk in den Kreis seiner Erörterungen zieht, bezieht sich nur auf die Naturphilosophie und die Moral. Er beachtet nicht Holbachs historische Anschauungen, die sich in seinem „System der Natur“ und anderen Werken in reichster Fülle verstreut finden. Es ist daher nicht erstaunlich, dass das große Publikum von diesen Ideen auch nicht eine blasse Ahnung hat, und dass das Bild, das es sich von Holbach macht, ein durchaus unvollständiges und falsches ist. Wenn man außerdem noch in Betracht zieht, dass die Ethik der französischen Materialisten fast stets falsch interpretiert wurde, so wird man zugeben, dass an der Geschichte des französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts sehr vieles zu verbessern ist.

Dabei muss man festhalten, dass jenes sonderbare Verfahren, welches wir soeben charakterisierten, sich nicht bloß in den allgemeinen Geschichten der Philosophie findet, sondern auch in den Spezialgeschichten des Materialismus — die allerdings bis jetzt sehr wenig zahlreich sind —, wie z. B. in dem für klassisch geltenden deutschen Werk von F. A. Lange sowie in dem Buch des Franzosen Jules Soury.

Was Marx anbelangt, so genügt der Hinweis, dass weder die Historiker der Philosophie im Allgemeinen noch die des Materialismus im besonderen seine materialistische Geschichtsauffassung auch nur zu erwähnen geruhen.

Wenn ein Stab in einer Richtung gebogen wurde, so muss man ihn, um ihn wieder gerade zu bekommen, in der entgegen gesetzten Richtung biegen. In den vorliegenden „Beiträgen“ war ich gezwungen, das gleiche zu tun. Ich musste vor allem die historischen Ideen der in Frage kommenden Denker darlegen.

Vom Standpunkt der Schule aus, der anzugehören ich mir zur Ehre anrechne, „ist das Ideelle nichts anderes, als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle“. [1]. Wer von diesem Standpunkt aus die Geschichte der Ideen behandeln will, muss sich bemühen, zu erklären, wie und in welcher Weise die Ideen der oder jener Epoche durch deren soziale Zustände, das heißt in letzter Instanz durch deren wirtschaftliche Verhältnisse, erzeugt werden. Diese Erklärung zu geben, ist eine gewaltige und großartige Aufgabe, deren Lösung das Aussehen der Geschichte der Ideologien vollständig erneuern wird. Ich habe es nicht vermieden, in den vorliegenden Studien an diese Aufgabe heranzutreten. Allein ich war außerstande, ihr die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: ehe man das Warum der Entwicklung der Ideen erörtert, muss man zuerst über das Wie dieser Entwicklung im Klaren sein. Auf den Gegenstand der vorliegenden Beiträge angewendet, besagt dies nichts anderes, als dass man erst erklären kann, warum die materialistische Philosophie sich so entwickelt hat, wie wir sie bei Holbach und Helvétius im 18. und bei Marx im 19. Jahrhundert finden, wenn man genau gezeigt hat, was diese Philosophie in Wirklichkeit war, die man so oft missverstanden und sogar vollständig entstellt hat. Ehe man baut, muss man den Boden freilegen.

Noch ein Wort. Vielleicht findet man, dass ich die Erkenntnistheorie der hier betrachteten Denker nicht eingehend genug behandelt habe. Darauf muss ich erwidern, dass ich nichts unterließ, um ihre Anschauungen über diesen Punkt genau wiederzugeben. Da ich aber nicht zu den Anhängern der erkenntnistheoretischen Scholastik zähle, die gegenwärtig so in der Mode ist, so lag es nicht in meiner Absicht, eine durchaus sekundäre Frage ausführlich zu behandeln.

G. Plechanow.
Genf, Neujahr 1896.

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Anmerkung

1. Karl Marx, Nachwort zur 2. Auflage des Kapital, MEW 23, S. 27.


Zuletzt aktualiziert am 21. Mai 2025