Georgi Plechanow


N.G. Tschernischewsky



Einleitung.

Tschernischewsky’s literarische Thätigkeit fällt ungefähr in die Zeit der bekannten Reformen Alexanders II.

Die russischen Liberalen bewahren noch immer dem „Zaren-Befreier“ ein gerührtes Andenken, noch immer stimmen sie auf ihn Loblieder an, die den Zensoren des gegenwärtig regierenden Kaisers mißfallen, da dieser bekanntlich seinen Vater schier als einen Jakobiner betrachtet. – Schreiber dieses weiß sich ebenso frei von den Vorurtheilen der russischen Liberalen, als auch von einer Vorliebe für Alexander III. Er dürfte daher im Stande sein, die Reformen Alexanders II. objektiv beurtheilen.

Dreißig Jahre lang lastete auf Rußland der schwere Druck des Regierungssystems Nikolaus’ des „Unvergeßlichen“. Der Stillstand war förmlich zu einem Dogma erhoben. Alle lebendigen, alle denkenden, alle protestirenden Elemente wurden entweder im Keime vernichtet, oder gezwungen, sich bis zur Unkenntlichkeit zu vermummen ... Erst durch den Krimkrieg wurde Wandel geschaffen. Die Unhaltbarkeit des Nikolaus’schen Regiments war durch diesen Krieg blosgelegt und der Urheber dieses Regiments wußte selbst keinen anderen Ausweg aus der schwierigen Lage zu finden, als den Selbstmord. Die unzufriedenen Elemente, die bis dahin furchtsam sich versteckt gehalten hatten, begannen nun ihr Haupt keck zu erheben. Reformen oder ein neuer Selbstmord, und zwar diesmal nicht mehr der Selbstmord eines einzelnen Autokraten, sondern des Prinzips der Autokratie selbst – dies war das Dilemma, vor welches die Geschichte Nikolaus’ Nachfolger stellte. Dieser zog nun klüglich den Weg der Reformen vor, deren wichtigste die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland war.

Die Sklaverei (unter der Bezeichnung „Cholopstwo“, d.h. Knechtschaft) existirte in diesem Lande seit unvordenklichen Zeiten. Davon sprechen schon die ältesten legislativen Urkunden Rußlands. „Cholop“ (Knecht) konnte jeder Arme werden, indem er sich seinem reichen Mitbürger verkaufte. Zu Knechten wurden ferner auch die Kriegsgefangenen. Indeß blieb eine Zeitlang die Ausdehnungssphäre der Sklaverei sehr beschränkt. Die Sklaven bildeten blos das Hofgesinde der Fürsten, Bojaren und der reichen Grundbesitzer. Wenn die russischen regierenden Fürsten ihre Diener mit bevölkerten Landgütern beschenkten, so wurden dadurch die betreffenden Bauern keineswegs zu Leibeigenen, sondern der Fürst übertrug damit blos sein Recht auf die den Bauern auferlegten Abgaben auf die „Staatsdiener“. Die Bauern selbst aber blieben nach wie vor „freie Leute“ und hatten als solche das Recht, ihre Gutsherren zu wechseln, oder auch den Gutsherrn zu verlassen, um sich in einer freien (d.h. blos dem Fürsten zinspflichtigen) Gemeinde niederzulassen.

Diese Sachlage war für den Staat in doppelter Hinsicht wesentlich nachtheilig.

Erstens waren die großen Grundbesitzer, kraft ihres wirthschaftlichen und politischen Uebergewichts, im Stande, ihren Bauern einen sicheren Schutz und vortheilhaftere materielle Bedingungen zu bieten, als die ärmeren Grundbesitzer, die es mitunter nicht viel besser hatten, als ihre Zinsleute. Die Folge davon war, daß die Bauern haufenweise von den ärmeren Gutsherren zu den reicheren übergingen.

Nun aber gab es der ärmeren Gutsherren sehr viele, und zwar waren sie es, die den Kern der „dienenden“ Kriegsmacht des moskowitischen Staates bildeten: hauptsächlich aus ihnen rekrutirte sich das moskowitische Heer bis zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Der Staat mußte also, wollte er anders nicht seine militärische Macht untergraben, nothwendigerweise den Bauern verbieten, die Landgüter der ärmeren Gutsherren zu verlassen. In diesem Sinne wurde denn auch das Freizügigkeitsrecht der Bauern am Ende des sechzehnten Jahrhunderts eingeschränkt.

Zweitens wurden durch die Freiheit der Bauern die Interessen des Fiskus unmittelbar geschädigt. Nachdem nämlich die Macht der Tartaren gebrochen war, die das moskowitische Reich im Süden und im Osten eingeschlossen hielten, eröffneten sich für die agrarische Kolonisation ungeheure Strecken herrenlosen, ungemein fruchtbaren Landes. Ihr Freizügigkeitsrecht ausübend, strömten nun die Bauern schaarenweise nach diesem Eldorado. Freilich folgten ihnen auf dem Fuß die zarischen Beamten, um ihnen Steuern und Abgaben aufzuerlegen. Letzteres brauchte aber Zeit, und – unter den damaligen Verhältnissen – mitunter sehr viel Zeit. Es vergingen Jahrzehnte, bevor es dem Staat gelang, die Kolonisten seine schwere Hand fühlen zu lassen. In der Zwischenzeit zahlten diese dem Staat gar nichts. Zwar bot die solidarische Haft der Gemeinde die juristische Möglichkeit, die Gesamtsumme der früheren Steuern und Abgaben von den zurückgebliebenen und in die Steuerlisten eingetragenen Bauern (von den „steuerpflichtigen Leuten“) beizutreiben, d.h. die Anwesenden für die Abwesenden zahlen zu lassen. Allein die bittere Erfahrung hatte schon längst der moskowitischen Regierung gezeigt, daß in Sachen der Steuern-Eintreibung die juristische und die ökonomische Möglichkeit sehr häufig zweierlei sind: wo nichts ist, da hat auch der Kaiser sein Recht verloren. So eifrig auch die zarischen Beamten die Steuern von den Bauern herauszupeitschen suchten, war es denn doch unmöglich, sagen wir von zehn zu Hause gebliebenen Gemeindegliedern ebenso viel Geld beziehungsweise Produkte und Arbeit (zu jener Zeit wurden die Abgaben vorwiegend noch in natura geleistet) herauszupressen, wie früher von beispielsweise vierzig thatsächlich (und nicht blos auf dem Papier) in der Gemeinde ansässigen Steuerpflichtigen. Die „Sache des Fürsten“ nahm unzweifelhaft Schaden und das gerade zu einer Zeit, da der wachsende Verkehr mit dem Westen einen sorgfältig gefüllten Staatssäckel immer dringender erheischte. Aus dieser unangenehmen Lage gab es damals nur einen Ausweg – die Fesselung der Bauern an die Scholle. So wurde denn im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts das Freizügigkeit der Bauern vollständig aufgehoben.

Die Bauern geriethen in ein durchaus leibeigenschaftliches Verhältnis zu den Gutsherren, beziehungsweise zum Staat.

Indeß waren die leibeigenen Bauern noch immer nicht den Sklaven gleichgestellt.

Der „an die Scholle gefesselte“ Bauer (glebae adscriptus) war noch immer nicht das sprechende Lastthier, für welches der „Cholop“ von jeher galt.

Der Ruhm, den russischen Bauer vollständig geknechtet zu haben, gebührt dem großen Reformator Rußlands, Peter I., und der berühmten Messalina des Nordens, Katharina II.

Peter wollte in Rußland eine stehende Armee nach europäischem Muster organisiren, die Administration reformiren, die Grundlagen zur Entwicklung des Handels, einer Handelsund Kriegsflotte, der Industrie und der Bildung schaffen.

Zu allen diesen Zwecken brauchte er Geld, abermals Geld und wiederum Geld. Peter schreckte denn auch vor nichts zurück, um Geld zu beschaffen. Die Kosten seiner Reform hatten vor Allem selbstverständlich die sogenannten steuerzahlenden Stände zu tragen: die Bauernschaft und das arme städtische Kleinbürgerthum. Die nächste ökonomische Folge dieser Reform war die furchtbare Verarmung des Leibeigenen auf die Stufe des „Cholops“. Widersprach doch die Befestigung und Ausbreitung der Leibeigenschaft seinen reformatorischen Plänen nicht im Mindesten. Im Gegentheil. Gerade Leibeigene waren es, die in den von ihm gegründeten Fabriken und Manufakturen arbeiteten. Die Leibeigenschaft war die unvermeidliche Bedingung der Europäisation Rußlands.

Peters Nachfolger setzten sein Werk eifrig fort. Die „aufgeklärte“ Katharina II. hatte nur noch das Tüpfelchen auf das i zu setzen. Sie verkündete durch den Ukas vom 7. Oktober 1792, daß „die leibeigenen gutsherrlichen Leute und Bauern einen Bestandtheil des gutsherrlichen Vermögens bilden und bilden sollen, bei deren Veräußerung, ebenso wie bei der Veräußerung von unbeweglicher Habe, Kaufbriefe ausgestellt und Gebühren zu Gunsten des Fiskus erhoben werden.“ Der Bauer wurde also ein bloßes instrumentum vocale, ein sprachbegabtes Werkzeug, welches seiner Natur nach zum beweglichen, nicht zum unbeweglichen Eigenthum gehörte. Es kam vor, daß Leibeigene auf den Jahrmärkten, wie Vieh, heerdenweise verkauft wurden.

Daneben ging die weitere Ausbreitung der Leibeigenschaft vor sich. Die Zaren und Zarinnen liebten es, ihre Favoritinnen beziehungsweise Favoriten mit Landgütern zu belohnen. – Katharina II. führte die Leibeigenschaft in Kleinrußland ein.

Der Adel jubelte. Nur wurde aber sein Jubel mitunter getrübt durch unerwarteten Widerstand der Bauern.

So geduldig, so konservativ der russische Bauer auch ist, er ergab sich doch nicht ohne Kampf. Fast jeder Schritt der Regierung auf dem Wege zur Knechtung der Bauern war von mehr oder weniger umfassenden Bauernaufständen begleitet. Im siebzehnten und im achtzehnten Jahrhundert erlebte Rußland förmliche Bauernkriege (die Rebellionen Stepan Rasin’s und Pugatschew’s). Das neunzehnte Jahrhundert hat keine einzige Bauernbewegung mehr aufzuweisen, die man den „Empörungen“ der früheren Jahrhunderte an die Seite stellen könnte. Dafür wurden aber die kleinen Bauernaufstände immer häufiger. Besonders reich an Bauernaufständen ist die Regierungszeit des Nikolaus, der sie mit wahrhaft bestialischer Grausamkeit niederschlagen ließ. Die von der Mitte der dreißiger Jahre bis zum Krimkrieg geführte offizielle Statistik der Bauernaufstände zeigt, daß während dieser zwei Jahrzehnte die Zahl der Aufstände alljährlich mit beinahe mathematischer Regelmäßigkeit anwuchs. Bisweilen gährte es in ganzen Gouvernements und es kam dabei auch hie und da zu förmlichen Schlachten zwischen Bauern und Soldaten. Während des Krimkrieges verbreitete sich ein Gerücht, daß die Regierung alle diejenigen Bauern befreien werde, die sich in die Landwehr einschreiben lassen würden. Dieses Gerücht veranlaßte viel „Unruhen“, besonders in Kleinrußland. Der Friedensschluß eingewilligt nur unter der Bedingung der Aufhebung der Leibeigenschaft.

Die Regierung kannte recht wohl die Stimmung der Bauern und befürchtete einen allgemeinen Aufstand. „Es ist besser, die Bauern von Oben zu befreien, als die Zeit abzuwarten, da die Befreiung von Unten Beginnen wird“, erklärte Alexander II.

Unter diesen Umständen war es erklärlich, wenn die Regierung die Unzufriedenheit fürchtete, die sich unmittelbar nach Nikolaus’ Tod in der „gebildeten Gesellschaft“ bemerkbar machte. „Es ist besser, freiwillig zu geben, was man sonst vielleicht mit Gewalt nehmen wird“, – so dachte der gekrönte Reformator, so dachten auch die meisten seiner Rathgeber.

Anders denken konnten nur die alten „Nikolaus’schen Soldaten“, die nichts außer dem Stock anerkannten und kannten. Mehr als einmal hatte zwar der Stock der russischen Regierung gute Dienste geleistet. Der Stock war es aber auch, der sie in die verzweifelte Lage der Zeit des Krimkrieges gebracht hatte. Die vielgepriesenen Nikolaus’schen militärischen Einrichtungen hatten sich als nichtsnutzig erwiesen: die Offiziere, insbesondere die Generäle waren unwissend oder feig, die Bewaffnung im elendesten Zustand [1] die Unterschlagung von Staatsgeldern in der Intendanz, im Artillerieund Genie-Ressort erreichte einen unglaublichen Umfang und wurde gleichsam als gesetzlich gestattet betrachtet. Dazu kam noch, daß Rußland, in Folge der schlechten Verkehrsmittel, auch die vorhandenen militärischen Kräfte nicht gehörig zur rechten Zeit benutzen konnte. So kostete während des Krimkrieges der Transport einer einzigen Bombe von Ismaïl (in der nähe der Donau-Mündung) nach Sebastopol nicht weniger als fünf Rubel. Endlich stand Rußland in finanzieller Beziehung am Vorabend des Bankerotts. Im Jahre 1855 belief sich das Defizit auf 261.850.000 Rubel (Einnahmen: 264.119.000; Ausgaben: 525.969.000 Rubel). Das folgende Jahr ergab ein noch größeres Defizit. – Die Regierung beeilte sich, Frieden zu schließen. Das genügte aber nicht. Es galt neue Einnahmequellen zu erschließen, neue Produktivkräfte ins Leben zu rufen. Letzteres war aber unmöglich, so lange die Leibeigenschaft bestehen blieb. Die im Volke verbreitete Legende hatte einen tiefen Sinn: die Befreiung der Bauern wurde der Regierung wirklich aufgezwungen von „Napoleon“, d.h. durch den Gang und Ausgang des Krimkrieges.

Konnte die russische Industrie in ihren ersten Anfängen, unter Peter I., nicht ohne leibeigene Arbeiter bestehen, so hatte sie umgekehrt in der Mitte dieses Jahrhunderts zu ihrer weiteren Entwicklung freie Arbeiter unumgänglich nöthig. Und nicht nur die Industrie allein erforderte freie Arbeiter. Schon in der Mitte der vierziger Jahre wurden in der russischen Literatur Stimmen laut, die – freilich, mit Rücksicht auf die strenge Zensur, schüchtern und verschleiert – behaupteten, das Gedeihen der Landwirtschaft sei mit dem ferneren Bestehen der Leibeigenschaft unvereinbar. Am besten wurde das nachgewiesen von dem Staatsbeamten Sablozky-Deßjatowsky in seiner Aufsehen erregenden amtlichen Denkschrift.

Unter Nikolaus wurden in Rußland blos zwei Eisenbahnlinien gebaut: von Petersburg nach Zarskoje Sselo (ein südlich von der Hauptstadt in einer Entfernung von zweiundzwanzig Kilometer gelegenes Städtchen) und von Petersburg nach Moskau. Hier ist nicht der Platz, die großartigen Unterschlagungen und Diebereien zu besprechen, die bei dem Bau jener Eisenbahnen begangen wurden. Wir bemerken blos, daß nur die letztere Eisenbahn von wirthschaftlicher Bedeutung war; die erstere diente blos zu Lustreisen der Petersburger „Gesellschaft“. Heutzutage läßt es sich kaum vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten damals der Waarentransport aus dem Moskauer Industriebezirk z.B. nach Kleinrußland verbunden war. Und je mehr sich die Produktion entwickelte, desto dringender wurde die Nothwendigkeit eines Eisenbahnnetzes, welches wenigstens die wichtigsten russischen Städte umfaßte.

Nicht besser stand es um das Telegraphenwesen. Bis 1853 gab es in Rußland blos eine optische Telegraphenverbindung zwischen Petersburg und Warschau, die zum persönlichen Gebrauch des Kaisers diente. In den folgenden Jahren wurden elektrische Telegraphenverbindungen hergestellt, aber in geringfügiger Anzahl: im Jahre 1857 erstreckte sich das Telegraphennetz nicht über 3.725 Werst. Die Entwicklung von Handel und Industrie erheischte also auch nach dieser Richtung hin die gründlichsten „Reformen“.

Nikolaus duldete so gut wie gar keine privaten Aktiengesellschaften, insbesondere keine Aktienbanken. Die Gutsherren und Kaufleute wendeten sich bei Geldbedarf an die staatlichen Kreditanstalten. „Die russisch-amerikanische Kompagnie, zwei Feuerversicherungs-, zwei bis drei Dampfschiffahrtsund Industrie-Gesellschaften bildeten die gesammte Aktienwelt Rußlands“, bemerkt der Verfasser der bereits zitirten Skizzen aus der russischen Geschichte. Der Beginn der neuen Regierung zeichnete sich nun durch ein wahres Aktiengründungs-Fieber aus. Wie Pilze nach einem warmen Regen schoffen Aktiengesellschaften hervor, die den Einfältigen ungeheure Gewinnste vorspiegelten und sich anschickten, die verschiedensten Seiten des sozialökonomischen Lebens zu umfassen (es gab z.B. eine Gesellschaft „Hydrostat“, die zum Zweck hatte, „gesunkene Schiffe aus dem Meere emporzuheben“, eine Gesellschaft „Bienenstock“ zur „Hebung der Lage der Arbeiter“ u.dergl.m.). Viele dieser Gründungen zerplatzten selbstverständlich wie Seifenblasen, nachdem sie die Taschen der Gründer gefüllt hatten. Indeß schon die bloße Existenz eines derartigen Gründungsfiebers zeigt, wie sehr das damalige Rußland den alten, von Nikolaus ererbten ökonomischen Lebensformen über den Kopf gewachsen war. Um aber neue Lebensformen entwickeln zu können, mußte es vor Allem das todte Gewicht der Leibeigenschaft los werden.

Endlich – und diese Erwägung wird bei gar manchem Zarendiener wohl die ausschlaggebende gewesen sein – hinderte die Leibeigenschaft die Regierung daran, die Bauern nach Belieben zu brandschatzen. Die Steuern wurden nämlich von der leibeigenen Bevölkerung durch Vermittlung der Gutsherren erhoben. Jede weitere Steuererhöhung, jede neue Mehrbelastung der Leibeigenen mußte nun selbstverständlich die Unzufriedenheit der Gutsherren hervorrufen, weil ja dadurch die wirthschaftliche Kraft der ihnen gehörenden „Seelen“ geschwächt wurde. Die Bauern von der gutsherrlichen Gewalt befreien, hieß demnach die Gewalt des Staates über sie vergrößern. Unmittelbare Beziehungen zwischen Bauer und Staat schufen der Phantasie des Finanzministeriums viel freieren Raum; und schon aus diesem Grunde allein mußte die Regierung die „Emanzipation“ in die Hand nehmen. Prosaisch gesprochen, lief die Frage der „Emanzipation“ auf die andere Frage hinaus, wem der Löwenantheil an dem von der leibeigenen Bevölkerung geschaffenen Mehrprodukt (bezw. Mehrwerth) zufallen sollte: dem Staat oder den Gutsherren? Der Staat suchte diese Frage zu seinen Gunsten zu entscheiden. Dazu war es aber nothwendig, die Bauern mit Land, nicht – wie das die Gutsherren verlangten – ohne Land, zu befreien. Das historische Recht der russischen Bauern auf den von ihnen bebauten Grund und Boden konnte freilich keinen Zweifel unterliegen. Indeß nicht dieses Recht war es, das die Regierung in ihren Befreiungsplänen leitete. Sie strebte vielmehr blos darnach, den Bauern die Möglichkeit zu geben, für den Staat möglichst viel in natura und in Geld zu leisten. Dazu eigneten sich landlose Tagelöhner nicht. Dies der Grund, warum die Regierung in keinem Falle den Forderungen der Gutsherren-Partei nachgeben mochte. Auf der anderen Seite suchte sie freilich die dieser Partei dargereichte bittere Pille nach Möglichkeit zu verzuckern. Sie that dies, indem sie die Bauern für das ihnen zugemessene Land eine Ablösungssumme zahlen ließ, die bedeutend den Werth des Landes überstieg. Indem sie ferner bei dem Ablösungsgeschäft die Vermittlerrolle übernahm, heimste sie auch noch einen nicht unbedeutenden Extraprofit ein, nämlich die Differenz zwischen der von ihr den Gutsherren ausbezahlten Entschädigungssumme und der den Bauern auferlegten Ablösungssumme.

Dies die Verhältnisse und Umstände, die den Beginn, den Gang und Ausgang der Bauernbefreiung in Rußland bestimmt haben. Betrachten wir nun einige weitere Reformen Alexanders II.

Es wurde bereits erwähnt, daß der Krimkrieg die ganze militärische Misère Rußlands blosgelegt hat. Eine der hervorstechenden Eigenthümlichkeiten der russischen Armee war der Mangel an auch nur halbwes gebildeten Offizieren. Nikolaus war sich selbst dieses Mangels bewußt, ihn beseitigen konnte er aber nicht, weil ja seine ganze Regierung nichts anders war, als ein ununterbrochener Kampf gegen die Bildung. Es entsprach ganz dem Geist dieser Regierung, wenn in den militärischen Lehranstalten den Wissenschaften gar keine Bedeutung beigelegt wurde, dagegegen der militärische Drill die Hauptsache war. Aber auch die Zahl dieser elenden Lehranstalten war zu gering im Verhältnins zu den Bedürfnissen der Armee. Nothgedrungen mußte man zu Offizieren die sogenannten Junker ernennen, welche häusliche Bildung (d.h. gar keine Bildung) genossen und einige Zeit als Gemeine gedient hatten. – Nicht viel besser stand es um die Bildung in den sogenannten bürgerlichen, d.h. nichtmilitärischen Lehranstalten. Auch da sah man vorzugsweise darauf, den Schülern den Geist des Gehorsams und der Demuth einzuimpfen. Der Zutritt zu den Universitäten wurde am Ende der Regierungszeit des Nikolaus sehr beschränkt. Es wurde verboten, Vorlesungen in der Philosophie zu halten [2], dafür aber unterrichtete man die Studenten im – Marschiren!! – Es versteht sich nun von selbst, daß die Regierung, sobald sie, durch die Krim-Niederlage gewitzigt, „sich zu sammeln“ („se recueillir“) beschloß, der Bildung etwas mehr Raum lassen mußte. Es wurden denn auch neue Gymna-sien und Progymnasien für Jünglinge gegründet, sowie auch neben den bereits vorhandenen „Instituten für wohlgeborene Fräulein“, d.h. für Töchter der Adeligen, Gymnasien und Progymnasien für Mädchen aller Stände. Die Bestimmungen, welche Zahl der Studenten einschränkten, wurden aufgehoben, die höheren technischen Lehranstalten (die unter Nikolaus Kadettenkorps waren) reformirt, für die militärischen Lehranstalten endlich begann, besonders seitdem Miljutin zum Kriegsminister ernannt worden war, förmlich eine neue Æra: die „Marschirkunst“ wurde so gut wie bei Seite geschoben (ihr wurde nicht mehr als Eine Stunde der Woche eingeräumt), der Unterricht verständig organisirt, der Lehrkurs bedeutend erweitert, die körperlichen Strafen kamen fast außer Gebrauch (sie ganz zu beseitigen, konnte sich der „Zar-Befreier“ nicht entschließen – weder hier noch in der Armee überhaupt). Dem Hauptübel wurde jedoch durch all diese Maßnahmen nicht abgeholfen; die reformirten militärischen Lehranstalten lieferten eine verhältnißmäßig geringe Zahl Offiziere, nach wie vor mußte man die erwähnten Junker zu Offizieren avanciren lassen. Immerhin führten diese Reformen Alexanders II. eine ungeheure Vermehrung der studirenden Jugend nach sich, die studirende Jugend aber spielte eine nicht geringe Rolle in der gesellschaftlichen Bewegung jener Zeit.

Indeß, so weitgehend die Schulreform auch war, den letzten Schritt auf diesem Gebiete wollte und konnte die Regierung des selbstherrlichen Zaren nicht thun: nach wie vor fehlte in Rußland das, was man akademische Freiheit nennt, die Universitätsräthe wurden vollständig den Kuratoren der Lehrbezirke untergeordnet, Beamten, die häufig mit der Sache der „Volksaufklärung“ gar nichts gemein hatten. So wurde z.B. in den Flitterwochen des Alexander’schen Liberalismus, im Jahre 1861, zum Kurator des Petersburger Lehrbezirkes der kaukasische General Philippson ernannt (zur selben Zeit wurde Minister der Volksaufklärung – der Admiral Putjatin). Die natürliche Folge davon waren die Studenten-“Unruhen“, die bis auf den heutigen Tag mit der Regelmäßigkeit astronomischer Erscheinungen wiederkehren.

Die russische Rechtsprechung war von jeher ebenso durch ihre Bestechlichkeit berüchtigt, wie durch die völlige Unbekanntschaft der Richter mit den Gesetzen, auf Grund deren sie zu erkennen hatten. Die Reform des Gerichtswesens war die harmloseste unter den Reformen Alexanders II. Von den alten korrupten Richtern abgesehen, wurde sie allgemein begrüßt. Wollte man sie aber konsequent durchführen, so mußte unbedingt die Polizeisowie die administrative Gewalt überhaupt beschränkt werden, welche sich herausnehmen durfte, die gerichtlichen Entscheide auf ihre Weise zu korrigiren. Aber auch das wollte die Regierung des selbstherrlichen Reformators nicht, noch auch konnte sie es wollen. Dies der Grund, warum das reformirte Gerichtswesen in Rußland ein exotisches Gewächs blieb: es paßt zu der allgemeinen Staatsordnung Rußlands, wie etwa ein seidener Cylinderhut zu einem in Thierfellen gekleideten Eskimo.

Betrachten wir nun die letzte Reform, die von den Bedürfnissen der Zeit diktirt und vom „Zaren-Befreier“ verwirklicht worden ist. – Die Regierung sah, daß ihre Mittel nicht einmal hinreichten, um die dringendsten Bedürfnisse des Staates zu decken. Sie beschloß daher, einen Theil der Staatsausgaben auf die Schultern der Lokalverwaltungen abzuwälzen. Regierungsbeamte wären aber der schwierigen Aufgabe nicht gewachsen gewesen, Mittel zur Bestreitung der lokalen „obligatorischen Ausgaben“ ausfindig zu machen. Auch hatten sie notorisch allzu lange Finger. Nothgedrungen mußte man sich daher an die Bevölkerung wenden, ihr eine lokale „Selbstverwaltung“ oktroyiren, welche allerdings der strengen Kontrolle der Staatsverwaltung unterstellt wurde und blieb. Dabei wurde in den landschaftlichen Behörden dem großen Grundbesitz das Uebergewicht verschafft. Um aber auf der anderen Seite auch die Interessen der damals treibhausmäßig gezüchteten Bourgeoisie zu wahren, wurde den Semstwos die Möglichkeit genommen, industrielle Etablissements nach eigenem Belieben zu besteuern: die Regierung setzte dafür eine besondere, den großen Unternehmern höchst günstige Norm fest. Schließlich war es der Bauer, der hier, wie überall, alle Kosten zu tragen hatte: die Semstwos besteuerten gewöhnlich den bäuerlichen Grundbesitz viel höher, als den der reichen Grundeigenthümer.

Kaum eine Reform zu nennen ist die geringe Milderung der Zensurenbestimmungen, deren Strenge in den letzten Regierungsjahren des Zaren Nikolaus ins Unglaubliche, ins Absurde ging, – bis zum Verbot, den Ausdruck „freier Geist“ in Kochbüchern zu gebrauchen. Immerhin wurde dadurch der Presse die Möglichkeit gegeben, Fragen zu beurtheilen, die zu den Lebzeiten des „Unvergeßlichen“ nicht einmal andeutungsweise berühren durfte. Unter Nikolaus würde Tschernischewsky’s literarische Thätigkeit gleich mit der ersten Zensur vorgelegten größeren Abhandlung ein Ende genommen haben.

Soviel über die wichtigsten Reformen Alexanders II. Sehen wir nun, wie sie von den verschiedensten Ständen der russischen Bevölkerung aufgenommen wurden.

In Rußland gab und giebt es vier große Stände: Geistlichkeit, Adel, Kaufmannschaft (die höhere und mittlere Bourgeoisie) und Bauernschaft. Das städtische Kleinbürgerthum bildet unter der Bezeichnung „Mjeschtschanstwo“ einen besonderen fünften Stand. Unter Nikolaus unterscheidete er sich übrigens in seiner rechtlichen Stellung fast durch nichts von den nichtgutsherrlichen Leibeigenen. Die Kleinbürger standen, ebenso gut wie die Staatsbauern, in einem förmlichen Leibeigenschaftsverhältniß zum Staat.

Die Geistlichkeit zerfiel und zerfällt noch in Kloster und Weltgeistlichkeit. Die höheren kirchlichen Würdenträger werden aus der ersteren genommen; die Mitglieder der letzteren bringen es nie weiter als bis zur Priesterwürde. Während ferner die Klostergeistlichkeit kolossale Reichthümer besitzt, ist die Weltgeistlichkeit sehr arm. An der Bauernreform war unmittelbar weder die eine noch die andere interessirt: zu jener Zeit hatte die Geistlichkeit nicht mehr das Recht, „leibeigene Seelen“ zu besitzen. Die Weltgeistlichkeit begrüßte indeß im Allgemeinen mit Freuden den Sturz einer Ordnung, die selbst die Bischöfe mit dem Kasernengeist erfüllte, so daß sie eine wahrhaft militärische Disziplin unter der Geistlichkeit einzuführen suchten. Zudem eröffnete das mit den Reformen erwachende öffentliche Leben den Kindern der Weltgeistlichen [3] ganz neue Bahnen. Unter der studirenden die „Seminaristen“ (Söhne der Geistlichen) eine durchaus hervorragende und höchst radikale Rolle.

Die Interessen des Adels wurden durch die „Befreiung“ der Bauern wesentlich berührt. Gegen die Aufhebung der veralteten Leibeigenschaft lehnten sich zwar blos die unwissendsten und am meisten zurückbebliebenen Gutsherren auf. Die Frage nach dem Wie der Reform war dagegen für den gesammten Adel von höchster Wichtigkeit. Die Gutsherren-Partei wollte, wie bereits erwähnt, die Bauern ohne Land befreit wissen, was aber die Regierung nicht zugeben konnte. Daher nun die oppositionelle Stimmung des Adels. „Die große Krone des Zaren“ – meinten die Gutsherren – „setzt sich zusammen aus unseren Kleinen Kronen: indem der Zar unsere Kronen zerbricht, zerbricht er zugleich auch seine eigene Krone.“ Bei den meisten klangen diese Worte wie eine schadenfrohe Prophezeiung.

Es gab aber auch unter dem Adel eine liberale Minderheit, die, ohne gegen den Reformplan der Regierung gestimmt zu sein, darnach trachtete, „die gesammte Ordnung des russischen Staates mit dieser Umwälzung in Einklang zu bringen, und die zu diesem Zwecke, nach rücksichtsloser Aufdeckung aller Mißstände in der Administration, im Gerichts-, Finanzwesen u.s.f., die Einberufung einer Na-tionalversammlung (Semsky Ssobor), als des einzigen Rettungsmittels für Ruß-land, fordert, – mit einem Wort, der Regierung klar zu machen sucht, daß sie das von ihr begonnene Werk fortsetzen muß“. [4] Im Februar 1862 erklärte sich die Adelsversammlung des Gouvernements Twer in einer an den Kaiser gerichteten Adresse für die Einberufung einer Nationalversammlung. Aehnliche Adreß-Entwürfe beschäftigten den Adel auch in anderen Gouvernements. Ja, man trug sich sogar mit dem Gedanken an eine gemeinsame, von Angehörigen verschiedener Stände zu unterzeichnende Adresse. Die Regierung unterdrückte indeß ohne Mühe die konstitutionellen Gelüste des Adels. Die von ihr befreiten Sklaven wären auf den ersten Wink bereit gewesen, alle etwaigen praktischen Versuche der Sklavenhalter von gestern zu nichte zu machen.

Die Kaufmannschaft – die höhere und mittlere Bourgeoisie – jubelte allen Reformen des „Befreiers“ zu: sie fühlte, daß nunmehr ihre Zeit gekommen sei, und verspührte gar keine Neigung, Opposition zu machen.

Ueber die Stimmung der Bauernschaft zur Zeit des Krimkrieges haben wir bereits gesprochen. So lange die Regierung nicht an die Aufhebung der Leibeigenschaft ging, konnte man eine stetige Zunahme und Steigerung der Gährung unter den Bauern erwarten. Sobald aber das „Emanzipations“-Werk begonnen wurde, warteten die Bauern dessen Vollendung geduldig ab. Es fragte sich nur, wie sie die ihnen von der Regierung oktroyirte „Freiheit“ aufnehmen würden. Wie, wenn sie eine andere, vollständigere Freiheit verlangen sollten? – Das befürchteten der Zar, die Beamten und die Adeligen, darauf rechneten die damaligen Revolutionäre.

Die revolutionäre Partei jener Zeit rekrutirte sich vorzugsweise aus den sogenannten Rasnotschinzi (Deklassirte, eigentlich „Leute verschiedener Stände“). Um die Entstehungsgeschichte dieser Bevölkerungsschicht kennen zu lernen, muß man wissen, daß in Rußland die ständischen Rechte nur im Adel, Kleinbürgerthum und in der Bauernschaft erblich sind. Die „Rechte“ der letzteren sehen freilich bis heute einer völligen Rechtlosigkeit sehr ähnlich, dies ändert jedoch an der Sache nichts. Ein Bauernsohn mag was für eine Beschäftigung wählen, er bleibt Bauer, außer wenn er im Staatsdienst einen „Tschin“ (Grad in der Beamtenhierarchie) erhält oder sich in die Kaufmannsgilde aufnehmen läßt, was Jedermann gestattet ist, der das nöthige Geld hat, um den Gildenschein zu bezahlen, oder wenn er endlich zu einer städtischen Kleinbürgergemeinde „zugezählt“ wird. Ebenso bleibt der Sohn des Adeligen [5] Edelmann, mag er auch den Boden pflügen oder Lakai werden. Nicht so die Söhne der Geistlichen und Kaufleute. Der Kaufmannssohn bleibt Glied des Kaufmannsstandes nur dann, wenn er den Gildenschein bezahlt, sonst tritt er in die Kategorie der Rasnotschinzi ein. Rasnotschinez wird auch der Sohn des Geistlichen, der den väterlichen Beruf nicht hat ergreifen wollen. Die Rechtlosigkeit der „Kleinbürger“ ist zwar ebenso erblich, wie die Rechte der Adeligen; indeß schon die Verschiedenartigkeit der kleinbürgerlichen Berufsarbeiten bringt die Angehörigen dieses „Standes“ den Rasnotschinzi nahe. Rasnotschinzi werden de facto alle diejenigen, deren Thätigkeit außerhalb des Rahmens der ständischen Gliederung fällt.

Die Rasnotschinzi waren stets sehr zahlreich. Ohne sie wären viele Funktionen der Staatsmaschine und des öffentlichen Lebens unmöglich. Allein vor den Reformen befand sich der Rasnotschinez in einer sehr gedrückten Stellung, auch war er sehr mangelhaft gebildet. Immer und überall mußte er den Angehörigen der bevorrechteten Stände den Vortritt lassen. Erst die Reformen, die neue gesellschaftliche Verhältnisse ins Leben gerufen hatten, brachten den Rasnotschinez zur Geltung. Nunmehr konnte er als Ingenieur, Rechtsanwalt oder Arzt sich eine Lebensstellung sichern, die jedenfalls bei Weitem günstiger war, als beispielsweise die Stellung eines ländlichen Kirchendieners. So strömten denn die Rasnotschinzi haufenweise in die Lehranstalten und mit ihnen zugleich die Kinder des verarmten Landadels.

Der gebildete Rasnotschinez besaß nicht die dem Edelmann eigenthümliche weltmännische Politur. Er kannte keine fremden Sprachen, seine literarische Bildung ließ gar manches zu wünschen übrig. In einem Punkt wenigstens war er jedoch dem träge gewordenen Edelmann unzweifelhaft überlegen: genöthigt, von frühester Jugend auf hart um seine Existenz zu kämpfen, war er unvergleichlich energischer. Freilich machte sich und macht sich noch diese Eigenschaft der Rasnotschinez dem russischen Volke mitunter in peinlicher Weise fühlbar. Der Rasnotschinez kämpft als Beamter gegen den „freien Geist“ mit viel mehr Ausdauer, als der Beamte aus dem Adel. Als Grundbesitzer versteht sich der Rasnotschinez besser auf die Ausbeuthung des armen Bauern, als der „gnädige Herr“ alten Schlages. Der Rasnotschinez ist aber auch unvergleichlich ausdauernder und geschickter im Kampf mit der Regierung, sobald er in Opposition zu ihr tritt. Und zwar geschieht letzteres sehr häufig. – Beaumarchais läßt Figaro sagen, er habe „blos um existiren zu können“ (rien que pour exister), mehr Geist nöthig, als erforderlich ist, um „ganz Spanien zu regieren“ (pour gouverner toutes les Espagnes). Dasselbe könnte auch der russische Rasnotschinez von sich sagen, der es obendrein mit einer viel despotischeren und rücksichtsloseren Regierung zu thun hat, als die französische Regierung der guten alten Zeit war. Als Angehöriger eines „freien Berufs“, bedarf er vor Allem der Freiheit, während ihm auf Schritt und Tritt eine grenzenlose Polizeiwillkür entgegentritt. Kein Wunder also, daß die „negative Richtung“ in den Reihen der Rasnotschinzi den günstigen Boden findet. Und zwar bleibt er in seiner „Negation“ bei der dem Edelmann eigenthümlichen witzigen, aber oberflächlichen Medisance nicht stehen. Nicht umsonst hat ihn der elegante, allseitig gebildete und liberale Edelmann Turgenjew „Nihilist“ benannt: in seiner „Negation“ schreckt er wirklich vor nichts zurück, – von Worten geht er rasch zu Thaten über. Der gebildete Rasnotschinez – das ist der Bote des neuen Rußland, der der alten Ordnung den Krieg auf Leben und Tod erklärt und in diesem Krieg die gefahrvolle Rolle des Vorpostens übernommen hat.

Bis zum Ende der siebziger Jahre war die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung vorzugsweise die Geschichte des Kampfes dieser Bevölkerungsschicht gegen den Zarismus. Nunmehr kommen dem Rasnotschinez neue Kräfte zu Hilfe; nunmehr wird allmälig die Arbeiterklasse in den Kampf hineingezogen, die Proletarier der Handarbeit, deren Zahl immer mehr anwächst, und die bereits beginnen, sich ihrer politischen Aufgabe bewußt zu werden. [6] Indeß, zu der in Frage stehenden Zeit waren die Kämpfer dieser Art im wahren Sinne des Wortes erst in statu nascendi begriffen, auf sie war noch nicht zu rechnen: der Rasnotschinez mußte, so gut es ging und gehen konnte, auf eigene Hand den Kampf beginnen und führen.

Sehen wir uns nun den Komplex der Ideen an, unter deren Banner der Befreiungskampf in Rußland eingeleitet wurde. – Unter Nikolaus durfte die russische Literatur keine politischen und gesellschaftlichen Fragen behandeln. Sie mußte sich nothwendigerweise auf die „schöne Literatur“ und deren Kritik beschränken. Aber auf diesen Gebieten leistete sie allerdings sehr viel. Zu jener Zeit wirkte der russische Lessing, Bjelinsky, schrieb Gogol seine unsterblichen Werke, reiften die besten Romandichter Rußlands heran. Bis auf den heutigen Tag ist alles Hervorragende, was in Rußland auf dem Gebiete der Belletristik und Kritik geleistet wird, eigentlich die Vollstreckung des literarischen Vermächtnisses der vierziger Jahre. Stand somit die literarische Reife Rußlands schon damals unzweifelhaft fest, so war dessen politische Reife noch Sache der Zukunft. Gesellschaftlich-politische Themata wurden damals fast nur in den erbitterten Debatten gestreift, welche die Slavophilen mit den „Occidentalen“ (Sapadniki) über die Frage führten, ob Rußland die Bahnen der allgemein-europäischen Entwicklung zu wandeln habe oder nicht. Die „Occidentalen“ bejahten diese Frage, die Slavophilen dagegen suchten nachzuweisen, daß Rußland eine eigene Zivilisation unter dem Schirm des griechisch-russischen Gottes und des rein-russischen Zaren schaffen müsse. Die Streitfrage war von höchster Wichtigkeit, sie gab Veranlassung zu mancher glänzenden und inhaltreichen Abhandlung; allein ihre endgiltige Lösung war unmöglich, einmal weil die Zensur den Streitenden nicht erlaubte, über die unklarsten Andeutungen hinauszugehen, und dann, weil – und das war das Wichtigste – keine der streitenden Parteien über das zur richtigen Beleuchtung der Streitfrage unentbehrliche Thatsachen-Material verfügte.

Die vorgeschrittenene Russen der Nikolaus’schen Zeit gingen in ihren literarischen und politischen Erörterungen von der Philosophie Hegel’s aus. Eine Zeitlang herrschte der berühmte deutsche Denker in Rußland ebenso unbeschränkt, wie der Petersburger Kaiser, – mit dem einzigen Unterschied allerdings, daß Hegel’s Autokratie nur in kleinen und wenig zahlreichen philosophischen Zirkeln anerkannt war, während Nikolaus’ Autokratie sich – nach dem Ausdruck des russischen Dichters Puschkin – „von den kalten finnischen Felsen bis zur glühenden Kolchis“ erstreckte. Und man muß gestehen, daß Hegel den Russen mitunter schlimmer mitspielte, als Nikolaus. Die schlecht verstandene, oder richtiger total mißverstandene Lehre von der Vernünftigkeit alles Wirklichen erschien den russischen Hegelianern wie eine Art Nikolaus’scher Gendarmerie. Indeß durfte man den Nikolaus’schen Gendarmen hassen, man durfte ihn hinter das Licht führen. Wie sollte sich aber der russische Hegelianer dazu entschließen können, den geistigen Gendarmen zu hintergehen, der über ihn – wie er glaubte – von seinem freiwillig gewählten Meister gesetzt worden sei? – Das war eine ganze Tragödie, welche mit der Auflehnung gegen die „Metaphysik“ im Allgemeinen und Hegel im Besonderen endete.

Die russische „Wirklichkeit“ – Leibeigenschaft, Despotismus, Allmacht der Polizei, Zensur u.s.f. u.s.f. – schien den vorgeschrittenen Männern jener Zeit niederträchtig, ungerecht, unerträglich. Mit unwillkürlicher Sympathie gedachten sie des kurz vorher gemachten Versuches der Dekabristen, diese Wirklichkeit umzugestalten. Wenigstens die Begabtesten unter ihnen begnügten sich aber weder mit der abstrakten Negation des achtzehnten Jahrhunderts, noch mit der aufgeblasenen, selbstsüchtigen, beschränkten Negation der Romantiker. Hegel hatte sie eben theoretisch anspruchsvoller gemacht. Sie wußten, daß die Geschichte ein gesetzmäßiger Prozeß, daß der Einzelne ganz ohnmächtig ist, wenn er mit den gesellschaftlichen Bewegungsgesetzen in Konflikt geräth. Sie sagten sich: „Entweder mußt Du die Vernünftigkeit Deiner Negation beweisen, sie durch den unbewußten Gang der gesellschaftlichen Entwicklung rechtfertigen, oder aber auf sie verzichten, als auf eine persönliche Grille, eine kindische Laune.“ Allein die Negation der russischen Wirklichkeit selbst theoretisch rechtfertigen, hieß eine Aufgabe lösen, der Hegel selbst nicht gewachsen wäre. Nehmen wir beispielsweise die russische Leibeigenschaft. Die Negation derselben rechtfertigen, hieß den Beweis liefern, daß sie sich selbst negirt, d.h. daß sie nicht mehr die gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigt, welche sie einst ins Leben gerufen hatten. Welchen gesellschaftlichen Bedürfnissen verdankte nun die russische Leibeigenschaft ihre Entstehung? Den ökonomischen Bedürfnissen des Staates, der an Entkräftung zu Grunde gegangen wäre, hätte er nicht den Bauer zum Leibeigenen gemacht. Es galt demnach zu zeigen, daß die Leibeigenschaft im neunzehnten Jahrhundert die ökonomischen Bedürfnisse des Staates nicht nur nicht mehr befriedigte, sondern geradezu der Befriedigung derselben hinderlich war. Das wurde später in der überzeugendsten Weise durch den Krimkrieg bewiesen. Aber, wiederholen wir, dies theoretisch zu beweisen, wäre selbst Hegel nicht im Stande gewesen. Dem Sinn seiner Philosophie gemäß waren zwar die Wurzeln der historischen Bewegung jeder Gesellschaft in deren innerer Entwicklung zu suchen, – womit die wichtigste Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft richtig bezeichnet wurde. Allein Hegel selbst konnte nicht anders, als dieser höchst richtigen Ansicht widersprechen. Als „absoluter“ Idealist betrachtete er die logischen Eigenschaften der „Idee“ als die Grundursache aller Entwicklung, somit auch der historischen Bewegung. Und jedesmal, wenn er es mit einer großen historischen Frage zu thun hatte, berief er sich vor Allem auf jene Eigenschaften der „Idee“. Letzteres hieß aber den historischen Boden verlassen und freiwillig sich jede Möglichkeit nehmen, die wirklichen Ursachen der historischen Bewegung aufzudecken. Als ein Mann von riesiger, wahrhaft seltener Denkkraft, fühlte er nun freilich selbst, daß die Sache nicht stimmen wolle, daß seine Erklärungen eigentlich gar nichts erklärten. Er beeilte sich daher, nachdem er der „Idee“ den gebührenden Respekt gezollt, auf den konkreten historischen Boden herabzusteigen, um die reellen Ursachen der gesellschaftlichen Erscheinungen nicht mehr in den Eigenschaften der Idee, sondern in ihnen selbst zu suchen, in den Erscheinungen, mit deren Erforschung er sich jeweils beschäftigte. Dabei äußerte er sehr häufig höchst geniale Vermuthungen (indem er die ökonomischen Ursachen der historischen Bewegung durchschaute). Allein es waren eben doch bloße Vermuthungen. Ohne feste systematische Grundlage spielten sie keine wichtige Rolle in den historischen Ansichten Hegel’s und seiner Schüler. Zur Zeit, da sie geäußert wurden, beachtete man sie gar nicht. – Die der Gesellschaftswissenschaft dieses Jahrhunderts von Hegel vorgezeichnete große Aufgabe blieb ungelöst: die wirklichen, inneren Ursachen der historischen Bewegung der Menschheit blieben unentdeckt. Und selbstverständlich war Rußland nicht das Land, wo sie endteckt werden konnten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse Rußlands waren zu unentwickelt, der gesellschaftliche Stillstand wurzelte dort zu fest, als daß die gesuchten Ursachen dort an die Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens hätten treten können. Jene Ursachen wurden entdeckt von Marx und Engels in Westeuropa, in einer ganz anderen sozialen Umgebung. Indeß auch das geschah etwas später, zu der in Frage stehenden Zeit waren auch die westeuropäischen radikalen Hegelianer noch in den Widersprüchen des Idealismus verstrickt. Nach all’ dem Gesagten wird es einleuchten, warum die jungen russischen Schüler Hegel’s mit einer völligen Versöhnung mit der russischen „Wirklichkeit“ anfangen mußten, einer „Wirklichkeit“, die, nebenbei gesagt, so niederträchtig war, daß Hegel selbst sie nie und nimmer als „wirklich“ anerkannt hätte: da sie ihr negatives Verhalten zu dieser Wirklichkeit theoretisch nicht rechtfertigen konnten, verlor es in ihren Augen jede vernünftige Existenzberechtigung. Sie verzichteten daher auf ihre Negation und brachten selbstlos ihre sozialen Bestrebungen ihrem philosophischen Gewissen zum Opfer.

Auf der anderen Seite sorgte aber die Wirklichkeit selbst dafür, daß sie wieder gezwungen wurden, jenes Opfer zurückzunehmen. Alltäglich und allstündlich führte ihnen die Wirklichkeit ihre eigene Niederträchtigkeit vor Augen und Zwang sie, die Negation um jeden Preis festzuhalten, d.h. selbst dann, wenn diese theoretisch nicht hinreichend begründet war. So gaben sie denn dem Drängen der Wirklichkeit nach und nahmen ihr gegenüber eine feindliche Haltung ein, ohne sich weiter darum zu kümmern, ob dies dem Geist der Hegel’schen Philosophie entsprach oder nicht. Die russischen Hegelianer lehnten sich also gegen ihren Meister auf und fingen an, dessen noch vor Kurzem in ihren Augen so ehrwürdige „philosophische Nachtmütze“ mit Spott zu überschütten. Diese Auflehnung war nun freilich unter den damaligen Umständen unleugbar etwas durchaus Lobenswerthes. Man darf jedoch nicht vergessen, daß die vorgeschrittenen Männer Rußlands eben dadurch zugleich das Niveau ihrer theoretischen Anforderungen herabgedrückt und den Gedanken aufgegeben hatten, ihre Negation durch den objektiven Gang der gesellschaftlichen Entwicklung zu rechtfertigen, indem sie sich damit begnügten, daß ihre Negation ihrer persönlichen Stimmung entsprach. Auf diese Weise haben sich also die Gegner der russischen „Wirklichkeit“ auf den utopistischen Standpunkt gestellt, an welchem nach ihnen gar manche russische Revolutionäre festhielten. Erst jetzt, unter dem Einfluß der Lehren von Marx und Engels, macht sich in Rußland ein gewisser Umschwung zum wissenschaftlichen Sozialismus bemerkbar. Zu der in Frage stehenden Zeit, d.h. im Anfang der Regierungszeit Alexanders II., gingen selbst die talentvollsten Vertreter des revolutionären Gedankens in Rußland nicht über den utopischen Sozialismus hinaus, und sie konnten auch nicht darüber hinausgehen.

Der utopische Sozialismus verstand es bekanntlich durchaus nicht, dem Proletariat irgendwie bestimmte politische Aufgaben zu setzen. Sah er doch im Proletariat weiter nichts als eine unterdrückte und leidende Masse, die unfähig sei, ihre Sache selbst zu betreiben. Dies war die schwächste Seite des utopischen Sozialismus in politischer Beziehung, diejenige Seite, die in der vormarxistischen Periode der gesammten sozialistischen Bewegung scharf hervortritt. In Rußland äußerte sich nun diese schwache Seite des utopischen Sozialismus darin, daß dessen Anhänger in ihrem Verhalten zum Zarismus fortwährend schwanken und noch bis heute schwanken. Bald glaubten sie, sie sollten „die Todten ihre Todten begraben lassen“ und nur für die Verwirklichung ihrer mehr oder weniger sozialistischen „Ideale“ arbeiten, dabei alles ignoririrend, was auch nur entfernt nach „Politik“ roch. Bald schwärmten umgekehrt von „rein politischen“ Verschwörungen, und salvirten ihr sozialistisches Gewissen mit der Erwägung, daß ja das russische „Volk“ auch ohne jegliche sozialistische Propaganda stets „von Natur aus“ kommunistisch war und sein wird. Diese wohlthuende Ueberzeugung stützte sich auf die in Rußland existirende Landgemeinde mit periodischen Umtheilungen, welche der Deutsche Haxthausen – übrigens dank den Anregungen durch die Slavophilen – entdeckt hatte.

„Die materialistische Lehre,“ – schrieb Marx im Frühjahr 1845 [7] –, „daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden, und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Nothwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Theile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist (z.B. bei Robert Owen).“ – Die russischen Anhänger des utopischen Sozialismus stellten sich stets in ihren Programmen über die Gesellschaft, was ihnen denn auch viel Mißgeschick und viele Enttäuschungen einbrachte.

Der Leser begreift, daß die zitirten Worte von Marx sich nicht auf den – gerade mit Marx’ Namen eng verknüpften – modernen dialektischen Materialismus beziehen, sondern auf den alten metaphysischen Materialismus, der weder die Natur, noch die gesellschaftlichen Verhältnisse vom historischen Standpunkt aufzufassen vermocht hat. Dieser Materialismus war es nun, der in Rußland zu Ende der fünfziger Jahre sich sehr stark auszubreiten begann. Die Namen von Karl Vogt, Büchner, Moleschott gelangten damals zu einer ehrenvollen Berühmtheit, während die deutschen idealistischen Philosophen als Reaktionäre verschrieen wurden. Mit besonderer Erbitterung wandte sich nunmehr das „Proletariat der Intelligenz“ Rußlands gegen Hegel. Das war jedoch ein Extrem, von dem sich die gebildetsten Vertreter der Geschichte der deutschen Philosophie bekannt waren, achteten nach wie vor in Hegel den großen Denker, obwohl sie allerdings für sei-ne Philosophie nichts weniger als begeistert waren. Für sie war damals die erste philosophische Autorität Feuerbach. – Feuerbach steht nun zwar weit über Vogt oder Moleschott. Er fühlte instinktiv die Mängel des von ihnen gepredigten Materialismus heraus. Allein er vermochte nicht, diese Mängel kritisch zu überwinden, sich zur dialektischen Auffassung der Natur und Gesellschaft emporzuarbeiten: „Er geht vom Menschen aus; aber von der Welt, worin dieser Mensch lebt, ist absolut nicht die Rede, und so bleibt dieser Mensch stets derselbe abstrakte Mensch, der in der Religionsphilosophie das Wort führte. Dieser Mensch ist eben nicht aus dem Mutterleib geboren, er hat sich aus dem Gott der monotheistischen entpuppt, er lebt daher auch nicht in einer wirklichen, geschichtlich entstandenen und geschichtlich bestimmten Welt; er verkehrt zwar mit anderen Menschen, aber jeder andere ist ebenso abstrakt wie er selbst.“ [8]

Es ist demnach klar, daß Feuerbach’s Philosophie nicht im Stande war, den gebildeten Rasnotschinzi der fünfziger Jahre die schwache Seite des utopischen Sozialismus aufzudecken. Und über Feuerbach ging zu jener Zeit in Rußland Niemand hinaus. Die historischen Anschauungen von Marx und Engels waren dort noch ganz unbekannt. Zwar wurde Darwin’s Werk über die Entstehung der Arten sehr bald nach dessen Erscheinen ins Russische übersetzt; aber die „Proletarier der Intelligenz“ benützten es ausschließlich als eine Waffe im Kampfe gegen die religiösen Vorurtheile. Die „Proletarier der Intelligenz“ blieben auf lange Zeit hinaus tief im einseitigen metaphysischen Materialismus stecken.

Ueberdies müssen wir darauf hinweisen, daß die ökonomischen Kenntnisse nicht nur des lesenden Publikums, sondern auch der bebildetsten Schriftsteller der vierziger Jahre äußerst dürftig waren. Bjelinsky berührte nie ökonomische Fragen in seinen Abhandlungen, und Herzen beharrte bis zu seinem Tode in der Ueberzeugung, daß Proudhon ein großer Oekonom gewesen sei. Im Anfang der sechziger Jahre wurde zwar die politische Oekonomie in Rußland förmlich zu einer Mode-Wissenschaft, allein die Begeisterung konnte nicht die mangelnden positiven Kenntnisse ersetzen: die ersten Versuche auf dem Gebiete dieser Wissenschaft waren nothwendig utopischer Art.

Engels bemerkt irgendwo, die „Liebe“ habe den deutschen Sozialisten der utopischen Periode über allerhand theoretische Schwierigkeiten hinweggeholfen. Dasselbe trifft in bedeutendem Maße auch auf die „Proletarier der Intelligenz“ Rußlands zu, – nur daß dort, wo die „Liebe“ den Dienst versagte, jene abstrakte „Vernunft“ herbeigeholt wurde, die das hervorstechende Merkmal aller Aufklärungsperioden bildet. Vom Standpunkt dieser Vernunft wurden leicht und rasch die Schwierigkeiten gesellschaftlicher Fragen gelöst. – Puschkin erzählt von einer hochgesellschaftlichen alten russischen Dame, die den bekannten französischen Revolutionär Romme in ihrer Jugend kannte, sie habe sich über diesen geäußert, wie folgt: „C’était une forte tête, un grand raisonneur; il vous aurait rendu claire l’apocalypse.“ Solche „fortes têtes“ und „grandes raisonneurs“ waren nun auch die russischen Aufklärer der ersten Regierungsjahre Alexanders II. Sie hätten, ebenso gut wie Romme, die Apokalypse erklären können, ohne auf den Gedanken zu kommen, sie vom historischen Standpunkte aus zu betrachten.



Anmerkungen

1. „Wie wenig die Nikolaus’schen Wachtparade-Feldherren mit der Kriegskunst vertraut waren, sieht man z.B. aus den Operationen des Generals Korf bei Eupatoria, der im Angesicht des Feindes keine Vorposten aufgestellt hatte und in Folge dessen eine Batterie und viele Soldaten Verlor. Es gab unter ihnen auch Feiglinge, wie der General Kirjakow, der bei Alma sich in einem Hohlweg versteckt hielt.“ (Skizzen aus der russischen Geschichte, vom Krimkrieg bis zum Berliner Traktat. Anonym erschienen. Leipzig 1879. 2. Band, S. 33). – Vor einigen Jahren veröffentlichte die russische historische Revue Russkaja Starina Erinnerungen eines russischen Theilnehmers am Krimkriege, worin erzählt wird, die Franzosen hätten mit Staunen die von ihnen auf den Schlachtfeldern aufgelesenen russischen Gewehre betrachtet: „Seht, mit welchen Waffen diese Barbaren kämpfen!“ riefen sie erstaunt aus.

2. Das Schicksal der Philosophie war in Rußland stets sehr wechselvoll. Bald wurde die Philosophie, als Abwehr gegen die „Träumereien von Gleichheit und zügelloser Freiheit“, von der Regierung sogar begünstigt, bald aber wurde sie aus den Universitäten verbannt als die Hauptquelle eben jener „Träumereien“. Letzteres geschah unter Nikolaus im Jahre 1850. „Den verführerischen Vernünfteleien der Philosophie ist ein Ende gemacht worden!“ rief bei dieser Gelegenheit der damalige Minister der Volksaufklärung entzückt aus. Einige der Philosophieprofessoren wurden dabei zu Zensoren ernannt. Man sieht schon daraus, wie nüchtern ihre „Träumereien von zügelloser Freiheit“ gewesen sein müssen.

3. Bekanntlich ist für die russische Weltgeistlichkeit nicht das Zölibat, sondern vielmehr die Ehe obligatorisch.

4. Aus einem Brief von I.S. Turgenjew an Herzen vom 8. Oktober 1862.

5. Allerdings giebt es in Rußland – unter den Beamten – einen „persönlichen“ Adel; schon die Bezeichnung aber zeigt, daß dessen Standesrechte nicht erblich sind.

6. Vergl. den vortrefflichen Artikel von P. Axelrod: „Das politische Erwachen der russischen Arbeiter“, Neue Zeit, X. Jahrg., Nr. 28–30.

7. Siehe Anhang zu Ludwig Feuerbach von Fr. Engels, S. 37.

8. Fr. Engels, a.a.O., 3. Kap.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008