Georgi Plechanow


N.G. Tschernischewsky



VI

So verhielt sich Tschernischewsky zu den verschiedenen Ständen und Parteien des damaligen Rußland. Und je tiefer er seinen Gegensatz zu denselben empfand, desto schärfer wurde der Ton seiner Aufsätze, desto schonungsloser wurde sein Spott, desto öfter stürzte er sich kopfüber in die Polemik. Ueberhaupt liebte er die Polemik über alles. Wie er selbst sagt, bemerkten in ihm sogar seine Freunde eine starke, „nach ihrer Meinung sogar übergroße Vorliebe zur Aufklärung von Streitpunkten durch eine heftige Polemik“. [1] Die Polemik schien ihm immer ein sehr bequemes, ja, wenn man will, auch ein nothwendiges Mittel zur Verbreitung von neuen Anschauungen. Trotzdem schien er im Beginn seiner literarischen Thätigkeit jede Polemik vermeiden zu wollen. Seine erste größere Arbeit Die Umrisse der Gogol’schen Periode der russischen Literatur sind in einem ruhigen und versöhnenden Tone geschrieben. Nach und nach aber nahm die Sachen eine andere Wendung.

Die heftigsten polemischen Aufsätze Tschernischewsky’s wurden zu Ende der fünfziger Jahre geschrieben, zur Vertheidigung der bäuerlichen Landgemeinden. – Schlimm erging es damals den patentirten Vertretern der liberalen Oekonomie und besonders Wernadsky, dem Redakteur des Oekonomischen Wegweisers. Tschernischewsky hat diesen Staatsrath und Doktor der historischen Wissenschaften, der politischen Oekonomie und der Statistik (so zeichnete der auf seine Diplome stolze Wernadsky), förmlich unsterblich lächerlich gemacht. Der aufs Haupt geschlagene Gelehrte mußte nicht nur das Schlachtfeld schimpflichst räumen, sondern – zur Vervollständigung des komischen Effekts – er erging sich sogar in Achtungsbezeugungen gegen denselben Tschernischewsky, welchen er zu Beginn der Polemik als einen frechen Ignoranten zu behandeln sich herausgenommen hatte. Man muß allerdings bekennen, daß es kaum möglich ist, eine Sache geschickter zu vertheidigen, als Tschernischewsky die Landgemeinde ver-theidigte. Er hat zu ihren Gunsten durchaus alles gesagt, was man nur darüber sagen konnte, und er hätte wohl auch dann den Sieg davongetragen, wenn seine Gegner um ein Vielfaches stärker gewesen wären, als sie es thatsächlich waren. Wenn die russische „Intelligenz“ bis jetzt noch so sehr an der Landgemeinde festhält, so ist dies dem untilgbaren Einfluß von Tschernischewsky zuzuschreiben.

Eines seiner Hauptargumente zu Gunsten der Landgemeinde bestand darin, daß sie Rußland vor der „Plage des Proletarierthums“ bewahren könne. Dabei scheinen ihm jedoch mehr als einmal die Erörterungen der Reaktionäre vom Schlage des Barons Haxthausen in den Sinn gekommen zu sein, wonach die „Plage des Proletarierthums“ eben die Hauptquelle der revolutionären Bewegung in Europa sei. Und da stiegen in ihm Zweifel auf über die Vortheile, die eine Verhütung der genannten „Plage“ der Sache des russischen Fortschritts bringen würde. Solche Zweifel beschwichtigte er aber leicht durch folgende Erwägungen: „Obwohl die Bauern bei uns (in Rußland) immer den Grund und Boden der Landgemeinde-Ordnung gemäß benutzen, so erschienen sie doch in der Geschichte nicht immer ... als eine unbewegliche Masse ... Wir brauchen uns hier nicht über den Charakter des westeuropäischen Bauers zu verbreiten. Wir erinnern nur daran, daß die Kosaken meistens von Bauern stammten, und daß seit dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts fast alle dramatischen Episoden in der Geschichte des russischen Volkes durch die Energie der Bauernbevölkerung hervorgerufen wurden ...“ Man sieht, hier werden die Bauernkriege ihrer historischen Bedeutung nach auf die gleiche Linie mit den revolutionären Bewegungen des modernen Proletariats gestellt, – eine Verwechslung, die bei den heutigen Sozialisten schlechterdings unmöglich ist, die aber für die russischen Revolutionäre der Zeit Tschernischewsky’s ganz unbemerkt blieb.

Die liberalen Oekonomen behandelten die Landgemeinde als eine rückständige Form des Grundbesitzes, die ausschließlich den primitiven und barbarischen Völkern eigenthümlich sei. Zur Abwehr dieses Arguments berief sich nun Tschernischewsky auf Hegel. – Die dritte und letzte Entwicklungsphase jeder Erscheinung, führte er aus, ist der ersten Phase sehr ähnlich. Mit dem Gemeineigenthum an Grund und Boden haben die Völker begonnen, und zu demselben werden sie unbedingt in mehr oder minder naher Zukunft zurückkehren. Die westeuropäischen Völker allerdings gingen und zwar mit Nothwendigkeit von dem primitiven Gemeindeeigenthum für eine gewisse Zeit zum Privateigenthum an Grund und Boden über. Allein diese Zwischenstufe kann vollständig vermieden werden von anderen Ländern, die von der historischen Entwicklung später ergriffen wurden und daher die Erfahrungen des europäischen Westens benutzen können. Zu diesen Ländern gehört auch Rußland. Rußland hat absolut keinen Grund, jene Form des Grundbesitzes bei sich einzuführen, deren Unhaltbarkeit durch die westeuropäische Geschichte bereits klar bewiesen worden ist.

Die Abhandlung, worin diese Argumentation enthalten ist, ist so geschickt und – äußerlich – so überzeugend abgefaßt, daß die liberalen Gegner der Landgemeinde dagegen nichts einzuwenden mußten. Schon dieser Umstand allein zeigt, wie sehr ihre eigene Auffassung von sozialen Fragen abstrakt war. Konnten doch Tschernischewsky’s Argumente nur Leuten imponiren, die sich über die Gesellschaft stellen, – nur Utopisten verschiedener Richtungen. In der That, bei Hegel vollzieht sich jede Entwicklung – im Denken, in der Natur, in der Gesellschaft – aus sich selbst, kraft der ihr innewohnendem Dialektik. Wollte also Tschernischewsky die Landgemeinde vom Hegel’schen Standpunkte aus verfechten, so mußte er zeigen, daß die inneren Verhältnisse der russischen Landgemeinde von selbst zu einer Gesellschaftsordnung führen, die einerseits von den „Irrthümern“ des Westens frei und anderseits nahe verwandt sei den Idealen der Sozialisten (in deren Person eben die westeuropäischen Völker die Unzuträglichkeiten und die Unhaltbarkeit des Privateigenthums an Grund und Boden erkannt haben). Tschernischewsky aber spricht kein Wort von einer solchen Logik des ländlichen Gemeindebesitzes. Diese objektive Logik wird bei ihm ersetzt durch die subjektive Logik der „vorgeschritteneren“ Russen, die mit dem westeuropäischen Sozialismus (in seiner utopistischen Form) bekannt sind und die da meinen, daß Rußland die Erfahrungen der vorgeschritteneren Länder benutzen solle. Hegel wäre wohl kaum mit einer solchen Anwendung seiner Ansichten einverstanden gewesen, – schon ganz abgesehen davon, daß bei Hegel die dritte Entwicklungsphase nur eine formale Aehnlichkeit mit der ersten aufweist, während Tschernischewsky die sozialistische Gesellschaft – wie diese den utopistischen Sozialisten erschien, mit der, obendrein von der wirklich ursprünglichen Form des Grundbesitzes sehr weit entfernten, russischen Landgemeinde nahezu indentifiziert.

„Eine abstrakte Wahrheit giebt es nicht, die Wahrheit ist konkret ... Alles hängt von den zeitlichen und räumlichen Umständen ab“ – schrieb derselbe Tschernischewsky in einer anderen Abhandlung, dort ebenfalls Hegel’s Ansichten darlegend. Indem er die Landgemeinde vom Hegel’schen Standpunkte aus zu verfechten suchte, hätte er vor Allem diese Seite der Hegel’schen Auffassung im Auge behalten sollen. In diesem Falle würde er ganz anders geurtheilt haben. Ist die Landgemeinde ein gutes oder ein schlechtes Ding? Im Allgemeinen läßt sich diese Frage nicht in bestimmter Weise beantworten: man muß eben wissen, welches der gegenwärtige Zustand der Landgemeinde ist und was ihr am wahrscheinlichsten in der Zukunft bevorsteht. „Eine abstrakte Wahrheit giebt es nicht, die Wahrheit ist konkret.“ ... Tschernischewsky wollte aber gerade trotzdem eine abstrakte Wahrheit finden – und er gerieth in Widerspruch gerade zu der Philosophie, auf die er sich zu stützen suchte.

Wie vollständig er das Unhaltbare seiner abstrakten Auffassung von der Landgemeinde verkannte, zeigt folgender merkwürdiger Umstand. Der Abhandlung, deren Argumentation zu Gunsten der Landgemeinde wir soeben dargelegt haben, geht eine Einleitung voran, in welcher unser Autor die den Lesern bereits bekannte trostlose Ansicht über die Zukunft des russischen bäuerlichen Grundbesitzes äußert und „sich schämt“, daß er die Vertheidigung der Landgemeinde leichtsinnig unternommen habe. Auf den ersten Blick erscheint dies nun ganz unbegreiflich: einerseits sagt er, er sei „in seinen eigenen Augen thöricht“, ja geradezu „dumm“ geworden – weil er die Landgemeinde vertheidigt habe, anderseits aber – schickt er sich gerade an, sie von Neuem zu vertheidigen, und zwar mit – seiner Meinung nach – unüberwindlichen Waffen. Was soll das nun bedeuten? Eben nur, daß er in dem einen Falle von der wirklichen russischen Landgemeinde, von deren historisch bestimmter Lage spricht. Die Sache dieser Landgemeinde scheint ihm endgiltig verloren zu sein. Als Utopist aber rechnet er nicht allein mit den wirklichen sozialen Verhältnissen. Er berücksichtigt auch die möglichen Verhältnisse, die in der Weltanschauung jedes Utopisten eine so große Rolle spielen. Unter dem Gesichtspunkt dieser möglichen Verhältnisse bleibt nun aber die Landgemeinde nach wie vor ein vortreffliches Ding, – sie zu vertheidigen ist mithin nicht nur nicht tadelnswerth sondern vielmehr lobenswerth. Die Möglichkeit erweist sich also als ein von der Wirklichkeit ganz unabhängiges Gebiet. Diesen logischen Fehler findet man später bei allen russischen Volksthümlern bis auf G.I. Uspensky wieder. Uebrigens unterscheidet sich Tschernischewsky’s Auffassung von der Landgemeinde immerhin sehr wesentlich von derjenigen der Volksthümler.

Die Diskussion, welche Tschernischewsky mit den russischen liberalen Oekonomen über die Landgemeinde angefangen hatte, erhielt bald einen allgemeineren theoretischen Charakter und wandte sich den allgemeinen Fragen der Sozialpolitik zu. Die russischen Manchestermänner, den Dogmen der vulgären Oekonomie getreu, unter deren Einfluß sich alle ihre Anschauungen ausgebildet hatten, beeilten sich, ihr hauptsächliches theoretisches Bollwerk in den Vordergrund zu schieben: das Prinzip der Nichteinmischung des Staates. Sie wußten ja, daß auf diesem Prinzip die ganze Lehre Bastiat’s und seiner Epigonen beruhte, und sie hegten den naiven Glauben, Niemand in der Welt sei im Stande, Bastiat zu widerlegen. Natürlich nahm die Sache einen solchen Verlauf, daß der Streit über die Nichteinmischung des Staates in das ökonomische Leben des Volkes nur zu einem neuen Triumph für Tschernischewsky Gelegenheit gab. Ohne alle Mühe, scherzend und spottend, schlug er die ganze Bastiat’sche Weisheit in Stücke. Sein Aufsatz Die ökonomische Thätigkeit und die Gesetzgebung kann als eine der gelungensten Widerlegungen der Theorie des „laissez faire, lassez passer“ gelten, und zwar nicht nur in der russischen ökonomischen Literatur, wo Tschernischewsky noch bis jetzt den ersten Rang behauptet, sondern überhaupt in der ganzen Literatur des europäischen Sozialismus. Er setzt da seine ganze dialektische Kraft und seine ganze polemische Gewandtheit ins Werk. Der Kampf, wo er mit solcher Leichtigkeit die Schläge seiner Gegner parirt, amüsirt ihn gleichsam. Er spielt mit ihnen, wie die Katze mit der Maus; er macht die denkbar größten Konzessionen, erklärt sich bereit, jede beliebige These ihrer Lehre anzunehmen, – um erst später, nachdem er ihnen die günstigsten Bedingungen für ihren Triumph zugestanden hat, zur Offensive überzugehen und sie mit drei bis vier Syllogismen ad absurdum zu führen. Darauf kommen wieder neue Konzessionen, neue, noch günstigere Deutungen derselben These und wieder neue Beweise ihrer Absurdität. Und am Schluß hält Tschernischewsky, nach seiner Gewohnheit, seinen Gegnern eine Strafpredigt und giebt ihnen zu verstehen, daß sie nicht nur von den strengen Methoden des wissenschaftlichen Denkens keinen Begriff haben, sondern auch nicht einmal von den elementarsten Forderungen des einfachen gesunden Menschenverstandes. Es ist bemerkenswerth, daß das Prinzip der Nichteinmischung des Staates, welches in Rußland zu Ende der fünfziger und am Anfang der sechziger Jahre so warme Verfechter fand, bald von den russischen Oekonomen fast vollständig aufgegeben worden ist. Dies erklärt sich freilich sowohl durch die allgemeine Lage der russischen Industrie und des russischen Handels, als auch durch die späteren Einflüsse der deutschen kathedersozialistischen Schule auf die russischen Theoretiker. Unzweifelhaft aber kommt dabei wesentlich auch der Umstand in Betracht, daß das genannte Prinzip schon bei dem ersten Anfang seiner Verbreitung in der russischen Literatur auf einen so mächtigen Gegner stieß, wie N.G. Tschernischewsky. Die russischen Manchestermänner haben von ihm eine Lektion bekommen, die sie bis auf den heutigen Tag nicht vergessen haben.


Anmerkung

1. Werke, 5. Band, S.472.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008