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In der Leipziger Volkszeitung haben wir nachgewiesen, dass Kautsky mit Unrecht aus unserer Betonung des Organisationsgeistes als das Wesentliche der Organisation ableitet, dass nach meiner Auffassung der Organisationskörper nicht nötig sei. Es bedeutet, dass trotz aller Angriffe auf die äußeren Verbandsformen die Massen, in denen dieser Geist lebt, sich immer wieder zu neuen Organisationen zusammenschließen werden. Und wenn Kautsky erwartet, dass der Staat sich hüten wird, die Arbeiterorganisationen anzugreifen – in 1903 war er noch entgegengesetzter Meinung; siehe Protokoll Dresden, S. 383 –, so kann auch nur der von ihm verspottete Organisationsgeist diesen Optimismus begründen.
Der Organisationsgeist ist in der Tat die bewegende Seele, die dem Körper erst Lebenskraft und Aktionsfähigkeit gibt. Aber diese unsterbliche Seele kann nicht nach christlicher Theologie leiblos im Himmelreich schweben; sie schafft sich immer wieder den Organisationskörper, weil sie die Menschen, in denen sie lebt, zum gemeinsamen, organisierten Handeln zusammenfügt. Dieser Geist ist nicht etwas Abstraktes, Vorgestelltes im Gegensatz zu der „konkreten wirklichen Organisation“, der bestehenden Vereinsform, sondern er ist genau so konkret und wirklich wie diese. Er bindet ihre Elemente, die einzelnen Personen, fester zusammen, als Satzung und Statut sie binden können, so dass sie nicht mehr in lose Atome auseinander fallen, wenn das äußere Band mit Satzung und Statut wegfällt. Wenn die Organisationen als gewaltige, feste, nicht zu spaltende Massenkörper auftreten und handeln können, wenn weder im Angriff und im Kampfe, noch beim Abbruch des Kampfes oder bei einer Niederlage die Geschlossenheit zerbricht, wenn alle als die selbstverständlichste Sache der Welt das eigene Interesse gegen das Interesse der Gesamtheit zurückstellen – so liegt der Grund dazu nicht in den Statutenbestimmungen über Rechte und Pflichten der Mitglieder, auch nicht in der Zaubermacht der Kassen oder der demokratischen Verfassung, sondern in dem Organisationsgeist des Proletariats, in der tiefen Umwandlung seines Charakters. Was Kautsky über die Machtmittel der Organisation sagt, ist gewiss sehr richtig; die Güte der Rüstung, die das Proletariat sich schmiedet, gibt Selbstvertrauen und Kraftgefühl – über die Notwendigkeit für die Arbeiter, sich möglichst gut zu rüsten in kräftigen Zentralverbänden mit guten Kassen, besteht keine Meinungsverschiedenheit unter uns. Aber die Vorzüglichkeit dieser Rüstung beruht als Grundlage auf der Opferwilligkeit der Mitglieder, auf ihrer Disziplin gegen den Verband, auf ihrer Solidarität gegenüber den Genossen, kurz darauf, dass sie ganz andere Menschen geworden sind als die alten individualistischen Kleinbürger und Bauern. Wenn Kautsky diesen neuen Charakter, den Organisationsgeist, für eine Folge der Organisation erklärt, so braucht das erstens zu unserer Auffassung nicht in Widerspruch zu stehen, und zweitens ist es nur halbwegs richtig. Denn diese Umwandlung der menschlichen Natur im Proletariat ist zuerst eine Wirkung der Lebenslage der Arbeiter, die schon durch die gemeinsame Ausbeutung als Masse in derselben Fabrik zum gemeinsamen Handeln erzogen werden, und weiter eine Wirkung seines Klassenkampfes, also der Kampfpraxis der Organisation – die Vereinspraxis des Wählens von Vorständen und des Zahlens von Beiträgen dürfte dabei wohl die allergeringste Rolle spielen.
Worin das Wesen der proletarischen Organisation besteht, ergibt sich sofort, wenn man sich die Frage stellt, was eigentlich eine Gewerkschaft unterscheidet von einem Skatklub, einem Verein zur Bekämpfung der Tierquälerei oder einem Unternehmerverband. Kautsky stellt sich offenbar diese Frage nicht und sieht keinen tiefgehenden prinzipiellen Unterschied zwischen ihnen; daher stellt er auch die gelben Vereine, in die die Unternehmer ihre Arbeiter hineinzwingen, als etwas Gleichartiges neben die kämpfenden proletarischen Organisationen. Er sieht die weltumwälzende Bedeutung der proletarischen Organisation nicht. Er glaubte uns Missachtung der Organisation vorwerfen zu können; in Wirklichkeit schätzt er sie viel niedriger ein als wir. Von allen anderen Vereinen unterscheiden sich die Arbeiterorganisationen dadurch, dass in ihnen eine Solidarität, die völlige Unterordnung des einzelnen unter die Gemeinschaft als das Wesen eines neuen, werdenden Menschtums aufwächst und ihre Kraft bildet. Die proletarische Organisation macht die zuvor zersplitterte machtlose Masse zu einer Einheit, zu einem Wesen mit bewusstem Willen und selbständiger Kraft. Sie bildet den Anfang eines Volkes, das sich selbst verwaltet, das eigene Schicksal regelt und dazu zuerst die fremde Zwangsgewalt von sich abwälzt. In ihr wächst die einzige Macht empor, die die Klassenherrschaft des Ausbeutertums beseitigen kann; das Wachsen der proletarischen Organisation bedeutet im Prinzip schon das Zurückdrängen aller Funktionen der Klassenherrschaft; sie ist die selbst geschaffene Ordnung des Volkes, die im zähen Kampfe die störenden Brutalitäten und despotischen Unterdrückungsversuche der herrschenden Minderheit zurückdrängen und beseitigen muss. In der proletarischen Organisation wächst die neue Menschheit empor, die jetzt zum ersten Male in der Weltgeschichte als eine zusammenhängende Einheit im Entstehen begriffen ist; die Produktion wächst zu einer einheitlichen Weltwirtschaft zusammen, und in den Menschen wächst zugleich das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, die feste Solidarität, die Brüderlichkeit, die sie zu einem von einheitlichem Willen beherrschten Organismus zusammenbinden. Für Kautsky besteht die Organisation nur in dem „wirklichen konkreten „ Verband oder Verein, von den Arbeitern zu irgendeinem praktischen Zwecke in ihrem Interesse geschaffen und, ähnlich wie ein Unternehmerverband oder ein Krämerverein, nur durch äußere Bindung und Satzung des Statuts zusammengehalten. Fällt dieses äußere Band weg, so fällt das Ganze wieder in Einzelindividuen auseinander und ist die Organisation verschwunden. Aus dieser Auffassung wird es verständlich, weshalb Kautsky die Gefahren, die die Organisation von innen heraus bedrohen, so schwarz ausmalt und so eindringlich gegen unvorsichtige „Kraftproben“ warnt, die Entmutigung, Massendesertion und Untergang der Organisation mit sich schleppen. In dieser Allgemeinheit lässt sich gegen eine solche Mahnung nichts einwenden; unvorsichtige Kraftproben will ja kein Mensch. Die von Kautsky hervorgehobenen schlimmen Folgen einer Niederlage sind auch keine Phantasien; sie entsprechen der Erfahrung einer anfangenden Arbeiterbewegung. Wenn die Arbeiter zuerst zum Organisationsleben erwachen, erwarten sie große Dinge von ihr und ziehen voll Begeisterung in den Kampf; geht der Kampf verloren, dann kehren sie oft enttäuscht und mutlos der Organisation den Rücken, weil sie sie nur von dem unmittelbar praktischen Standpunkt, als Vereine für direkte Vorteile betrachten und der neue Geist in ihnen noch nicht fest Wurzel fassen konnte. Welch ein ganz anderes Bild bietet aber die entwickelte Arbeiterbewegung, wie sie den fortgeschrittensten Ländern immer stärker ihre Züge aufprägt! Immer wieder sehen wir hier, wie die Arbeiter an ihrer Organisation mit der größten Zähigkeit festhalten, wie sie in großen Kämpfen alles aufs Spiel setzen, um ihre Organisationen zu behalten, wie sie durch keine Niederlage und kaum durch den schlimmsten Terrorismus von oben dazu zu bewegen sind, die Organisation aufzugeben. Sie sehen nicht bloß in der Organisation einen Verein, zu nützlichen Zwecken, nein, sie fühlen, dass darin ihre einzige Kraft, ihr einziger Rückhalt liegt, dass sie ohne Organisation machtlos und wehrlos sind, und mit der Allgewalt des Instinktes der Selbsterhaltung beherrscht dieses Bewusstsein ihr ganzes Handeln.
Natürlich sind noch nicht alle Arbeiter so, aber sie werden es immer mehr; dieses neue Wesen entwickelt sich immer stärker im Proletariat. Und daher wird die Gefahr, die Kautsky so schwarz ausmalt, immer weniger schwerwiegend. Gewiss bringt der Kampf Gefahren mit sich, aber zugleich ist der Kampf das Lebenselement der Organisation, worin sie allein wachsen und innerlich kräftig werden kann. Eine Kampftaktik aber, die uns nur Siege und keine Niederlagen bringt, kennen wir nicht; auch bei der größten Vorsicht sind Rückschläge und Niederlagen nicht zu vermeiden, es sei denn, dass man kampflos das Feld räumen wollte, was meist schlimmer wäre als eine Niederlage. Wir müssen damit rechnen, dass nur zu oft auf das kräftige Vorwärtsdringen eine Niederlage folgt, die dem Ansturm ein Halt zuruft, ohne dass die Möglichkeit besteht, dem Kampfe auszuweichen. Mögen wohlmeinende Führer deshalb vor den schlimmen Folgen der Niederlage warnen, die Arbeiter können antworten: Glaubt ihr wirklich, dass wir, denen uns die Organisation in Fleisch und Blut übergegangen ist, die wir wissen und fühlen, dass uns die Organisation mehr ist als das Leben – denn sie ist Leben und Zukunft unserer Klasse –, dass wir bei einer Niederlage sofort unser Vertrauen in die Organisation verlieren und davonlaufen? Gewiss wird von den Massen, die uns im Angriff und im Siege zuströmen, ein ganzer Teil bei dem nächsten Rückschlag wieder abfließen; aber das bedeutet nichts anderes, als dass wir in unseren Aktionen mit größeren Massen zu rechnen haben als dem festen, allmählich wachsenden Bestand unserer unerschütterlichen Kampfbataillone.
Aus dieser Gegenüberstellung der Anschauungen Kautskys und der unsrigen wird auch klar, wie es möglich ist, dass wir, die wir auf dem gleichen theoretischen Boden stehen, in der Beurteilung der Organisation so sehr auseinander gehen können. Es liegt einfach daran, dass wir die Organisation in verschiedenen Entwicklungsstufen vor Augen haben, Kautsky die erst emporkommende Organisation in ihrem Anfang, wir die Organisation in ihrer weiteren Entwicklung. Daher sieht er das Wesentliche der Organisation in der äußeren Form und glaubt er, dass mit dem Antasten dieser Form die ganze Organisation verloren ist. Daher erklärt er, dass die Umwandlung des proletarischen Charakters die Folge und nicht das Wesen der Organisation bildet. Daher sucht er die Hauptwirkung der Organisation auf den Charakter des Arbeiters in der Zuversicht und dem Rückhalt, die ihm die materiellen Mittel der Gesamtheit, namentlich die Kassen bieten. Daher warnt er, dass bei einer großen Niederlage die Arbeiter mutlos der Organisation den Rücken kehren werden. Das entspricht alles der Auffassung, zu der man durch die Beobachtung der im ersten Aufkommen befindlichen Organisation kommen muss. Was er uns gegenüberstellt, beruht also auch auf Wirklichkeit; aber für das, was wir vertreten, nehmen wir das größere Recht in Anspruch, da es die neue, werdende, immer mächtiger sich entfaltende Wirklichkeit ist – vergessen wir nicht, dass Deutschland erst seit einem Jahrzehnt große machtvolle proletarische Organisationen kennt! –, deshalb entspricht es vor allem der Geistesverfassung der jungen Arbeitergeneration, wie sie sich in dem letzten Jahrzehnt ausgebildet hat. Gewiss gilt auch das Alte noch im abnehmenden Maße; Kautskys Auffassungen bilden den Ausdruck des noch Anfangenden, Unvollkommenen, Primitiven in der Organisation, das auch eine Macht, und zwar eine hemmende, zurückhaltende ist. In welchem Verhältnis diese Kräfte zueinander stehen, wird sich in der Praxis ergeben müssen, in Beschluss und Tat der Proletariermassen, die damit bekunden, wessen sie sich fähig erachten.
Zuletzt aktualisiert am 30. Dezember 2019