F. D. N.

Engelsch „Katheder-Socialisme“

(1880)


Quelle: Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, herausgegeben von Dr. Ludwig Richter, 1. Jahrg. 2. Hälfte, Zürich 1880, S. 182–188.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Dr. J. A. Levy
Engelsch „Katheder-Socialisme“
s’Gravenhage, Belinfanto, 1879. (443 S.)

Die Franzosen sprechen von Leuten „qui sachent faire un livre“. Zu diesen Leuten gehört der Verfasser des obengenannten Buches nicht. Denn ein Buch ist kein Komplex von so und soviel Seiten, sondern ein Ganzes: Der Totaleindruck muss die Bearbeitung eines Gedankens sein, wenn auch in mannigfacher Form und mit Rücksicht auf vielerlei Dinge; jede Abschweifung muss zur Erklärung beitragen, alle Nebensachen volles Licht auf das Hauptthema werfen.

Zweifelsohne ist der Verfasser ein sehr gelehrter Mann. Er schreibt mit Sachkenntniss über Philosophie, Volkswirtschaftslehre, Soziologie, Politik und Jurisprudenz. Es genügt ihm nicht, dem Publikum das Produkt seiner Arbeit, das Kind seiner Studien vorzulegen, er führt die Leser mit sich an das Wochenbett, wo das Kind mit Mühe und Sorgen geboren wurde, er ermüdet diejenigen, welche die Geduld haben, ihm zu folgen, er giebt mit einem Wort „des Guten zu viel.“ Sein Buch ist ein grosses Lager, wo Waaren Jeder Art und Qualität in buntem Wirrwarr aufgespeichert liegen. Deshalb meine ich, ohne das horazische „nonum prematur in annum“ hier anzuwenden, es wäre besser gewesen, das reichlich gesammelte Material noch einmal gründlich zu verarbeiten.

In Holland ist wie überall, wenn auch hier etwas später, der Streit zwischen der sogenannten alten Manchesterschule – das Wort im allgemeinen Sinne genommen – und den Kathedersozialisten an der Tagesordnung. Die letzteren werden hier schon als wirkliche Sozialisten, Kommunisten, Petroleure und dergleichen angesehen, und ist ihr Standpunkt in der öffentlichen Meinung verpönt. Sozialisten selbst sind rarae aves, eine beinahe unbekannte Spezies, und ohne die Werke der wissenschaftlichen Sozialisten zu kennen, verurtheilt man sie schlechtweg des Namens wegen. Die akademischen Professoren gehören, mit Ausnahme des Herrn Professor Pekelharing in Delfft, der alten Schule an. Folgendes ist für die Verhältnisse in Holland bezeichnend: der Veteran Vissering aus Leyden war Finanzminister geworden, und es drohte die Gefahr, sein Nachfolger werde ein Kathedersozialist sein. Die Kuratoren der Universität hatten nämlich drei Männer dieser Sichtung in Vorschlag gebracht. Holland war in Noth! Ein zur Minorität gehörendes Mitglied lief raschen Schrittes zum Minister, um die Gefahr zu verhüten und das Vaterland zu retten. Mit drohender Miene schilderte er die Folgen, mit Rembrandtschen Farben malte er Licht und Schatten und endete mit einem gewaltigen „man wird die Kommune einführen!“ Und der gefährliche Kommunemann, der in Frage kam, ist ein ehrsamer Bürger, ein Fortschrittsmann mit selbsthülflerischen Tendenzen à la Schulze-Delitzsch! Mit solchen kann man ohne Furcht Zusammengehen; „lieb Vaterland, kannst ruhig sein.“

Zur Sache. Herr Professor Pierson, der Theorie und Praxis, Wissenschaft und Börse in schöner Harmonie zu vereinen weiss – er ist gleichzeitig Bankdirektor und akademischer Lehrer – ist ohne Zweifel eine tüchtige Gegenparthie. Da die Bank die &bd

quo;tüchtige Kuh“ ist, „die ihn mit Butter versorgt,“ so kann ihm die Wissenschaft glücklicherweise „die hohe, die himmlische Göttin“ bleiben. Freilich war und ist das „zweien Herren dienen“ kein allzuleichtes Geschäft. Dieser Professor nun, ein Freund und Bewunderer Ricardo’s, ist überall da, wo der Kathedersozialismus sich hören lässt, ein kriegslustiger Streiter. Als echter Utilitarier sagt er:

„Prinzipiell sind wir mit den Kathedersozialisten in sofern einverstanden, als wir anerkennen, dass der Egoismus auf sozialem Gebiete gefesselt werden muss, und wir jede aprioristische Theorie in Bezug auf die Grenzen der Staatsintervention verwerfen. Nicht wegen seiner Prinzipien bekämpfen wir den Kathedersozialismus, sondern wegen seiner Praxis, eine Praxis, welche so verwerflich ist, dass unseres Erachtens die Zukunft der politischen Oekonomie sehr traurig sein würde, wenn sie allgemein werden sollte.“Ernst oder Scherz? Göttin oder Kuh? – so fragt man sich. Wenn die Praxis nicht gut ist, da muss ein Fehler in der Theorie sein. Theorie und Praxis sind keine Gegensätze. „Was in der Theorie richtig ist, passt alle Zeit auch für die Praxis“ – so spricht Kant und wir mit ihm. Theorie ist krystallisirte Praxis, gestützt durch die Wirklichkeit.

Dr. Levy tritt wohlbewaffnet auf den Kampfplatz und macht seiner Gegenpartei jedes Fleckchen Boden unter den Füssen streitig. Wirft Professor Pierson dem Kathedersozialismus vor, dass er nur die Frucht einer Reaktion sei, deren Ende natürlich auch sein Tod dein würde, so widerlegt ihn Dr. Levy Wort für Wort. Es ist eine Frage der Methode, es handelt sich um die deduktive und induktive Methode. Herr Levy weist auf den grossen Unterschied zwischen Holland und England hin. Zur selben Zeit, wo Professor Pierson das ausschliesslich gute Recht der orthodoxen Oekonomie vertheidigt, hält der Kathedersozialismus seinen Einzug in die British Association for the advancement of science in der Person ihres Vorsitzenden, des Herrn Ingram, Präsident der volkswirthschaftlichen Gesellschaft in Irland. [1] Er verwirft, was Professor Pierson anpreist. Letzterer anerkennt die relativen Verdienste der deutschen Oekonomen, meint aber, dass ihnen der common sense, eine den Engländern eigenthümliche Eigenschaft fehle; während Herr Ingram der Ansicht ist, dass der Verfall der Oekonomie nur durch die deutschen Mittel verhütet werden kann. Das reimt sich schlecht zusammen.

Soviel im Allgemeinen.

Der Verfasser bespricht in der Einleitung das Verhältniss der Oekonomie zur Soziologie; das eigentliche Werk zerfällt in 12 folgende Kapitel:

  1. Begriff des Naturgesetzes.
  2. Kritik der deduktiven Methode in der Oekonomie.
  3. Kritik der scheinbaren Induktion in der Oekonomie.
  4. Kritik des Egoismus als wirthschaftliches Grundprinzip.
  5. Oekonomisch-juristische Grundlage der Gesellschaft.
  6. Kritik der ökonomischen Schlagworte: Entsagung und Neutralität.
  7. Die Oekonomie als Kunst und als Wissenschaft.
  8. Kritik des Bacon’schen Realismus in der Oekonomie.
  9. Der Idealismus Kant’s, eine ökonomische Forderung.
  10. Die Oekonomie, eine ethische Wissenschaft.
  11. Das ethische Element, ein theoretisches Bedürfniss.
  12. Das ethische Element, eine praktische Forderung.

Das erste Kapitel handelt über Naturgesetze dem Begriffe nach. Aus den Reden und Aufsätzen von Rümelin zitirt der Verfasser einen Aufsatz über den Begriff eines sozialen Gesetzes und die Auffassung August Comte’s. Wenn man hier von Gesetzen spricht, so geschieht dies nicht wie bei der Naturwissenschaft, man weiss, dass sie nur bedingte Geltung haben, oder, wie Rümelin sagt, dass es nur Eine Art von grossen und absoluten Gesetzen giebt, „die Entwickelungsgesetze der Menschheit, die noch für angemessene Fernen der wissenschaftlichen Erkenntniss Verschlossen und nur einem ahnungsvollen Glauben zugänglich sein werden.“ Wir wollen dem Verfasser, der besonders gegen Cairness kämpft, nicht auf seinem langen Wege folgen und heben nur hervor, dass Herr Dr. Levy die Oekonomie als Kunst auffasst. Er meint, dass ihre Freunde, welche ihr eine unabhängige Stellung, wie die der Naturwissenschaft geben wollen, ihr einen schlechten Dienst leisten. Sie sucht keine Naturgesetze, denn ein Naturgesetz ist eine Macht ausser uns. Für die Gesellschaft wäre es wünschenswerth, dass sie sich der Unterwerfung unter ein Gesetz, nämlich der Pflicht, klar werde. Dem Verfasser widerstrebt der Pessimismus des Dichters, der sich in folgenden Worten ausspricht:

Ein’s bist du dem Leben schuldig,
Handle, oder bleib’ in Ruh’:
Bist du Amboss – sei geduldig,
Bist du Hammer – schlage zu.

Uebrigens thut und handelt die alte Oekonomie wie die neue, nur mit dem Unterschiede, dass sie diese Praxis nicht als Prinzip annehmen darf. Erkennt man aber die letztere einmal als Wissenschaft an, so ist es vergebliche Mühe, ihrem Einfluss irgend etwas zu entziehen. Mit Recht sagt der Verfasser: „Naturgesetzen gehorcht man, ändern kann man daran nichts.“ Die astronomische Wissenschaft lehrt, alle Körper ziehen einander im Verhältniss ihrer Schwere und dem umgekehrten Verhältniss des Quadrats ihrer Entfernung an. Kann man nun auch von astronomischer Kunst sprechen? Oder welchen Zweck hat es, Anstrengungen zu machen, um dieses Verhältniss zu ändern? Die chemische Wissenschaft zeigt die Bedingungen, nach welchen die Elemente sich miteinander vereinigen. Kann man nun auch von einer chemischen Kunst reden, hat es einen Zweck, die Bedingungen ändern zu wollen? Lehrt uns das „Naturgesetz“ der Oekonomie, wie sie es nennen, dass auf ökonomischem Gebiete Jeder nach einem Maximum Lebensfreude bei einem Minimum Opfer strebt, so können wir nur die Weisheit derer, die das entdeckten, bewundern und uns danach richten. Welche Kunst vermöchte es, das menschliche Streben in eine andere Sichtung, als die Natur gewollt, zu leiten? –

Die alte Schule frägt nach dem Produkt und nicht nach dem Produzenten. Daher nimmt es auch Professor Pierson den Kathedersozialisten Übel, dass sie mit den Arbeitern kokettiren. Ganz richtig ist diese Beschuldigung nicht, aber etwas Wahres kann man ihr nicht absprechen. Die Herren schreiben zuweilen als verkappte Sozialisten, während ihre Thaten ganz anderer Art sind. Diese Halbheit richtet ihre Partei auch zu Grunde. Wenn sie sich z. B. gegen die Sozialisten wenden, so ist man versucht, mit den Gegnern das Wort „Komödie“ zu gebrauchen; ihre eigenen Führer liefern ja das Material für sozialistische Schriften. Prinzipiell auf gleichem Boden, scheuen die Kathedersozialisten, die nöthigen Konsequenzen zu ziehen.

Den Sozialisten wirft Herr Professor Pierson vor, dass ihnen die Wissenschaft nicht Hauptsache sei, sondern nur zur Empfehlung ihrer Pläne missbraucht, ja prostituirt werde. Und das Männern wie Marx und Engels gegenüber! Leidenschaftlicher kann man wohl kaum urtheilen, aber der Herr Professor spricht ja im Namen der Wissenschaft. Das ist nun aber doch Herrn Levy zu stark, und so fragt er, ob es denn auch im Reiche der Wissenschaft Paria’s gebe, oder ob man für gewisse Individuen einen wissenschaftlichen Index habe? Weiss der Herr Professor nicht, dass Roscher – gewiss kein Freund von Marx – dessen Kapital für höchst lehrreich erklärt? Dass Albert Lange – gewiss ein selbstständiger Forscher – von Marx sagt: „er ist der vorzüglichste Kenner der Geschichte und Literatur der Vookswirthschaft“? Weiss er nicht, dass der Konservative Rudolph Meyer das Kapital von Marx „das grösste wissenschaftliche Erzeugniss der modernen deutschen Volkswirtschaftslehre“ nennt und hinzufügt: „Keiner der lebenden Professoren hat ein Werk gegeben, das damit zu vergleichen ist?“ Weiss er nicht, dass Professor Beesly sagt, dass Marx in Bezug auf Kenntniss von Geschichte und Statistik der industriellen Bewegung in allen Ländern Europas keinen Rivalen hat? Und kennt er nicht die Worte Leopold Jacoby’s:

„Was jenes Buch (von Darwin) über die Entstehung der Arten für das Werden und die Entwickelung in der unbewussten Natur bis herauf zum Menschen, ist dieses Werk: Das Kapital für das Werden und die Entwickelung in der Gemeinschaft menschlicher Einzelwesen, in den Staaten und Gesellschaftsformen der Menschheit.“?

Dass Ricardo der geistige Vater von Marx sei, wie Professor Held in Bonn und viele andere mit ihm gesagt haben, bestreitet Herr Professor Pierson. Dr. Levy beweist ihm dagegen die Richtigkeit dieser Bemerkung. Er giebt drei Stellen aus Marx, welche mit Ricardo’s Anschauungen übereinstimmen:

  1. Ein Gebrauchswerth oder Gut hat nur einen Werth, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlich oder materialisirt ist. Wie nun die Grösse seines Werthes messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen „werthbildenden Substanz“, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst misst sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Massstab an bestimmten Zeittheilen, wie Stunde, Tag u. s. w. Die Worte „werthbildenden Substanz“ sind zitirt und drücken die Lehre Ricardo’s richtig aus, wie auch Mill anerkannte, indem er sagte: „Wenn von Ricardo und anderen behauptet wird, dass der Werth einer Sache durch die Arbeitsquantität regulirt werde, so verstehen sie darunter nicht die dafür einzutauschende, sondern die zur Herstellung derselben erforderliche Arbeitsquantität: sie wollen sagen, dass diese den Werth der Sache bestimme – bewirke, dass der Werth sich so verhalte und nicht anders.
     
  2. „Es ist also nur das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit oder die zur Herstellung eines Gebrauchswerthes gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit, welche seine Werthgrösse bestimmt.“ Dr. Levy meint hierzu, dass Ricardo wie Marx den Begriff Arbeit als Abstraktum fassen. Er nennt die Meinung, dass „jede der individuellen Arbeitskräfte dieselbe menschliche Arbeitkraft ist wie die andere, so weit sie den Charakter einer gesellschaftlichen Durchschnittsarbeitskraft besitzt und als solche gesellschaftliche Durchschnittsarbeitskraft wirkt, also in der Produktion einer Waare auch nur die im Durchschnitt nothwendige oder gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit braucht, eine handgreifliche „Monstrosität“. Diese sogenannte Monstrosität fällt aber hinweg, wenn man, wie Marx es thut, zeigt, dass nicht die Arbeit Tauschwerth hat, dass nicht die Arbeit verkauft und im Arbeitslohn der Werth der Arbeit bezahlt wird, sondern dass es die Arbeitskraft ist, die verkauft wird, und der Arbeitslohn Aequivalent der Arbeitskraft ist. Arbeit bleibt das immanente Mass des Tauschwertes; der Tauschwerth der Arbeitskraft ist gleich dem Tauschwerth der Lebensmittel, welche zur Erhaltung der Arbeitskraft nothwendig sind. Zur dauernden Erhaltung der Arbeitskraft ist nicht blos die Erhaltung sondern auch die Reproduktion des Arbeiters selbst erforderlich. Wenn man dies Alles bei Marx nachliest, dann findet man die Monstrosität nicht so sehr in seinem Buche, als in dem Geiste des Beurtheilers. –
     
  3. „Wir wissen, dass der Werth jeder Waare bestimmt ist durch das Quantum der in ihrem Gebrauchswerth materialisirten Arbeit, durch die su ihrer Produktion gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit. Dies gilt auch ftir das Produkt, das sich unserem Kapitalisten als Resultat des Arbeits-Prozesses ergab. Es ist also zunächst die in diesem Produkt vergegenständlichte Arbeit zu berechnen.“ Das ist kein Axiom bei Marx, wie Dr. Levy ihm vorwirft, sondern es wird bewiesen.

Wenn man Marx bekämpfen will, muss man das Prinzip, dass „Arbeit der Werthmesser aller Werthe ist“, bekämpfen. Das haben seine Gegner auch eingesehen. Nun ist dasselbe Prinzip, der Hauptsache nach, von Ricardo aufgestellt worden, und wenn Professor Pierson seine grosse Bewunderung Ricardo zollt, so fordert die Unparteilichkeit, dass er dessen grossen und konsequenten Schüler, Marx, die ihm gebührende Ehre giebt, statt ihn herabzuziehen. Sonst findet das „Messen mit zweierlei Mass“ statt, und das ist selbst dem Feinde gegenüber nicht erlaubt. „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen,“ – diese köstlichen Worte desselben Marx sind durchaus der Beachtung werth.

Der Werthbegriff ist die Hauptsache, und statt ihn eine Monstrosität zu nennen, sehen wir sich ihm allmählig Viele nähern, welche ihn früher bestritten. Sehäffle sagt z. B. im dritten Bande seines Bau und Leben des sozialen Körpers, dass Marx nur die eine Seite der Tauschwerththeorie betone, indem er die zur Herstellung eines Gebrauchswerths nothwendige Arbeitszeit als tauschwerthbildend annimmt und Professor Knies nur die andere Seite, wenn er den „gesellschaftlich taxirten Gebrauchswerth“ als die Substanz des Tauschwerthes auffasst. Selbst meint er, dass die kombinirte Wirkung von Kosten und Nutzen, von aufgewandter Arbeitszeit und gesellschaftlichem Gebrauchswerth den Tauschwerth bilde. Jedoch sagt er ausdrücklich: „wir machen nochmals darauf aufmerksam, dass die Marx’sche Theorie Grundstein einer Kritik der kapitalistischen Volkswirthschaft und zwar zunächst des kapitalistischen Produktionsprozesses ist.“ Er nennt die Theorie von Marz nicht falsch, er giebt sogar ihre Berechtigung vom Standpunkte der Kritik des Wirthschaftssystems zu und behauptet nur, dass sie die positive Thätigkeit nicht fördere, weil sie uns nicht zeige, wie in der Zukunft die Vertheilung des Arbeitsertrages zu regeln sein wird (cf. staats-wirthschaftliche Abhandlungen von Dr. Seyfferth, erste Serie, viertes Heft). Uebereinstimmend ist das Urtheil von Schramm in der Zukunft, wenn er sagt:

„Marx’ Kapital ist kein Lehrbuch der Volkswirtschaft, aus welchem man das ABC dieser Wissenschaft lernen könnte: es knüpft zur Erforschung des ökonomischen Bewegungsgesetzes an die Werthdefinition an, welche die klassische politische Oekonomie aufgestellt hat, es schliesst sich unmittelbar an Ricardo an.“

Es ist zu verwundern, dass Dr. Levy nicht den bekannten Professor Laveleye erwähnt, welcher in seiner Abhandlung: Die neuen Ziele der Nationalökonomie und des Sozialismus behauptet, in der Nationalökonomie nur ein einziges Naturgesetz entdeckt zu haben, dasjenige nämlich, dass der Mensch, um zu leben, sich nähren muss. Alles übrige, meint er, werde durch die Sitten, Gebräuche und Gesetze regulirt, und diese verändern sich unaufhaltsam und in dem Maasse, wie die Gerechtigkeit und die Moral ihre Herrschaft ausdehnen und sich immer mehr von der natürlichen Ordnung entfernen, in welcher die Gewalt und der Zufall herrschen.

Weiter polemisirt Dr. Levy in der Steuerfrage gegen einen neuen Aufsatz des Professor Pierson. Dor Verfasser zitirt viel und gern. Die Zitate allein betragen gewiss ein Drittel des Gänsen. Kant namentlich ist sein Lehrer, beinahe sein Gott. Wehe dem, der in seinen Ansichten von dem Philosophen von Königsberg abweicht. Auch Rümelin’s Reden und Aufsätze finden Gnade in des Verfassers Augen. Nicht so Jhering, welchen er scharf kritisirt.

Man kann aus alledem sehen, dass das 443 Seiten reiche Buch des Dr. Levy eine zwar schwere, ermüdende, aber eine belehrende Arbeit ist. Sein Werk ist mehr als eine ephemere Erscheinung. Nicht immer befriedigt er, stets aber geben seine Sätze Stoff zum Nachdenken und zur Prüfung. Besonders hier in Holland, wo die Oekonomie nur beiläufig und meistens wenig unabhängig betrieben und beachtet wird, ist ein Streit wie der zwischen diesen beiden dialektisch geübten Kämpfern eine Ausnahme. Wie schwer die Frage nach der Methode ist, darauf weist schon Marx hin, wenn er erinnert, wie verschieden man über sein Kapitel urtheilte. Der Eine nennt die Methode deduktiv, ein Anderer wirft ihm vor, dass er die Oekonomie metaphysisch behandle, ein Dritter nennt die Methode analytisch, ein Vierter findet die Forschungsmethode streng realistisch. Selbst sagt er:

„Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysiren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffe ideell wieder, so mag es aussehen, als habe man man es mit einer Konstruktion a priori zu thun.“

Diese Bemerkung ist richtig und muss von allen Rezensenten ins Auge gefasst werden.

Der Verfasser kennzeichnet die Gegensätze beider Richtungen am Ende seines Buches folgendermassen:

„Der Streit handelt sich um die Stelle, wo man steht (dos moi pou sto). Hier der ganze Mensch, da die ökonomische Abstraktion; hier das majestätische, Alle und Alles beherrschende Sittengesetz von Kant, da der Theil eines Theiles: auctoritate sua erhoben zum „Naturgesetz“. Führer oder Geführte, Soldaten sind wir im Dienste der Idee. Unsere Aufgabe, ob theoretisch oder praktisch, zeige dieses Merkmal. Für Alle gilt das Dichterwort:

Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehen.“

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Fußnote

1. Der betreffende Vortrag ist in’s Deutsche übersetzt und mit einer Einleitung von Professor Dr. H. von Scheel im Verlage von Gustav Fischer in Jena erschienen.


Zuletzt aktualisiert am 23. Juni 2020