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Wir haben die tatsächliche Unterlage der neuesten Theorie des Genossen Kautsky über Rußland und Westeuropa kurz geprüft. Das wichtigste an dieser jüngsten Schöpfung ist jedoch ihre allgemeine Tendenz, die dahin geht, einen schroffen Gegensatz zwischen dem revolutionären Rußland und dem parlamentarischen „Westeuropa“ zu konstruieren und die hervorragende Rolle, die der politische Massenstreik in der russischen Revolution gespielt hat, als ein Produkt der ökonomischen und politischen Rückständigkeit Rußlands hinzustellen.
Hier ist aber dem Genossen Kautsky das Unangenehme passiert, viel zuviel bewiesen zu haben. Etwas weniger wäre in diesem Falle entschieden mehr gewesen.
Vor allem hat Genosse Kautsky nicht bemerkt, daß seine jetzige Theorie seine frühere Theorie von der „Ermattungsstrategie“ umbringt. Im Mittelpunkt der „Ermattungsstrategie“ stand der Hinweis auf die kommenden Reichstagswahlen. [1] Mein unverzeihlicher Fehler lag ja darin, daß ich schon im gegenwärtigen Kampfe um das preußische Wahlrecht den Massenstreik für angebracht hielt, während Genosse Kautsky erklärte, daß erst unser künftiger gewaltiger Sieg bei den Reichstagswahlen im nächsten Jahre die „ganz neue Situation“ schaffen werde, die den Massenstreik notwendig und angebracht machen dürfte. Nun hat aber Genosse Kautsky jetzt mit aller wünschenswerten Klarheit bewiesen, daß für eine Periode politischer Massenstreiks in ganz Deutschland, ja in ganz Westeuropa überhaupt die Bedingungen fehlen. „Wegen des halben Jahrhunderts sozialistischer Bewegung, sozialdemokratischer Organisation und politischer Freiheit“ seien in Westeuropa sogar einfache Demonstrationsmassenstreiks von dem Umfang und der Wucht der russischen fast unmöglich geworden. Ist dem aber so, dann erscheinen die Aussichten auf den Massenstreik nach den Reichstagswahlen ziemlich problematisch. Es ist klar, daß all die Bedingungen, die den Massenstreik in Deutschland überhaupt unmöglich machen: die stärkste Regierung der Gegenwart und ihr glänzendes Prestige, der Kadavergehorsam der Staatsarbeiter, die unerschütterliche trotzige Macht der Unternehmerverbände, die politische Isolierung des Proletariats, daß all das nicht bis zum nächsten Jahre plötzlich verschwinden wird. Liegen die Gründe, die gegen den politischen Massenstreik sprechen, nicht mehr in der momentanen Situation, wie es noch die „Ermattungsstrategie“ wollte, sondern gerade in den Resultaten des „halben Jahrhunderts sozialistischer Aufklärung und politischer Freiheit“, in dem hohen Entwicklungsgrad des ökonomischen und politischen Lebens „Westeuropas“, dann erweist sich die Verschiebung der Erwartungen auf einen Massenstreik von jetzt auf das nächste Jahr nach den Reichstagswahlen bloß als ein bescheidenes Feigenblatt der „Ermattungsstrategie“, deren einziger reeller Inhalt demnach in der Empfehlung der Reichstagswahlen besteht. Ich habe in meiner ersten Antwort [2] darzulegen gesucht, daß die „Ermattungsstrategie“ in Wirklichkeit auf „Nichtsalsparlamentarismus“ hinausläuft. Genosse Kautsky bestätigt dies jetzt selbst durch seine theoretischen Vertiefungen.
Noch mehr. Genosse Kautsky verschob zwar die große Massenaktion auf die Zeit nach den Reichstagswahlen, er mußte aber gleichzeitig selbst zugeben, daß der politische Massenstreik bei der jetzigen Situation „jeden Augenblick“ notwendig werden könne, denn seit dem Bestand des Deutschen Reiches waren die sozialen, politischen, internationalen Gegensätze niemals so gespannt wie jetzt“. [3] Wenn nun aber allgemein die sozialen Bedingungen, der geschichtliche Reifegrad in „Westeuropa“ und namentlich in Deutschland eine Massenstreikaktion unmöglich machen, wie kann dann auf einmal „jeden Augenblick“ eine solche Aktion ins Werk gesetzt werden? Eine brutale Provokation der Polizei, ein Blutvergießen bei einer Demonstration können plötzlich die Erregung der Massen sehr steigern und die Situation verschärfen, sie können aber offenbar nicht jener „stärkste Anlaß“ sein, der plötzlich die ganze wirtschaftliche und politische Struktur Deutschlands umstülpt.
Genosse Kautsky hat aber noch weiter etwas Überflüssiges bewiesen. Sind die allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in Deutschland derartige, daß sie eine Massenstreikaktion in der Art der russischen unmöglich machen, und ist die Ausdehnung, die der Massenstreik in der russischen Revolution angenommen hatte, das Ergebnis der spezifisch russischen Rückständigkeit, dann ist nicht bloß die Anwendung des Massenstreiks im preußischen Wahlrechtskampf, sondern der Jenaer Beschluß überhaupt in Frage gestellt. Bis jetzt wurde der Beschluß des Jenaer Parteitags [4] als eine so hochbedeutsame Kundgebung im In- und Ausland betrachtet, weil er offiziell den Massenstreik als politisches Kampfmittel dem Arsenal der russischen Revolution entlehnte und der Taktik der deutschen Sozialdemokratie einverleibte. Freilich wurde dieser Beschluß formal so gefaßt und von manchen ausschließlich so ausgelegt, daß die Sozialdemokratie erklärte, nur im Falle der Verschlechterung des Reichstagswahlrechtes den Massenstreik anwenden zu wollen. Jedenfalls gehörte aber Genosse Kautsky früher nicht zu jenen Formalisten, denn er schrieb ja schon im Jahre 1904 ausdrücklich: Lernen wir vom belgischen Beispiel, dann werden wir zur Überzeugung kommen, es wäre für uns in Deutschland ein verhängnisvoller Fehler, wollten wir uns auf die Proklamierung des politischen Streiks für einen bestimmten Termin, etwa für den Fall der Verschlechterung des gegenwärtigen Reicbstagswablrecbtes [Hervorhebung – R.L.], festlegen.“ [1*] Die Hauptbedeutung, der eigentliche Inhalt des Jenaer Beschlusses lag in der Tat nicht in dieser formalistischen „Festlegung“, sondern in der Tatsache, daß die deutsche Sozialdemokratie grundsätzlich die Lehren und das Beispiel der russischen Revolution akzeptierte. Es war der Geist der russischen Revolution, der die Tagung unserer Partei in Jena beherrschte. Wenn nun Genosse Kautsky gerade die Rolle des Massenstreiks in der russischen Revolution aus der Rückständigkeit Rußlands ableitet und damit einen Gegensatz zwischen dem revolutionären Rußland und dem parlamentarischen „Westeuropa“ konstruiert, wenn er vor Beispielen und Methoden der Revolution nachdrücklich warnt, ja wenn er andeutungsweise sogar die Niederlage des Proletariats in der russischen Revolution der grandiosen Massenstreikaktion, durch die das Proletariat „schließlich erschöpft werden mußte“, auf das Schuldkonto schreibt – kurz, wenn Genosse Kautsky jetzt klipp und klar erklärt: „Aber wie dem auch sein möge, für deutsche Verhältnisse paßt jedenfalls das Schema des russischen Massenstreiks vor und während der Revolution nicht“ [5], dann erscheint offenbar von diesem Standpunkt als eine unbegreifliche Verirrung, wenn die deutsche Sozialdemokratie offiziell gerade von der russischen Revolution als neues Kampfmittel den Massenstreik entlehnte. Die jetzige Theorie des Genossen Kautsky ist im Grunde genommen eine grausam-gründliche Revision des Jenaer Beschlusses.
Um seine einzelne schiefe Stellungnahme in der letzten preußischen Wahlrechtskampagne zu rechtfertigen, gibt so Genosse Kautsky Schritt für Schritt die Lehren der russischen Revolution für das deutsche und westeuropäische Proletariat, die bedeutendste Erweiterung und Bereicherung der proletarischen Taktik im letzten Jahrzehnt preis.
1*. K. Kautsky, Allerhand Revolutionäres, in: Neue Zeit, XXII, 1, S. 736.
1. Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.
2. R. Luxemburg, Ermattung oder Kampf?, in R. Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 344–377.
3. K. Kautsky: Was nun?, in: Die Neue Zeit (Stuttgart), 28. Jg. 1909/10. Zweiter Band, S. 80.
4. Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.
5. K. Kautsky, Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10. Zweiter Band. S. 374.
Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012