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Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), Nr. 42 vom 20. Februar 1905.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1 2. Halbbd., S. 519–522.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Seit dem erfolgreichen Attentat auf den Zaren Alexander II. [1] hat es in Rußland keinen terroristischen Akt von solcher politischen Resonanz gegeben wie die Tötung des Moskauer Bluthundes, des Sergius Romanow. [2] Und vom Standpunkte der moralischen Befriedigung, die jeder anständige und rechtlich denkende Mensch bei der befreienden Tat empfinden muß, steht das Attentat auf den Großfürsten Sergius auf derselben Stufe wie im vergangenen Jahre das Attentat auf Plehwe. [3] Es atmet sich förmlich leichter, die Luft scheint reiner, nachdem eine der abstoßendsten und beleidigendsten Bestien des absolutistischen Regimes ein so schnödes Ende gefunden hat und wie ein toller Hund auf dem Straßenpflaster verendet ist.
Diese Empfindungen sind so natürlich bei allen Kulturmenschen, daß die Tat in Moskau in unserer Presse allgemein und wie aus einem Munde als sittlicher Racheakt, als Vergeltungsakt aufgefaßt wurde. Aber mit der ganz selbstverständlichen Empfindung der moralischen Befriedigung ist die Bedeutung dieser wichtigen Erscheinung des revolutionären Kampfes in Rußland nicht erschöpft. Vielmehr muß die politische Beurteilung der neuesten terroristischen Tat von den unmittelbaren Eindrücken und Gefühlen ganz unabhängig bleiben.
Politisch betrachtet, muß vor allem der Terror in der gegenwärtigen Situation bedeutend anders ins Auge gefaßt werden als früher. Die eigentliche terroristische Bewegung, die den Terror als systematisches Mittel des politischen Kampfes predigte und betätigte, war geschichtlich aus dem Pessimismus, aus dem Unglauben an die Möglichkeit einer politischen Massenbewegung und einer wirklichen Volksrevolution in Rußland geboren. Der Terror als System, als eine naturgemäß nur von einzelnen Individuen aus der Mitte der Revolutionäre und gegen einzelne Individuen unter den Trägern des absolutistischen Regimes betätigte Kampfmethode, war in seinem Wesen als Gegensatz zum Massenkampf der Arbeiterklasse gedacht, ob sich die terroristischen Kämpfer dessen bewußt waren oder nicht, ob sie es zugeben oder sich darüber selbst hinwegtäuschen wollten.
Von diesem Standpunkte und aus diesem Grunde wurde auch die terroristische Taktik von der Sozialdemokratie seit jeher und namentlich in den letzten Jahren bekämpft, weil sie, so starke sittliche Befriedigung sie in jedem einzelnen Falle hervorrief, eher erschlaffend und paralysierend als aufrüttelnd auf die Arbeiterbewegung wirken mußte. Indem die wirksame Vergeltungsmethode der Terroristen unvermeidlich – besonders bei unklaren und schwankenden Elementen der revolutionären Bewegung – vage Hoffnungen und Erwartungen auf den wundertätigen unsichtbaren Arm des terroristischen „Rächers“ wachrief, schwächte sie die erforderliche Einsicht in die absolute Notwendigkeit und einzig entscheidende Bedeutung der Volksbewegung, der proletarischen Massenrevolution.
Die Ereignisse des 22. Januars [4] und der folgenden Wochen haben die Situation gründlich verändert. Das Proletariat ist bereits auf dem Kampfplatz erschienen, die Riesenmacht der Volksrevolution hat sich bereits vor der ganzen Welt offenbart, und ihre Bedeutung kann kein terroristischer, Erfolg mehr erschüttern. Freilich werden sich vielleicht auch diesmal politische Wetterfahnen finden, die wieder ihre ganze Begeisterung und ihre Hoffnungen der lauten, vernehmlichen und knappen Sprache der Bomben zuwenden und sich vielleicht einbilden werden, daß die Massenaktion im Zarenreich bereits ihre Rolle genügend gespielt habe, die Realisierung und Liquidation der revolutionären Periode aber dem terroristischen Zweikampf mit den Überresten des zerrütteten absolutistischen Regimes zukomme. Im großen und ganzen darf jedoch gehofft werden, daß so verkehrte Ansichten nur vereinzelt bleiben und die Sozialdemokratie sowohl in Rußland wie im Auslande von den Lehren der letzten Januarwoche nicht bloß vorübergehend, sondern dauernd zu profitieren verstehen wird.
Und diese Lehren gehen vor allem dahin, daß in Rußland nur die Volksrevolution und sie allein berufen ist, den Sturz des Zarismus zu vollziehen und die bürgerliche Freiheit zu realisieren. Daran können heute noch so erfolgreiche Attentate weniger als je etwas ändern. Damit ist freilich nicht gesagt, daß einzelne terroristische Akte nunmehr bedeutungslos oder nutzlos wären. Nicht darauf kommt es an, den Terror in den Himmel zu heben oder ihn zu verdammen, sondern seine richtige Rolle und ganz bestimmte Funktion in der gegenwärtigen Situation zu begreifen. Der Terror ist und kann heute, nach der bereits begonnenen Volksrevolution, nichts anderes als eine untergeordnete Episode des Kampfes sein. Und zwar dies in doppelter Hinsicht: sowohl räumlich als ein einzelner, wenn auch glänzend aufblitzender Schwertstreich auf dem großen Schlachtfelde des proletarischen Massenkampfes wie auch zeitlich als eine Erscheinung, die naturgemäß nur an eine bestimmte Phase der Revolution gebunden ist. Die terroristischen Akte haben nur so lange politischen Sinn und werden nur so lange sympathisches Echo in breiten Gesellschaftskreisen finden, bis der Absolutismus entschieden auf den Weg der Konzessionen getreten ist. Als Antwort auf brutale Versuche, mit Blut und Eisen die Revolution zu ersticken, wirken die terroristischen Anschläge auf die Gemüter befreiend. In dem Maße jedoch, wie der Absolutismus die Ohnmacht der Knute einsehen und in die Bahn, sei es auch schwächlicher und schwankender konstitutioneller Konzessionen einlenken wird, wird der Terror von selbst unvermeidlich an Boden und günstiger Atmosphäre verlieren. Seine Rolle wird bei Beginn dieser über kurz oder lang eintretenden zweiten Phase der Revolution ausgespielt sein. Die Revolution aber als Massenbewegung, als proletarische Erhebung wird damit durchaus noch nicht zu Ende sein. Im Gegenteil, erst dann beginnt der immer ausschließlicher proletarische Kampf, um die Liquidation des Absolutismus immer weiterzutreiben, um den Anteil der Arbeiterklasse an den politischen Freiheiten möglichst zu erweitern, um gegen den unvermeidlichen reaktionären Umschlag und Rückschlag der bürgerlich-demokratischen und liberalen Elemente nach dem ersten Sieg der freiheitlichen Bewegung zu reagieren. Kurz, die proletarische Revolution in Rußland hat vor sich noch alle Kämpfe und alle Phasen einer Klassenerhebung, bis sie den geschichtlichen Moment zu dem äußersten Punkt in der Richtung der eigenen Klasseninteressen vorwärts geschoben hat. Auf dem Fond und im Rahmen dieser großen Volksrevolution sind einzelne Akte des Terrors das, was einzelne aufzischende Feuergarben im gewaltigen Flammenmeer eines Waldbrandes sind. Die rächende Hand des Terroristen kann die Desorganisation und Demoralisation des
Absolutismus hie und da beschleunigen. Den Absolutismus stürzen und die Freiheit verwirklichen kann – mit dem Terror oder ohne den Terror – nur der Massenarm der revolutionären Arbeiterklasse im Zarenreich.
1. Am 13. März 1881 war Zar Alexander II. bei einem Bombenanschlag der Narodowolzen getötet worden.
2. Am 17. Februar 1905 wurde im Moskauer Kreml einer der reaktionärsten Vertreter des Zarismus, der Moskauer Generalgouverneur Großfürst Sergej Romanow, von dem Sozialrevolutionär I.P. Kaljajew getötet.
3. Der Innenminister W.K. Plehwe war am 28. Juli 1904 Opfer eines Attentats des Sozialrevolutionärs J.S. Sasonow geworden.
4. Am 22. Januar 1905 demonstrierten in Petersburg 140.000 Arbeiter mit einer Bittschrift, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten, zum Winterpalais. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen. Über 1.000 Menschen wurden getötet und etwa 5,000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.
Zuletzt aktualisiert am 1. Januar 2015