W. I. Lenin

Fortsetzung der Aufzeichnungen

Über die Ausstattung der staatlichen Plankommission
mit gesetzgeberischen Funktionen

(Dezember 1922)


Quelle: W. I. Lenin, Werke (Berlin 1962), Bd. 36, S. 583–587. [1]
Diktiert Dezember 1922.
Veröffentlicht 1956 in der Zeitschrift Kommunist, Nr. 9 und als Broschüre.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Vielen Dank an Red Channel, der die Werke gescannt hat.


27. Dezember 1922

Diesen Gedanken hat Gen. Trotzki, scheint mir, schon vor langem geäußert. Ich trat dagegen auf, weil ich der Ansicht war, daß sich dann im System unserer gesetzgeberischen Institutionen eine tiefgehende Unstimmigkeit zeigen werde. Aber nach aufmerksamer Prüfung finde ich, daß der Gedanke eigentlich einen gesunden Kern hat, nämlich: die Staatliche Plankommission steht etwas abseits von unseren gesetzgeberischen Institutionen, obwohl sie als ein Gremium von Fachleuten, Experten, Vertretern der Wissenschaft und Technik im Grunde die meisten Voraussetzungen besitzt, um die Dinge richtig zu beurteilen.

Indessen sind wir bisher von dem Standpunkt ausgegangen, daß die Staatliche Plankommission dem Staat kritisch gesichtetes Material zu liefern hat, während die staatlichen Institutionen über die staatlichen Angelegenheiten entscheiden sollen. Ich glaube, bei der gegenwärtigen Lage, da sich die staatlichen Angelegenheiten ungewöhnlich kompliziert haben, da auf Schritt und Tritt abwechselnd Fragen zu lösen sind, die ein Gutachten von Mitgliedern der Staatlichen Plankommission erfordern und solche, die ein Gutachten nicht erfordern, ja mehr noch, Angelegenheiten zu entscheiden sind, in denen einige Punkte ein Gutachten der Staatlichen Plankommission erfordern, während andere Punkte ein solches Gutachten nicht erfordern – idi glaube, daß man jetzt einen schritt in der Richtung machen soll, die Kompetenzen der Staatlichen Plankommission zu erweitern.

Ich denke mir diesen Schritt so, daß die Beschlüsse der Staatlichen Plankommission nicht im üblichen Sowjetverfahren umgestoßen werden könnten, sondern zu ihrer Abänderung eines besonderen Verfahrens bedürften, indem man beispielsweise die Frage auf einer Tagung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees vorbringt, eine neue Beschlußfassung darüber an Hand einer besonderen Instruktion vorbereitet, hierbei auf Grund besonderer Regeln schriftliche Berichte verfaßt, um abzuwägen, ob der betreffende Beschluß der Staatlichen Plankommission aufzuheben ist, und schließlich, indem man besondere Fristen für die Abänderung eines Beschlusses der Staatlichen Plankommission festlegt usw.

In dieser Hinsicht, denke ich, kann und muß man Gen. Trotzki entgegenkommen, nicht aber darin, daß entweder jemand aus dem Kreis unserer politischen Führer oder der Vorsitzende des Obersten Volkswirtschaftsrats usw. der Staatlichen Plankommission vorstehen soll. Mir scheint, daß hier mit der prinzipiellen Frage gegenwärtig allzu eng die persönliche Frage verflochten ist. Ich denke, die Vorwürfe, die wir jetzt gegen den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Gen. Krshishanowski, und seinen Stellvertreter, Gen. Pjatakow, hören, Vorwürfe, die wechselseitig erhoben werden, so daß wir einerseits Beschuldigungen wegen allzu großer Nachgiebigkeit, wegen Unselbständigkeit und Charakterlosigkeit und anderseits Beschuldigungen wegen allzu großer Schroffheit, wegen Feldwebelmanieren, ungenügend solider wissenschaftlicher Vorbildung usw. hören – ich denke, daß diese Vorwürfe zwei Seiten der Sache, ins Extrem gesteigert, zum Ausdruck bringen und daß wir in Wirklichkeit in der Staatlichen Plankommission eine kluge Verbindung zweier Charaktertypen brauchen, wobei Pjatakow für den einen und Krshishanowski für den anderen als Muster dienen kann.

Ich glaube, daß an der Spitze der Staatlichen Plankommission ein Mann stehen muß, der wissenschaftlich gebildet ist, und zwar gerade auf technischem oder agronomischem Gebiet, über eine große, jahrzehntelange Arbeitserfahrung in der Technik oder Agronomie verfügt. Ich glaube, ein solcher Mann muß weniger die Eigenschaften eines Administrators besitzen als reiche Erfahrung und die Fähigkeit, Menschen zu gewinnen.

27. XII. 1922
Niederschrift: M. W.

Lenin


V
Fortsetzung des Briefes über den gesetzgeberischen Charakter
der Beschlüsse der Staatlichen Plankommission

28. XII. 1922

Ich habe bei einigen unserer Genossen, die fähig sind, die Lenkung der staatlichen Angelegenheiten entscheidend zu beeinflussen, die Tendenz festgestellt, die administrative Seite zu übertreiben, die natürlich am rechten Ort und zur rechten Zeit notwendig ist, die man aber mit der wissenschaftlichen Seite, mit der Erfassung der breiten Wirklichkeit, mit der Fähigkeit, Menschen zu gewinnen, usw. nicht verwechseln darf.

In jeder staatlichen Institution, besonders in der Staatlichen Plankommission, ist die Vereinigung dieser zwei Eigenschaften notwendig, und als mir Gen. Krshishanowski sagte, er habe Pjatakow für die Staatliche Plankommission gewonnen und sich mit ihm über die Arbeit verständigt, erklärte ich mich damit einverstanden, hegte aber einerseits im stillen gewisse Zweifel, während ich anderseits manchmal hoffte, daß wir hier eine Kombination beider Typen von Staatsmännern erhalten. Ob sich diese Hoffnung erfüllt hat, muß man jetzt abwarten und auf Grund etwas längerer Erfahrung beurteilen, aber im Prinzip, glaube ich, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß eine solche Verbindung von Charakteren und Typen (Menschen, Eigenschaften) für das richtige Funktionieren der staatlichen Institutionen unerläßlich ist. Ich denke, übertriebene „Administriererei“ ist hier ebenso schädlich wie überhaupt jede Übertreibung. Der Leiter einer staatlichen Institution muß im höchsten Grade die Fähigkeit besitzen, Menschen zu gewinnen, und zugleich über hinreichend solide wissenschaftliche und technische Kenntnisse verfügen, damit er ihre Arbeit kontrollieren kann. Das ist das Grundlegende. Fehlt es daran, so kann es keine richtige Arbeit geben. Anderseits ist es sehr wichtig, daß er zu administrieren versteht und dafür einen geeigneten Gehilfen oder deren mehrere hat. Die Vereinigung dieser beiden Eigenschaften in einer Person dürfte wohl kaum vorkommen und wohl kaum erforderlich sein.

Niederschrift: L. F.
28. XII. 1922

Lenin


VI
Fortsetzung der Aufzeichnungen über die Staatliche Plankommission

29. Dezember 1922

Die Staatliche Plankommission entwickelt sich bei uns offenbar allseitig zu einer Expertenkommission. An der Spitze einer solchen Institution muß unbedingt jemand mit großer Erfahrung und vielseitiger wissenschaftlicher Bildung auf dem Gebiet der Technik stehen. Die administrierende Kraft darf hier, im Grunde genommen, nur eine Stütze sein. Eine gewisse Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Staatlichen Plankommission ist vom Standpunkt der Autorität dieser wissenschaftlichen Institution unerläßlich und setzt nur eines voraus, nämlich Gewissenhaftigkeit ihrer Mitarbeiter und deren gewissenhaftes Bemühen, unseren Plan des wirtschaftlichen und sozialen Aufbaus in die Tat umzusetzen.

Diese letzte Eigenschaft kann man jetzt selbstredend nur als Ausnahme antreffen, denn die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler, aus denen sich die Staatliche Plankommission natürlicherweise zusammensetzt, ist unvermeidlich mit bürgerlichen Anschauungen und bürgerlichen Vorurteilen infiziert. Sie diesbezüglich zu kontrollieren, muß die Aufgabe einiger Personen sein, die das Präsidium der Staatlichen Plankommission bilden können; sie müssen Kommunisten sein und im Verlauf der Arbeit Tag für Tag verfolgen, inwieweit die bürgerlichen Wissenschaftler ergeben sind, sich von den bürgerlichen Vorurteilen lossagen und auch wie sie allmählich zum Standpunkt des Sozialismus übergehen. Diese doppelte Arbeit einer solchen wissenschaftlichen Kontrolle im Verein mit rein administrativer Arbeit sollte das Ideal der Leiter der Staatlichen Plankommission unserer Republik sein.

Lenin

Niederschrift: M. W.
29. Dezember 1922


Ist es zweckmäßig, die von der Staatlichen Plankommission zu leistende Arbeit in einzelne Aufträge zu gliedern, oder sollte man nicht umgekehrt danach streben, einen Kreis ständiger Spezialisten zu schaffen, die durch das Präsidium der Staatlichen Plankommission systematisch kontrolliert würden und alle Fragen, für die die Staatliche Plankommission zuständig ist, in ihrer Gesamtheit lösen könnten? Ich glaube, letzteres wäre zweckmäßiger, und man sollte danadi streben, die Zahl der zeitweiligen und dringlichen Einzelaufgaben zu verringern.

Lenin

29. Dezember 1922
Niederschrift: M. W.


Anmerkung

1. Den Brief an den Parteitag, b bekannt unter der Bezeichnung Testament, diktierte W. I. Lenin in der Zeit vom 23. bis 26. Dezember 1922, die Ergänzung zum Brief vom 24. Dezember 1922 aber am 4. Januar 1923. Dieser Brief, wie auch die darauffolgend veröffentlichten Briefe Über die Ausstattung der Staatlichen Plankommission mit gesetzgeberischen Funktionen und Zur Frage der Nationalitäten oder der „Autonomisierung“ lehnen an die letzten Arbeiten W. I. Lenins an, die programmatische Bedeutung besitzen: Tagebuchblätter, Über das Genossenschaftswesen, Über unsere Revolution (Aus Anlaß der Aufzeichnungen N. Suchanows), Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen (Vorschlag für den XII. Parteitag) und Lieber weniger, aber besser. Diese Arbeiten hatte er im Januar–Februar 1923 diktiert, und sie wurden auch damals in der Prawda veröffentlicht. (Siehe Werke, Bd. 33.)

Die Briefe über innerparteiliche Fragen wurden zu jener Zeit nicht veröffentlicht; der Brief Zur Frage der Nationalitäten oder der „Autonomisierung“ wurde auf einer Beratung der Delegationsleiter des XII. Parteitags im Zusammenhang mit der Erörterung der nationalen Frage verlesen; der Brief Über die Ausstattung der Staatlichen Plankommission mit gesetzgeberischen Funktionen wurde im Juni 1923 an alle Mitglieder und Kandidaten des Politbüros des ZK und an die Präsidiumsmitglieder des Zentralexekutivkomitees geschickt; der Brief an den Parteitag wurde in den Delegationen auf dem XIII. Parteitag der KPR(B) verlesen. 1956 wurden diese Briefe Lenins auf Beschluß des Zentralkomitees der Partei den Delegierten des XX. Parteitags der KPdSU zur Kenntnis gebracht, an die Parteiorganisationen versandt und in der Zeitschrift Kommunist, Nr. 9 veröffentlicht und als Broschüre in Massenauflage herausgegeben.


Zuletzt aktualisiert am 12. April 2017