Wladimir Iljitsch Lenin

 

Der „Linke Radikalismus“,
die Kinderkrankheit
im Kommunismus


VII. Soll man sich an den bürgerlichen Parlamenten beteiligen?


Die deutschen „linken“ Kommunisten beantworten diese Frage mit größter Geringschätzung – und mit größter Leichtfertigkeit – verneinend. Ihre Argumente? In dem oben angeführten Zitat haben wir gelesen:

„... jede Rückkehr zu den historisch und politisch erledigten Kampfformen des Parlamentarismus ... ist mit aller Entschiedenheit abzulehnen ...“

Das ist bis zur Lächerlichkeit anmaßend gesagt und offenkundig falsch. „Rückkehr“ zum Parlamentarismus! Gibt es in Deutschland gar schon eine Sowjetrepublik? Doch wohl nicht! Wie kann man also von einer „Rückkehr“ reden? Ist das nicht eine leere Phrase?

Der Parlamentarismus ist „historisch erledigt“. Im Sinne der Propaganda ist das richtig. Aber jedermann weiß, daß es von da bis zur praktischen Überwindung noch sehr weit ist. Den Kapitalismus konnte man bereits vor vielen Jahrzehnten, und zwar mit vollem Recht, als „historisch erledigt“ bezeichnen, das enthebt uns aber keineswegs der Notwendigkeit eines sehr langen und sehr hartnäckigen Kampfes auf dem Boden des Kapitalismus. Der Parlamentarismus ist im welthistorischen Sinne „historisch erledigt“, d.h., die Epoche des bürgerlichen Parlamentarismus ist beendet, die Epoche der Diktatur des Proletariats hat begonnen. Das ist unbestreitbar. Aber der welthistorische Maßstab rechnet nach Jahrzehnten. 10 bis 20 Jahre früher oder später, das ist, mit dem welthistorischen Maßstab gemessen, gleichgültig, das ist – vom Standpunkt der Weltgeschichte aus gesehen – eine Kleinigkeit, die man nicht einmal annähernd berechnen kann. Aber gerade deshalb ist es eine haarsträubende theoretische Unrichtigkeit, sich in einer Frage der praktischen Politik auf den welthistorischen Maßstab zu berufen.

Der Parlamentarismus ist „politisch erledigt“? Das ist eine ganz andere Sache. Wäre das richtig, dann hätten die „Linken“ eine feste Position. Das müßte jedoch durch eine sehr gründliche Analyse bewiesen werden, die „Linken“ aber verstehen es nicht einmal, an eine solche Analyse heranzugehen. In den Thesen über den Parlamentarismus, die in Nr.1 des Bulletins des Provisorischen Amsterdamer Büros der Kommunistischen Internationale (Bulletin of the Provisional Bureau in Amsterdam of the Communist International, February 1920) veröffentlicht sind und offensichtlich die Ansichten der holländisch-linken oder links-holländischen Richtung zum Ausdruck bringen, ist die Analyse, wie wir sehen werden, ebenfalls ganz miserabel.

Erstens. Die deutschen „Linken“ haben entgegen der Meinung so hervorragender politischer Führer wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bekanntlich schon im Januar 1919 den Parlamentarismus für „politisch erledigt“ gehalten. Wie bekannt, haben sich die „Linken“ geirrt. Schon das allein stößt sofort und radikal die These um, daß der Parlamentarismus „politisch erledigt“ sei. Den „Linken“ obliegt es zu beweisen, weshalb ihr unbestreitbarer Fehler von damals jetzt aufgehört hat, ein Fehler zu sein. Nicht einmal den Schimmer eines Beweises führen sie an und können sie anführen. Das Verhalten einer politischen Partei zu ihren Fehlern ist eines der wichtigsten und sichersten Kriterien für den Ernst einer Partei und für die tatsächliche Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber ihrer Klasse und den werktätigen Massen. Einen Fehler offen zuzugeben, seine Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihn hervorgerufen haben, analysieren, die Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen – das ist das Merkmal einer ernsten Partei, das heißt Erfüllung ihrer Pflichten, das heißt Erziehung und Schulung der Klasse und dann auch der Masse. Wenn die „Linken“ in Deutschland (und in Holland) diese ihre Pflicht nicht erfüllen, wenn sie nicht mit größter Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Vorsicht an das Studium ihres offenkundigen Fehlers gehen, so beweisen sie gerade dadurch, daß sie nicht eine Partei der Klasse, sondern ein Konventikel, nicht eine Partei der Massen, sondern eine Gruppe von Intellektuellen und einigen wenigen Arbeitern sind, die die schlechtesten Eigenschaften der Intellektuellen kopieren.

Zweitens. In derselben Broschüre der Frankfurter Gruppe der „Linken“, aus der wir oben ausführliche Zitate angeführt haben, lesen wir:

„Die Millionen der im Banne der Zentrumspolitik“ (der Politik der katholischen Zentrumspartei) „noch marschierenden Arbeiter sind gegenrevolutionär. Die Landproletarier stellen Legionen gegenrevolutionärer Truppen.“ (S.3 der obengenannten Broschüre.)

Man merkt an allem, daß das allzu schwungvoll gesagt und übertrieben ist. Aber die hier dargelegte grundlegende Tatsache ist unbestreitbar, und daß die „Linken“ sie anerkennen, zeugt besonders anschaulich von ihrem Fehler. Wie kann man denn davon reden, daß der „Parlamentarismus politisch erledigt“ sei, wenn „Millionen“ und „Legionen“ Proletarier nicht nur für den Parlamentarismus schlechthin eintreten, sondern sogar direkt „gegenrevolutionär“ sind!? Es ist klar, daß der Parlamentarismus in Deutschland politisch noch nicht erledigt ist. Es ist klar, daß die „Linken“ in Deutschland ihren eigenen Wunsch, ihre eigene ideologisch-politische Stellung für die objektive Wirklichkeit halten. Das ist der gefährlichste Fehler, den Revolutionäre machen können. In Rußland, wo das überaus barbarische und grausame Joch des Zarismus besonders lange und in besonders mannigfaltigen Formen Revolutionäre verschiedener Richtungen hervorgebracht hat, Revolutionäre, deren Hingabe, Enthusiasmus, Heldenmut und Willenskraft bewundernswert sind, in Rußland haben wir diesen Fehler an Revolutionären aus nächster Nähe beobachtet, haben ihn besonders aufmerksam studiert, kennen ihn besonders gut und sehen ihn deshalb auch bei anderen besonders klar. Für die Kommunisten in Deutschland ist der Parlamentarismus natürlich „politisch erledigt“, aber es kommt gerade darauf an, daß wir das, was für uns erledigt ist, nicht als erledigt für die Klasse, nicht als erledigt für die Massen betrachten. Gerade hier sehen wir wiederum, daß die „Linken“ nicht zu urteilen verstehen, daß sie nicht als Partei der Klasse, als Partei der Massen zu handeln verstehen. Ihr seid verpflichtet, nicht auf das Niveau der Massen, nicht auf das Niveau der rückständigen Schichten der Klasse hinabzusinken. Das ist unbestreitbar. Ihr seid verpflichtet, ihnen die bittere Wahrheit zu sagen. Ihr seid verpflichtet, ihre bürgerlich-demokratischen und parlamentarischen Vorurteile beim richtigen Namen zu nennen. Aber zugleich seid ihr verpflichtet, den tatsächlichen Bewußtseins- und Reifegrad eben der ganzen Klasse (und nicht nur ihrer kommunistischen Avantgarde), eben der ganzen werktätigen Masse (und nicht nur ihrer fortgeschrittensten Vertreter) nüchtern zu prüfen.

Selbst wenn keine „Millionen“ und „Legionen“, sondern bloß eine ziemlich beträchtliche Minderheit von Industriearbeitern den katholischen Pfaffen und von Landarbeitern den Junkern und Großbauern nachläuft, ergibt sich schon daraus unzweifelhaft, daß der Parlamentarismus in Deutschland politisch noch nicht erledigt ist, daß die Beteiligung an den Parlamentswahlen und am Kampf auf der Parlamentstribüne für die Partei des revolutionären Proletariats unbedingte Pflicht ist, gerade um die rückständigen Schichten ihrer Klasse zu erziehen, gerade um die unentwickelte, geduckte, unwissende Masse auf dem Lande aufzurütteln und aufzuklären. Solange ihr nicht stark genug seid, das bürgerliche Parlament und alle sonstigen reaktionären Institutionen auseinanderzujagen, seid ihr verpflichtet, gerade innerhalb dieser Institutionen zu arbeiten, weil sich dort noch Arbeiter befinden, die von den Pfaffen und durch das Leben in den ländlichen Provinznestern verdummt worden sind. Sonst lauft ihr Gefahr, einfach zu Schwätzern zu werden.

Drittens. Die „linken“ Kommunisten sagen über uns Bolschewiki sehr viel Gutes. Manchmal möchte man sagen: Wenn sie uns doch weniger loben, wenn sie doch in die Taktik der Bolschewiki besser eindringen, sich besser mit ihr vertraut machen wollten! Wir haben uns im September bis November 1917 an den Wahlen zum bürgerlichen Parlament Rußlands, zur Konstituierenden Versammlung, beteiligt. War unsere Taktik richtig oder nicht? Wenn nicht, so muß das klar gesagt und bewiesen werden; das ist notwendig, damit der internationale Kommunismus eine richtige Taktik ausarbeitet. Wenn ja, so müssen daraus bestimmte Schlußfolgerungen gezogen werden. Selbstverständlich kann von einer Gleichsetzung der Verhältnisse in Rußland und der Verhältnisse in Westeuropa keine Rede sein. Speziell in der Frage jedoch, was der Satz: „Der Parlamentarismus ist politisch erledigt!“ bedeutet, muß unsere Erfahrung unbedingt genau in Betracht gezogen werden, denn solche Aussprüche verwandeln sich allzu leicht in hohle Phrasen, wenn die konkrete Erfahrung nicht in Betracht gezogen wird. Hatten wir russischen Bolschewiki im September-November 1917 nicht mehr als jeder beliebige Kommunist im Westen das Recht, anzunehmen, daß der Parlamentarismus in Rußland politisch erledigt sei? Natürlich hatten wir es, denn es kommt ja nicht darauf an, ob die bürgerlichen Parlamente lange oder kurze Zeit bestehen, sondern darauf, wieweit die breiten Massen der Werktätigen (ideologisch, politisch, praktisch) bereit sind, die Sowjetordnung anzunehmen und das bürgerlich-demokratische Parlament auseinanderzujagen (oder seine Auseinanderjagung zuzulassen). Daß in Rußland im September-November 1917 die Arbeiterklasse der Städte, die Soldaten und die Bauern infolge einer Reihe von besonderen Umständen für die Annahme der Sowjetordnung und die Auseinanderjagung selbst des demokratischsten bürgerlichen Parlaments außerordentlich gut vorbereitet waren, ist eine ganz unbestreitbare und einwandfrei feststehende historische Tatsache. Und trotzdem haben die Bolschewiki die Konstituierende Versammlung nicht boykottiert, sondern haben sich sowohl vor als auch nach der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat an den Wahlen beteiligt. Daß diese Wahlen außerordentlich wertvolle (und für das Proletariat im höchsten Grad nützliche) politische Resultate gezeitigt haben, hoffe ich, in dem obenerwähnten Artikel bewiesen zu haben, der das Material über die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung in Rußland eingehend analysiert.

Daraus ergibt sich eine ganz unbestreitbare Schlußfolgerung: Es ist bewiesen, daß sogar einige Wochen vor dem Siege der Sowjetrepublik, ja sogar nach diesem Siege die Beteiligung am bürgerlich-demokratischen Parlament dem revolutionären Proletariat nicht nur nicht schadet, sondern es ihm erleichtert, den rückständigen Massen zu beweisen, weshalb solche Parlamente es verdienen, auseinandergejagt zu werden, es ihm erleichtert, sie mit Erfolg auseinanderzujagen, es ihm erleichtert, den bürgerlichen Parlamentarismus „politisch zu erledigen“. Diese Erfahrung nicht in Rechnung stellen und gleichzeitig auf die Zugehörigkeit zur Kommunistischen Internationale Anspruch erheben, die ihre Taktik international (nicht als eng oder einseitig nationale, sondern eben als internationale Taktik) auszuarbeiten hat, heißt einen sehr schweren Fehler begehen und vom Internationalismus gerade in der Praxis abweichen, während man ihn in Worten anerkennt.

Betrachten wir nun die „holländisch-linken“ Argumente für die Nichtbeteiligung an den Parlamenten. Die wichtigste der obengenannten „holländischen“ Thesen, die vierte These, lautet in der Übersetzung (aus dem Englischen) folgendermaßen:

„Wenn das kapitalistische Produktionssystem zusammengebrochen ist und die Gesellschaft sich im Zustand der Revolution befindet, verliert die parlamentarische Aktion, im Vergleich zur Aktion der Massen selbst, allmählich ihre Bedeutung. Wenn unter diesen Umständen das Parlament zum Zentrum und Organ der Konterrevolution wird, andrerseits aber die Arbeiterklasse ihre Machtinstrumente in Gestalt der Sowjets aufbaut – kann es sogar notwendig werden, sich all und jeder Beteiligung an der parlamentarischen Aktion zu enthalten.“

Der erste Satz ist offenkundig falsch, denn die Aktion der Massen z.B. ein großer Streik – ist immer und keineswegs nur während der Revolution oder in einer revolutionären Situation wichtiger als die parlamentarische Aktion. Dieses offenkundig unhaltbare, historisch und politisch falsche Argument zeigt nur mit besonderer Anschaulichkeit, daß die Verfasser weder die gesamteuropäischen Erfahrungen (die französische vor den Revolutionen von 1848 und 1870; die deutsche der Jahre 1878 bis 1890 usw.) noch die russischen Erfahrungen (siehe oben), die zeigen, wie wichtig es ist, den legalen und den illegalen Kampf zu verbinden, auch nur im geringsten berücksichtigen. Diese Frage ist im allgemeinen wie auch speziell deswegen von allergrößter Bedeutung, weil in allen zivilisierten und fortgeschrittenen Ländern schnell die Zeit heranrückt, da eine solche Verbindung für die Partei des revolutionären Proletariats immer mehr und mehr zu einer Notwendigkeit wird – teilweise schon geworden ist –, und zwar infolge des Heranreifens und Herannahens des Bürgerkriegs zwischen Proletariat und Bourgeoisie, infolge der wütenden Verfolgungen der Kommunisten durch die republikanischen und überhaupt die bürgerlichen Regierungen, die sich auf jede Art und Weise über die Legalität hinwegsetzen (wie schwer wiegt allein das Beispiel Amerikas) usw. Diese höchst wichtige Frage haben die Holländer und überhaupt die Linken absolut nicht begriffen.

Der zweite Satz ist erstens historisch falsch. Wir Bolschewiki beteiligten uns selbst an den konterrevolutionärsten Parlamenten, und die Erfahrung hat gezeigt, daß eine solche Beteiligung für die Partei des revolutionären Proletariats gerade nach der ersten bürgerlichen Revolution in Rußland (1905) nicht nur nützlich, sondern auch notwendig war, um die zweite bürgerliche (Februar 1917) und dann die sozialistische (Oktober 1917) Revolution vorbereiten zu können. Zweitens ist dieser Satz erstaunlich unlogisch. Daraus, daß das Parlament zum Organ und „Zentrum“ der Konterrevolution wird (in Wirklichkeit ist es niemals das „Zentrum“ gewesen und kann es auch nicht sein, doch das nur nebenbei) und die Arbeiter ihre Machtinstrumente in Gestalt der Sowjets schaffen, folgt, daß die Arbeiter sich darauf vorbereiten – ideologisch, politisch und technisch vorbereiten – müssen, das Parlament durch die Sowjets zu bekämpfen, das Parlament durch die Sowjets auseinanderzujagen. Daraus folgt aber keineswegs, daß ein solches Auseinanderjagen durch das Vorhandensein einer Sowjetopposition innerhalb des konterrevolutionären Parlaments erschwert oder doch nicht erleichtert würde. Wir haben während unseres siegreichen Kampfes gegen Denikin und Koltschak kein einziges Mal gemerkt, daß das Bestehen einer sowjetischen, einer proletarischen Opposition bei ihnen für unsere Siege gleichgültig gewesen wäre. Wir wissen sehr wohl, daß uns das Auseinanderjagen der Konstituante am 5.1.1918 nicht erschwert, sondern erleichtert worden ist dadurch, daß innerhalb der auseinanderzujagenden konterrevolutionären Konstituante sowohl eine konsequente, die bolschewistische, als auch eine inkonsequente, die linke sozialrevolutionäre, Sowjetopposition vorhanden war. Die Verfasser der These haben sich völlig verheddert und die Erfahrung zahlreicher, wenn nicht aller Revolutionen vergessen, die davon zeugt, daß es zu Revolutionszeiten besonders nützlich ist, die Massenaktionen außerhalb des reaktionären Parlaments mit einer Opposition, die mit der Revolution sympathisiert (oder noch besser: die Revolution direkt unterstützt), innerhalb dieses Parlaments zu verbinden, Die Holländer und die „Linken“ überhaupt urteilen hier wie Doktrinäre der Revolution, die an einer wirklichen Revolution niemals teilgenommen oder sich in die Geschichte der Revolutionen nicht vertieft haben oder naiv die subjektive „Ablehnung“ einer bestimmten reaktionären Institution für deren tatsächliche Zerstörung durch die vereinten Kräfte einer ganzen Reihe von objektiven Faktoren halten. Das sicherste Mittel, eine neue politische (und nicht nur eine politische) Idee zu diskreditieren und ihr zu schaden, besteht darin, sie ad absurdum zu führen, während man sie verteidigt. Denn jede Wahrheit kann man, wenn man sie „überschwenglich“ macht (wie der alte Dietzgen zu sagen pflegte), wenn man sie übertreibt, wenn man sie über die Grenzen ihrer wirklichen Anwendbarkeit hinaus ausdehnt, ad absurdum führen, ja sie wird unter diesen Umständen unvermeidlich absurd. Und eben diesen Bärendienst erweisen die holländischen und die deutschen Linken der neuen Wahrheit, daß die Sowjetmacht den bürgerlich-demokratischen Parlamenten überlegen ist. Selbstverständlich wäre jemand, der so wie früher und ganz allgemein sagen wollte, daß ein Verzicht auf die Beteiligung an bürgerlichen Parlamenten unter keinen Umständen zulässig sei, im Unrecht. Ich kann hier nicht versuchen, die Bedingungen zu formulieren, unter denen ein Boykott von Nutzen ist, denn diese Schrift stellt sich die viel bescheidenere Aufgabe, im Zusammenhang mit einigen brennenden Tagesfragen der internationalen kommunistischen Taktik die russischen Erfahrungen auszuwerten. Die russischen Erfahrungen haben uns einmal (1905) eine erfolgreiche und richtige und ein andermal (1906) eine verfehlte Anwendung des Boykotts durch die Bolschewiki geliefert. Analysieren wir den ersten Fall, so sehen wir, daß es uns gelang, die Einberufung eines reaktionären Parlaments durch die reaktionäre Regierung in einer Situation zu verhindern, da sich die außerparlamentarische revolutionäre Aktion der Massen (insbesondere die Streikbewegung) mit ungewöhnlicher Schnelligkeit ausbreitete, da keine einzige Schicht des Proletariats und der Bauernschaft die reaktionäre Regierung irgendwie unterstützen konnte, da sich das revolutionäre Proletariat durch den Streikkampf und die Agrarbewegung den Einfluß auf die rückständigen breiten Massen gesichert hatte. Es ist vollkommen klar, daß diese Erfahrung auf die gegenwärtigen europäischen Verhältnisse nicht anwendbar ist. Es ist auch vollkommen klar – auf Grund der oben angeführten Argumente –, daß ein Verzicht auf die Beteiligung an den Parlamenten, wie er von den Holländern und den „Linken“, wenn auch nur bedingt, verfochten wird, grundfalsch und für die Sache des revolutionären Proletariats schädlich wäre.

In Westeuropa und Amerika hat sich das Parlament den besonderen Haß der fortgeschrittenen Revolutionäre aus der Arbeiterklasse zugezogen. Das ist unbestreitbar. Es ist durchaus begreiflich, denn man kann sich schwerlich etwas Niederträchtigeres, Gemeineres, Verräterischeres vorstellen als das Verhalten der übergroßen Mehrheit der sozialistischen und sozialdemokratischen Abgeordneten im Parlament während des Krieges und nach dem Kriege. Es wäre aber nicht nur unvernünftig, sondern geradezu verbrecherisch, dieser Stimmung nachzugeben, wenn die Frage entschieden werden muß, wie das von allen erkannte Übel zu bekämpfen ist. In vielen Ländern Westeuropas ist die revolutionäre Stimmung jetzt gewissermaßen eine „Neuheit“ oder „Seltenheit“, auf die man allzulange, vergeblich, ungeduldig gewartet hat, und vielleicht gibt man deswegen dieser Stimmung so leicht nach. Natürlich kann ohne revolutionäre Stimmung unter den Massen und ohne Bedingungen, die das Anwachsen einer solchen Stimmung fördern, die revolutionäre Taktik nicht in die Tat umgesetzt werden; wir in Rußland haben uns aber durch allzulange, schwere, blutige Erfahrungen von der Wahrheit überzeugt, daß die revolutionäre Taktik auf revolutionärer Stimmung allein nicht aufgebaut werden kann. Die Taktik muß auf einer nüchternen, streng objektiven Einschätzung aller Klassenkräfte des betreffenden Staates (und der ihn umgebenden Staaten sowie aller Staaten der ganzen Welt) sowie auf der Berücksichtigung der von den revolutionären Bewegungen gesammelten Erfahrungen aufgebaut werden. Es ist sehr leicht, seinen „Revolutionismus“ nur durch Schimpfen auf den parlamentarischen Opportunismus, nur durch Ablehnung der Beteiligung an den Parlamenten zu bekunden, aber gerade weil das nur allzu leicht ist, ist es keine Lösung der schwierigen, überaus schwierigen Aufgabe. In den europäischen Parlamenten ist es viel schwieriger, eine wirklich revolutionäre Parlamentsfraktion zu schaffen, als es in Rußland der Fall war. Gewiß. Aber das ist nur ein besonderer Ausdruck der allgemeinen Wahrheit, daß es für Rußland in der konkreten, historisch außerordentlich eigenartigen Situation von 1917 leicht war, die sozialistische Revolution zu beginnen, während es für Rußland schwerer als für die europäischen Länder sein wird, sie fortzusetzen und zu Ende zu führen. Bereits Anfang 1918 mußte ich auf diesen Umstand hinweisen, und die späteren zweijährigen Erfahrungen haben die Richtigkeit dieser Erwägung vollauf bestätigt. Solche spezifische Bedingungen wie: 1. die Möglichkeit, den Sowjetumsturz mit der dank diesem Umsturz herbeigeführten Beendigung des imperialistischen Krieges zu verbinden, der die Arbeiter und Bauern aufs äußerste erschöpft hatte; 2. die Möglichkeit, eine gewisse Zeit lang den auf Tod und Leben geführten Kampf der beiden weltbeherrschenden Gruppen imperialistischer Räuber auszunutzen, der beiden Gruppen, die sich nicht gegen die Sowjets, ihren Feind, vereinigen konnten; 3. die Möglichkeit – teilweise dank der ungeheuren Ausdehnung des Landes und den schlechten Verkehrsmitteln –, einen verhältnismäßig langwierigen Bürgerkrieg auszuhalten; 4. das Vorhandensein einer so tief gehenden bürgerlich-demokratischen revolutionären Bewegung unter der Bauernschaft, daß die Partei des Proletariats die revolutionären Forderungen von der Partei der Bauern (der Sozialrevolutionäre, einer Partei, die in ihrer Mehrheit dem Bolschewismus ausgesprochen feindlich gegenüberstand) übernehmen und sie dank der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat unverzüglich verwirklichen konnte – solche spezifische Bedingungen sind jetzt in Westeuropa nicht vorhanden, und die Wiederkehr solcher oder ähnlicher Bedingungen ist nicht allzu leicht möglich. Deshalb übrigens ist es, neben einer Reihe anderer Gründe, für Westeuropa schwerer, als es für uns war, die sozialistische Revolution zu beginnen. Diese Schwierigkeit dadurch „umgehen“ zu wollen, daß man die schwere Aufgabe der Ausnutzung reaktionärer Parlamente zu revolutionären Zwecken „überspringen“ möchte, ist reinste Kinderei. Ihr wollt eine neue Gesellschaft schaffen? und ihr fürchtet Schwierigkeiten bei der Schaffung einer guten Parlamentsfraktion aus überzeugten, treuen, heldenhaften Kommunisten im reaktionären Parlament! Ist das etwa nicht Kinderei? Wenn Karl Liebknecht in Deutschland und Z. Höglund in Schweden es sogar ohne Unterstützung der Massen von unten vermocht haben, Musterbeispiele einer wirklich revolutionären Ausnutzung reaktionärer Parlamente zu geben, warum sollte dann eine rasch wachsende revolutionäre Massenpartei unter den Nachkriegsverhältnissen der Enttäuschung und Erbitterung der Massen nicht imstande sein, sich in den schlimmsten Parlamenten eine kommunistische Fraktion zu schmieden?! Gerade deshalb, weil die rückständigen Massen der Arbeiter und – in noch höherem Grade – der Kleinbauern in Westeuropa viel stärker als in Rußland von bürgerlich-demokratischen und parlamentarischen Vorurteilen durchdrungen sind, gerade deshalb können (und müssen) die Kommunisten nur in solchen Institutionen wie den bürgerlichen Parlamenten von innen heraus den langwierigen, hartnäckigen, vor keinen Schwierigkeiten zurückschreckenden Kampf zur Enthüllung, Zerstreuung und Überwindung dieser Vorurteile führen.

Die deutschen „Linken“ klagen über die schlechten „Führer“ ihrer Partei und geraten darob in Verzweiflung, wobei sie sich bis zur lächerlichen „Verneinung“ der „Führer“ versteigen. Aber unter Bedingungen, wo man die „Führer“ häufig in der Illegalität verstecken muß, ist es besonders schwer, gute, zuverlässige, erprobte, angesehene „Führer“ herauszubilden, und diese Schwierigkeiten kann man nicht mit Erfolg überwinden, ohne die legale und die illegale Arbeit miteinander zu verbinden, ohne die „Führer“ unter anderem auch in der Parlamentsarena zu erproben. Die Kritik – und zwar die schärfste, schonungsloseste, unversöhnlichste Kritik – ist nicht gegen den Parlamentarismus oder gegen die parlamentarische Tätigkeit zu richten, sondern gegen jene Führer, die es nicht verstehen, die Parlamentswahlen und die Parlamentstribüne auf revolutionäre, auf kommunistische Art auszunutzen, und noch mehr gegen diejenigen, die das nicht wollen. Nur eine solche Kritik, natürlich verbunden damit, daß man die untauglichen Führer fortjagt und durch taugliche ersetzt, wird eine nützliche und fruchtbringende revolutionäre Arbeit sein, die gleichzeitig sowohl die „Führer“ erzieht, damit sie der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen würdig sind, als auch die Massen erzieht, damit sie lernen, sich in der politischen Lage zurechtzufinden und die mitunter sehr komplizierten und verwickelten Aufgaben zu verstehen, die sich aus dieser Lage ergeben. [19]

Fußnote

19. Ich hatte zuwenig Gelegenheit, den „linken“ Kommunismus in Italien kennenzulernen. Unzweifelhaft sind Gen. Bordiga und seine Fraktion der „kommunistischen Boykottisten“ (Comunista astensionista) im Unrecht, wenn sie die Nichtbeteiligung am Parlament verfechten. In einem Punkt aber scheint Gen. Bordiga recht zu haben – soweit man sich auf Grund von zwei Nummern seiner Zeitung ll Soviet (Nr.3 und 4 vom 18.1. und 1.11.1920), vier Heften der vortrefflichen Zeitschrift des Gen. Serrati Comunismo (Nr.1-4 vom 1.X. bis 30.XI. 1919) und einzelner Nummern italienischer bürgerlicher Zeitungen, die zu lesen ich Gelegenheit hatte, ein Urteil bilden kann. Und zwar sind Gen. Bordiga und seine Fraktion im Recht mit ihren Angriffen gegen Turati und dessen Gesinnungsgenossen, die in einer Partei bleiben, welche die Sowjetmacht und die Diktatur des Proletariats anerkannt hat, die Mitglieder des Parlaments bleiben und ihre überaus schädliche, alte, opportunistische Politik fortsetzen. Natürlich machen Gen. Serrati und die gesamte „Italienische Sozialistische Partei“ [1*] dadurch, daß sie das dulden, einen Fehler, der ebenso großen Schaden anzurichten und eine ebenso große Gefahr heraufzubeschwören droht, wie das in Ungarn der Fall war, wo die ungarischen Herren Turati sowohl die Partei als auch die Rätemacht von innen heraus sabotierten. Dieses falsche, inkonsequente oder charakterlose Verhalten gegenüber den opportunistischen Parlamentariern erzeugt einerseits den „linken“ Kommunismus und rechtfertigt anderseits bis zu einem gewissen Grade dessen Existenz. Gen. Serrati hat offenkundig unrecht, wenn er dem Abgeordneten Turati „Inkonsequenz“ vorwirft (Comunismo Nr.3), denn inkonsequent ist gerade die Italienische Sozialistische Partei, die solche opportunistischen Parlamentarier wie Turati und Co. duldet.
 

Anmerkung

1*. Die „Italienische Sozialistische Partei“ wurde 1892 als „Partei der italienischen Arbeiter“ gegründet und 1893 in „Italienische Sozialistische Partei“ umbenannt. Nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland verstärkte sich der linke Flügel in der Italienischen Sozialistischen Partei. Im Januar 1921, auf dem Parteitag von Livorno, brachen die Linken mit der Sozialistischen Partei, beriefen einen eigenen Parteitag ein und gründeten die Kommunistische Partei Italiens.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008