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Die deutschen „Linken“ betrachten es für sich als entschieden, daß diese Frage unbedingt verneinend zu beantworten ist. Ihrer Meinung nach genügen Deklamationen und zornige Ausrufe gegen die „reaktionären“ und „konterrevolutionären“ Gewerkschaften (besonders „solid“ und besonders dumm macht das K. Horner), um „zu beweisen“, daß Revolutionäre, daß Kommunisten in den gelben, sozialchauvinistischen, paktiererischen, Legienschen, konterrevolutionären Gewerkschaften nicht zu arbeiten brauchen, ja sogar nicht arbeiten dürfen.
Wie sehr die deutschen „Linken“ aber auch überzeugt sein mögen, daß diese Taktik revolutionär sei, in Wirklichkeit ist sie grundfalsch und enthält nichts als hohle Phrasen.
Um das klarzumachen, will ich mit der von uns gemachten Erfahrung beginnen – entsprechend dem allgemeinen Plan der vorliegenden Schrift, die den Zweck hat, auf Westeuropa das anzuwenden, was in der Geschichte und der heutigen Taktik des Bolschewismus allgemein anwendbar, von allgemeiner Bedeutung und allgemeiner Gültigkeit ist.
Das Verhältnis zwischen Führer, Partei, Klasse und Masse und damit zugleich das Verhältnis der Diktatur des Proletariats und seiner Partei zu den Gewerkschaften hat bei uns jetzt konkret folgende Form angenommen: Die Diktatur wird durch das in den Sowjets organisierte Proletariat verwirklicht, dessen Führer die Kommunistische Partei der Bolschewiki ist, die nach den Angaben des letzten Parteitags (April 1920) 611.000 Mitglieder zählt. Die Zahl der Mitglieder schwankte sowohl vor als auch nach der Oktoberrevolution sehr stark und war früher, sogar in den Jahren 1918 und 1919, viel geringer [14]. Wir fürchten eine übermäßige Ausdehnung der Partei, denn in eine Regierungspartei versuchen sich unvermeidlich Karrieristen und Gauner einzuschleichen, die nur verdienen, erschossen zu werden. Das letztemal haben wir – nur für Arbeiter und Bauern – die Tore der Partei weit geöffnet, als (im Winter 1919) Judenitsch wenige Werst vor Petrograd und Denikin in Oriol (etwa 350 Werst von Moskau) stand, d.h. als der Sowjetrepublik höchste, tödliche Gefahr drohte und als Abenteurer, Karrieristen, Gauner und überhaupt unsichere Elemente keineswegs auf eine gute Karriere (eher auf Galgen und Folter) rechnen konnten, wenn sie sich den Kommunisten anschlossen. Die Partei, die alljährlich ihre Parteitage abhält (bei dem letzten entfiel auf 1.000 Mitglieder 1 Delegierter), wird vom Zentralkomitee geleitet, das aus 19 Personen besteht und auf dem Parteitag gewählt wird; die laufende Arbeit in Moskau wird von noch engeren Kollegien geleistet, dem sogenannten „Orgbüro“ (Organisationsbüro) und dem sogenannten „Politbüro“ (Politischen Büro), die aus je fünf Mitgliedern des Zentralkomitees bestehen und in Plenarsitzungen des Zentralkomitees gewählt werden. Hier haben wir also eine regelrechte „Oligarchie“. Keine einzige wichtige politische oder organisatorische Frage wird in unserer Republik von irgendeiner staatlichen Institution ohne Direktiven des Zentralkomitees unserer Partei entschieden.
Die Partei stützt sich bei ihrer Arbeit unmittelbar auf die Gewerkschaften, die nach den Angaben des letzten Kongresses (April 1920) gegenwärtig über 4 Millionen Mitglieder zählen und der Form nach parteilos sind. Faktisch bestehen alle leitenden Körperschaften der weitaus meisten Verbände und in erster Linie natürlich der Zentrale oder des Büros aller Gewerkschaften ganz Rußlands (WZSPS – Gesamtrussischer Zentralrat der Gewerkschaften) aus Kommunisten und führen alle Direktiven der Partei durch. Im großen und ganzen haben wir also einen der Form nach nicht kommunistischen, elastischen und verhältnismäßig umfassenden, überaus mächtigen proletarischen Apparat, durch den die Partei mit der KIasse und der Masse eng verbunden ist und durch den, unter Führung der Partei, die Diktatur der Klasse verwirklicht wird. Ohne die engste Verbindung mit den Gewerkschaften, ohne ihre tatkräftige Unterstützung, ohne ihre selbstlose Arbeit beim Aufbau nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Armee, hätten wir das Land selbstverständlich keine 2½ Monate, geschweige denn 2½ Jahre regieren und die Diktatur ausüben können. Diese überaus enge Verbindung bedeutet natürlich in der Praxis eine sehr komplizierte und mannigfaltige Arbeit der Propaganda, der Agitation, der rechtzeitigen und häufigen Beratungen nicht nur mit den leitenden, sondern überhaupt mit den einflußreichen Gewerkschaftlern und einen entschiedenen Kampf gegen die Menschewiki, die bis jetzt über eine gewisse, wenn auch ganz geringe Zahl von Anhängern verfügen, die sie zu allen möglichen konterrevolutionären Machenschaften anleiten – von der ideologischen Verteidigung der (bürgerlichen) Demokratie, dem Predigen der „Unabhängigkeit“ der Gewerkschaften (Unabhängigkeit – von der proletarischen Staatsmacht!) bis zur Sabotage der proletarischen Disziplin usw. usf.
Die Verbindung mit den „Massen“ vermittels der Gewerkschaften halten wir für ungenügend. Die Praxis hat bei uns, im Laufe der Revolution, eine solche Institution hervorgebracht wie die Konferenzen parteiloser Arbeiter und Bauern, die wir auf jede Art und Weise zu unterstützen, zu entwickeln und zu erweitern bemüht sind, um die Stimmung der Massen zu verfolgen, um an die Massen näher heranzukommen und ihren Anforderungen zu entsprechen, um aus ihrer Mitte die besten Kräfte auf Staatsposten aufrücken zu lassen usw. In einem der letzten Dekrete über die Umwandlung des Volkskommissariats für Staatliche Kontrolle in die „Arbeiter- und Bauerninspektion“ wird diesen Konferenzen von Parteilosen das Recht eingeräumt, Mitglieder der Staatlichen Kontrolle für Revisionen verschiedener Art zu wählen usw.
Ferner erfolgt selbstverständlich die ganze Arbeit der Partei vermittels der Sowjets, die die werktätigen Massen ohne Unterschied des Berufs vereinigen. Die Kreistagungen der Sowjets sind eine solche demokratische Einrichtung, wie sie die besten demokratischen Republiken der bürgerlichen Welt noch nicht gekannt haben. Durch diese Tagungen (welche die Partei so aufmerksam wie nur möglich zu verfolgen bemüht ist) wie auch durch ständige Abkommandierung klassenbewußter Arbeiter auf verschiedene Posten im Dorf wird die führende Rolle des Proletariats gegenüber der Bauernschaft verwirklicht, wird die Diktatur des städtischen Proletariats verwirklicht, wird der systematische Kampf gegen die reiche, bourgeoise, ausbeutende und spekulierende Bauernschaft geführt usw.
So sieht der allgemeine Mechanismus der proletarischen Staatsmacht aus, wenn man ihn „von oben“, vom Standpunkt der praktischen Verwirklichung der Diktatur betrachtet. Der Leser wird hoffentlich verstehen, warum dem russischen Bolschewik, der mit diesem Mechanismus vertraut ist und der beobachtet hat, wie sich dieser Mechanismus im Laufe von 25 Jahren aus kleinen, illegalen, unterirdischen Zirkeln entwickelte, das ganze Gerede, ob „von oben“ oder „von unten“, ob Diktatur der Führer oder Diktatur der Massen usw., als lächerlicher, kindischer Unsinn erscheinen muß, als eine Art Streit darüber, ob dem Menschen der linke Fuß oder die rechte Hand nützlicher ist.
Als ein ebenso lächerlicher, kindischer Unsinn muß uns auch das wichtigtuerische, überaus gelehrte und furchtbar revolutionäre Gerede der deutschen Linken über das Thema erscheinen, daß die Kommunisten in den reaktionären Gewerkschaften nicht arbeiten können und nicht arbeiten dürfen, daß es statthaft sei, diese Arbeit abzulehnen, daß man aus den Gewerkschaften austreten und unbedingt eine nagelneue, blitzsaubere, von sehr netten (und meistens wohl sehr jungen) Kommunisten ausgeheckte „Arbeiter-Union“ schaffen müsse usw. usf.
Der Kapitalismus hinterläßt dem Sozialismus unvermeidlich einerseits die alten, in Jahrhunderten herausgebildeten beruflichen und gewerblichen Unterschiede zwischen den Arbeitern und anderseits die Gewerkschaften. Diese können und werden sich nur sehr langsam, im Laufe vieler Jahre zu breiteren, weniger zünftlerischen Produktionsverbänden (die ganze Produktionszweige und nicht nur einzelne Branchen, Gewerbe und Berufe umfassen) entwickeln und erst dann dazu übergehen, vermittels dieser Produktionsverbände die Arbeitsteilung unter den Menschen aufzuheben und allseitig entwickelte und allseitig geschulte Menschen, die alles machen können, zu erziehen, zu unterweisen und heranzubilden. Dahin steuert der Kommunismus, dahin muß und wird er gelangen, aber erst nach einer langen Reihe von Jahren. Der Versuch, heute dieses künftige Ergebnis des vollkommen entwickelten, vollkommen gefestigten und herausgebildeten, vollkommen entfalteten und reifen Kommunismus praktisch vorwegzunehmen, wäre gleichbedeutend damit, einem vierjährigen Kind höhere Mathematik beibringen zu wollen.
Wir können (und müssen) beginnen, den Sozialismus aufzubauen, und zwar nicht aus einem phantastischen und nicht aus einem von uns speziell geschaffenen Menschenmaterial, sondern aus dem Material, das uns der Kapitalismus als Erbteil hinterlassen hat. Das ist sehr „schwer“, wer will es leugnen, aber jedes andere Herangehen an diese Aufgabe ist so wenig ernst, daß es gar nicht lohnt, davon zu reden.
Zu Beginn der Entwicklung des Kapitalismus bedeuteten die Gewerkschaften als Übergang von der Zersplitterung und Hilflosigkeit der Arbeiter zu den Anfängen einer Klassenvereinigung einen riesigen Fortschritt der Arbeiterklasse. Als die höchste Form der Klassenvereinigung der Proletarier, die revolutionäre Partei des Proletariats (die ihren Namen nicht verdient, solange sie es nicht gelernt hat, die Führer mit der Klasse und mit den Massen zu einem Ganzen, zu etwas Untrennbarem zu verbinden), sich herauszubilden anfing, da begannen die Gewerkschaften unvermeidlich gewisse reaktionäre Züge zu offenbaren, eine gewisse zünftlerische Beschränktheit, eine gewisse Neigung zur politischen Indifferenz, eine gewisse Stagnation usw. Aber anders als vermittels der Gewerkschaften, anders als durch ihr Zusammenwirken mit der Partei der Arbeiterklasse ging die Entwicklung des Proletariats nirgendwo in der Welt vor sich und konnte auch nicht vor sich gehen. Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat bedeutet für das Proletariat als Klasse einen riesigen Schritt vorwärts, und die Partei muß noch mehr und auf neue, nicht nur auf alte Art die Gewerkschaften erziehen und leiten, darf aber gleichzeitig nicht vergessen, daß sie eine unentbehrliche „Schule des Kommunismus“ sind und noch lange bleiben werden, eine Vorbereitungsschule für die Proletarier zur Verwirklichung ihrer Diktatur, eine unentbehrliche Vereinigung der Arbeiter für den allmählichen Übergang der Verwaltung der gesamten Wirtschaft des Landes in die Hände der Arbeiterklasse (aber nicht einzelner Berufszweige) und sodann aller Werktätigen.
Im erwähnten Sinne sind gewisse „reaktionäre Züge“ der Gewerkschaften unter der Diktatur des Proletariats unvermeidlich. Wer das nicht begreift, versteht absolut nichts von den grundlegenden Bedingungen des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Fürchtet man diese „reaktionären Züge“, sucht man sie zu ignorieren, sie zu überspringen, so ist das die größte Dummheit, denn das bedeutet, vor der Rolle der proletarischen Avantgarde zurückzuschrecken, die darin besteht, daß sie die rückständigsten Schichten und Massen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft schult, aufklärt, erzieht und dem neuen Leben zuführt. Anderseits wäre es ein noch größerer Fehler, die Verwirklichung der Diktatur des Proletariats so lange aufzuschieben, bis es keinen einzigen Arbeiter mehr gibt, der beruflich beschränkt ist, der zünftlerische und trade-unionistische Vorurteile hat. Die Kunst des Politikers (und das richtige Verständnis des Kommunisten für seine Aufgaben) besteht eben darin, die Bedingungen und den Zeitpunkt richtig einzuschätzen, wo die Avantgarde des Proletariats die Macht mit Erfolg ergreifen kann, damit sie während und nach der Machtergreifung auf eine ausreichende Unterstützung genügend breiter Schichten der Arbeiterklasse und der nichtproletarischen werktätigen Massen rechnen kann, wo sie nach der Machtergreifung ihre Herrschaft dadurch behaupten, festigen und erweitern kann, daß sie immer breitere Massen der Werktätigen erzieht, schult und mitreißt.
Weiter. In Ländern, die fortgeschrittener sind als Rußland, hat sich, und das mußte so sein, ein gewisser reaktionärer Geist in den Gewerkschaften zweifellos viel stärker geltend gemacht als bei uns. Gerade wegen der zünftlerischen Beschränktheit, des beruflichen Egoismus und des Opportunismus hatten die Menschewiki bei uns eine Stütze in den Gewerkschaften (und haben sie zum Teil in ganz wenigen Gewerkschaften auch heute noch). Im Westen haben sich die dortigen Menschewiki in den Gewerkschaften viel mehr „festgesetzt“, dort hat sich eine viel stärkere Schicht einer beruflich beschränkten, bornierten, selbstsüchtigen, verknöcherten, eigennützigen, spießbürgerlichen, imperialistisch gesinnten und vom Imperialismus bestochenen, vom Imperialismus demoralisierten Arbeiteraristokratie herausgebildet als bei uns. Das ist unbestreitbar. Der Kampf mit den Gompers, den Herren Jouhaux, Henderson, Merrheim, Legien und Co. in Westeuropa ist weit schwieriger als der Kampf mit unseren Menschewiki, die sozial und politisch einen völlig gleichartigen Typus darstellen. Dieser Kampf muß rücksichtslos und, so wie wir es getan haben, unbedingt bis zu Ende geführt werden, bis zur völligen Diskreditierung aller unverbesserlichen Führer des Opportunismus und Sozialchauvinismus und ihrer Vertreibung aus den Gewerkschaften. Man kann die politische Macht nicht erobern (und soll nicht versuchen, die politische Macht zu ergreifen), solange dieser Kampf nicht eine gewisse Stufe erreicht hat, wobei diese „gewisse Stufe“ in den verschiedenen Ländern und unter den verschiedenen Verhältnissen nicht die gleiche ist; und sie richtig abschätzen können nur kluge, erfahrene und sachkundige politische Führer des Proletariats jedes einzelnen Landes. (Bei uns waren ein Maßstab für den Erfolg in diesem Kampf unter anderem die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, die im November 1917, wenige Tage nach der proletarischen Umwälzung vom 25.10.1917, stattfanden. Bei diesen Wahlen wurden die Menschewiki aufs Haupt geschlagen. Sie erhielten 0,7 Millionen Stimmen – zusammen mit Transkaukasien 1,4 Millionen gegenüber 9 Millionen Stimmen, die für die Bolschewiki abgegeben wurden: Siehe meinen Artikel: Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung und die Diktatur des Proletariats [15] in Nr.7/8 der Kommunistischen Internationale.)
Doch den Kampf gegen die „Arbeiteraristokratie“ führen wir im Namen der Arbeitermassen und um sie für uns zu gewinnen; den Kampf gegen die opportunistischen und sozialchauvinistischen Führer führen wir, um die Arbeiterklasse für uns zu gewinnen. Diese höchst elementare und ganz augenfällige Wahrheit zu vergessen wäre eine Dummheit. Und gerade diese Dummheit begehen die „linken“ deutschen Kommunisten, die aus der Tatsache, daß die Spitzen der Gewerkschaften reaktionär und konterrevolutionär sind, den, Schluß ziehen, daß man ... aus den Gewerkschaften austreten!!, die Arbeit in den Gewerkschaften ablehnen!! und neue, ausgeklügelte Formen von Arbeiterorganisationen schaffen müsse!! Das ist eine so unverzeihliche Dummheit, daß sie dem größten Dienst gleichkommt, den Kommunisten der Bourgeoisie erweisen können. Denn unsere Menschewiki sind wie alle opportunistischen, sozialchauvinistischen und kautskyanischen Führer der Gewerkschaften nichts anderes als „Agenten der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung“ (was wir immer von den Menschewiki gesagt haben) oder, nach dem ausgezeichneten und zutiefst wahren Ausdruck der Anhänger Daniel de Leons in Amerika, „Arbeiterkommis der Kapitalistenklasse“ (Labor lieutenants of the capitalist class). „Nicht in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten heißt die ungenügend entwickelten oder rückständigen Arbeitermassen dem Einfluß der reaktionären Führer, der Agenten der Bourgeoisie, der Arbeiteraristokraten oder der verbürgerten Arbeiter“ (vgl. Engels’ Brief von 1858 an Marx über die englischen Arbeiter [16]) überlassen.
Gerade die absurde „Theorie“, wonach sich die Kommunisten an den reaktionären Gewerkschaften nicht beteiligen dürfen, zeigt am deutlichsten, wie leichtfertig sich diese „linken“ Kommunisten zur Frage der Beeinflussung der „Massen“ verhalten und wie sie mit ihrem Geschrei von den „Massen“ Mißbrauch treiben. Will man der „Masse“ helfen und sich die Sympathien, die Zuneigung, die Unterstützung der „Masse“ erwerben, so darf man sich nicht fürchten vor Schwierigkeiten, darf man sich nicht fürchten vor den Schikanen, den Fußangeln, den Beleidigungen und Verfolgungen seitens der „Führer“ (die als Opportunisten und Sozialchauvinisten in den meisten Fällen direkt oder indirekt mit der Bourgeoisie und der Polizei in Verbindung stehen) und muß unbedingt dort arbeiten, wo die Massen sind. Man muß jedes Opfer bringen und die größten Hindernisse überwinden können, um systematisch, hartnäckig, beharrlich, geduldig gerade in allen denjenigen – und seien es auch die reaktionärsten Einrichtungen, Vereinen und Verbänden Propaganda und Agitation zu treiben, in denen es proletarische oder halbproletarische Massen gibt. Die Gewerkschaften und die Arbeitergenossenschaften (diese wenigstens mitunter) sind aber gerade Organisationen, die Massen erfassen. In England hat sich nach den Angaben der schwedischen Zeitung „Folkets Dafblad-Politiken“ (vom 10.3.1920) die Mitgliederzahl der Trade-Unions von Ende 1917 bis Ende 1918 von 5,5 auf 6,6 Millionen, d.h. um 19 Prozent erhöht. Ende 1919 schätzte man die Mitgliederzahl auf 7,5 Millionen. Ich habe die entsprechenden Zahlen über Frankreich und Deutschland nicht zur Hand, aber die Tatsachen, die von einem starken Anwachsen der Mitgliederzahl der Gewerkschaften auch in diesen Ländern zeugen, sind ganz unbestreitbar und allgemein bekannt.
Diese Tatsachen beweisen sonnenklar, was auch durch Tausende anderer Anzeichen bestätigt wird: Gerade in den proletarischen Massen, den „unteren Schichten“, unter den Rückständigen, nimmt das Klassenbewußtsein und das Streben nach Organisation zu. Millionen von Arbeitern in England, Frankreich, Deutschland gehen zum erstenmal von der vollständigen Unorganisiertheit zur elementaren, untersten, einfachsten (für diejenigen, die noch durch und durch von bürgerlich-demokratischen Vorurteilen erfüllt sind), zugänglichsten Organisationsform, nämlich zu den Gewerkschaften über, während die revolutionären, jedoch unvernünftigen linken Kommunisten danebenstehen, „Masse! Masse!“ schreien – und sich weigern, innerhalb der Gewerkschaften zu arbeiten!! Sie tun das unter dem Vorwand, die Gewerkschaften seien „reaktionär“!!, und klügeln eine nagelneue, blitzsaubere „Arbeiter-Union“ aus, die unbefleckt ist von bürgerlich-demokratischen Vorurteilen und frei von den Sünden zünftlerischer, eng beruflicher Beschränktheit, eine „Arbeiter-Union“, die angeblich eine Massenorganisation werden (werden!) soll und die als Aufnahmebedingung nur (nur!) die „Anerkennung des Rätesystems und der Diktatur“ (siehe die oben angeführte Stelle) fordert!!
Einen schlimmeren Unverstand, einen größeren Schaden für die Revolution, als ihn die „linken“ Revolutionäre anrichten, kann man sich gar nicht ausdenken! Wenn wir jetzt in Rußland, nach 2½ Jahren unvergleichlicher Siege über die Bourgeoisie Rußlands und der Entente, die „Anerkennung der Diktatur“ zur Bedingung für den Eintritt in die Gewerkschaften machen wollten, so würden wir eine Dummheit begehen, unserem Einfluß auf die Massen Abbruch tun und den Menschewiki Vorschub leisten. Denn die ganze Aufgabe der Kommunisten besteht darin, daß sie es verstehen, die Rückständigen zu überzeugen, unter ihnen zu arbeiten, und sich nicht durch ausgeklügelte, kindische „linke“ Losungen von ihnen absondern.
Kein Zweifel, die Herren Gompers, Henderson, Jouhaux und Legien sind solchen „linken“ Revolutionären sehr dankbar, die wie die deutsche „grundsätzliche“ Opposition (der Himmel bewahre uns vor solcher „Grundsätzlichkeit“!) oder wie manche Revolutionäre unter den amerikanischen „Industriearbeitern der Welt“ [17] den Austritt aus den reaktionären Gewerkschaften und die Ablehnung der Arbeit in ihnen predigen. Kein Zweifel, die Herren „Führer“ des Opportunismus werden zu allen möglichen Kniffen der bürgerlichen Diplomatie greifen, werden die Hilfe der bürgerlichen Regierungen, der Pfaffen, der Polizei, der Gerichte in Anspruch nehmen, um die Kommunisten nicht in die Gewerkschaften hineinzulassen, um sie auf jede Art und Weise aus den Gewerkschaften zu verdrängen, um ihnen die Arbeit in den Gewerkschaften möglichst zu verleiden, um sie zu beleidigen, gegen sie zu hetzen und sie zu verfolgen. Man muß all dem widerstehen können, muß zu jedwedem Opfer entschlossen sein und sogar – wenn es sein muß – alle möglichen Schliche, Listen und illegalen Methoden anwenden, die Wahrheit verschweigen und verheimlichen, nur um in die Gewerkschaften hineinzukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten. Unter dem Zarismus hatten wir bis 1905 keinerlei „legale Möglichkeit“, als aber Subatow von der Ochrana Arbeiterversammlungen und Arbeitervereine der Schwarzhunderter inszenierte, um Revolutionäre einzufangen und den Kampf gegen sie zu führen, da schickten wir in diese Versammlungen und Vereine Mitglieder unserer Partei (an einen von ihnen erinnere ich mich persönlich, nämlich an Genossen Babuschkin, einen hervorragenden Petersburger Arbeiter, der von den zaristischen Generalen 1906 erschossen worden ist), die mit der Masse Verbindung herstellten, es geschickt verstanden, Agitation zu treiben, und die Arbeiter dem Einfluß der Subatowleute entrissen. [18] Natürlich, in Westeuropa, das besonders stark durchdrungen ist von besonders stark eingewurzelten legalistischen, konstitutionellen, bürgerlich-demokratischen Vorurteilen, läßt sich so etwas schwerer durchführen. Aber man kann und muß es durchführen, und zwar systematisch durchführen.
Das Exekutivkomitee der III. Internationale muß meiner Ansicht nach sowohl allgemein die Politik der Nichtbeteiligung an den reaktionären Gewerkschaften (unter ausführlicher Begründung, warum eine solche Nichtbeteiligung unvernünftig und für die Sache der proletarischen Revolution außerordentlich schädlich ist) als auch besonders das Verhalten einiger Mitglieder der Kommunistischen Partei Hollands, die – einerlei, ob direkt oder indirekt, offen oder versteckt, ganz oder teilweise – diese falsche Politik unterstützt haben, direkt verurteilen und dem nächsten Kongreß der Kommunistischen Internationale vorschlagen, dasselbe zu tun. Die III. Internationale muß mit der Taktik der II. Internationale brechen, sie darf die heiklen Fragen nicht umgehen, nicht vertuschen, sondern muß sie mit aller Schärfe stellen. Wir haben den „Unabhängigen“ (der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands) die ganze Wahrheit ins Gesicht gesagt, wir müssen auch den „linken“ Kommunisten die ganze Wahrheit ins Gesicht sagen.
14. Nach der Februarrevolution von 1917 veränderte sich die Mitgliederzahl bis 1919 folgendermaßen: Zur Zeit der VII. Gesamtrussischen Konferenz (Aprilkonferenz) der SDAPR(B) im Jahre 1917 zählte die Partei 80.000, zur Zeit des Vl. Parteitags der SDAPR(B) im Juli-August 1917 rund 240.000, zur Zeit des VII. Parteitags der KPR(B) im März 1918 mindestens 300.000 und zur Zeit des VIII. Parteitags der KPR(B) im März 1919 313.766 Mitglieder.
15. Siehe W.I. Lenin, Werke, Bd.30, S.242-265.
16. Siehe Karl Marx /Friedrich Engels, Werke, Bd.29, Berlin 1967, S.358.
17. „Industriearbeiter der Welt“ (Industrial Workers of the World – IWW) – Gewerkschaftsorganisation der amerikanischen Arbeiter, die 1905 gegründet wurde. Während der Massenstreikbewegung, die sich unter dem Einfluß der russischen Revolution 1905-1907 in den USA entfaltete, führten die „Industriearbeiter der Welt“ eine Reihe erfolgreicher Streiks durch und bekämpften die Politik der reformistischen Führer der „Amerikanischen Föderation der Arbeit“ sowie der rechten Sozialisten. Einige Führer der IWW begrüßten die Sozialistische Oktoberrevolution und traten der Kommunistischen Partei Amerikas bei. Gleichzeitig zeigten sich in der Tätigkeit der Organisation anarchosyndikalistische Züge. Die anarchosyndikalistischen Führer der IWW lehnten 1920 entgegen dem Willen ihrer Mitglieder den Aufruf des EKKI, der Kommunistischen Internationale beizutreten, ab. Dabei machten sie sich die Tatsache zunutze, daß viele revolutionäre Führer der IWW eingekerkert waren.
18. Die Gompers, Henderson, Jouhaux und Legien sind nichts anderes als solche Subatow, die sich von unserem Subatow nur durch das europäische Kostüm, den europäischen Schliff, durch die zivilisierten, verfeinerten, demokratisch verbrämten Methoden unterscheiden, mit denen sie ihre niederträchtige Politik betreiben.
Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008