MIA > Deutsch > Martisten > Lenin > Was tun?
Wir sind auf den wenig bekannten und jetzt fast vergessenen Leitartikel der ersten Nummer der Rabotschaja Mysl so ausführlich eingegangen, weil er früher und prägnanter als alle anderen die allgemeine Strömung zum Ausdruck gebracht hat, die später in zahllosen schmalen Bächlein ans Tageslicht trat. W. I-n, der die erste Nummer und den Leitartikel der Rabotschaja Mysl so sehr lobte, hatte durchaus recht, als er sagte, der Artikel sei „scharf, mit Kampfgeist“ geschrieben (Listok Rabotnika Nr.9/10, S.49). Jeder von seiner Meinung überzeugte Mensch, der glaubt, daß er etwas Neues bringt, schreibt „mit Kampfgeist“ und schreibt so, daß er seine Ansichten prägnant zum Ausdruck bringt. Nut Leute, die gewohnt sind, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, haben keinen „Kampfgeist“, nur solche Leute sind fähig, nachdem sie gestern den Kampfgeist der Rabotschaja Mysl gelobt haben, heute über deren Gegner wegen ihres „polemischen Kampfgeistes“ herzufallen.
Ohne auf die Sonderbeilage zur Rabotschaja Mysl näher einzugehen (wir werden uns weiter unten aus verschiedenen Anlässen auf diese Schrift beziehen müssen, die die Ideen der „Ökonomisten“ am konsequentesten zum Ausdruck bringt), wollen wir nur kurz auf den Aufruf der Gruppe der Selbstbefreiung der Arbeiter hinweisen (März 1899, abgedruckt im Londoner Nakanune Nr.7, Juli 1899). Die Verfasser dieses Aufrufs sagen mit Fug und Recht, daß „das Rußland der Arbeiter eben erst erwacht, eben erst beginnt, sich umzuschauen, und instinktiv nach den ersten besten Kampfmitteln greift„, aber sie ziehen daraus dieselbe falsche Schlußfolgerung wie die Rabotschaja Mysl, denn sie vergessen, daß das Instinktive eben das Unbewußte (das Spontane) ist, dem die Sozialisten zu Hilfe kommen müssen, daß die „ersten besten“ Kampfmittel in der modernen Gesellschaft stets die trade-unionistischen Kampfmittel sind, die „erste beste“ Ideologie aber die bürgerliche (trade-unionistische) Ideologie ist. Ebenso wird von diesen Verfassern auch die Politik nicht „abgelehnt“, sie meinen nur (nur!), dem Herrn W.W. folgend, daß die Politik ein Überbau sei und daß darum „die politische Agitation ein Überbau über der Agitation für den ökonomischen Kampf sein muß, daß sie auf dem Boden dieses Kampfes erwachsen und ihm folgen muß“.
Was das Rabotscheje Delo betrifft, so hat es seine Tätigkeit direkt mit dein „Verteidigung“ der „Ökonomisten“ begonnen. Nachdem es schon in seiner ersten Nummer (Nr.1, S.141/142) die direkte Unwahrheit sagte, daß es „nicht weiß, von welchen jungen Genossen Axelrod sprach“, als er in seiner bekannten Broschüre [O] die „Ökonomisten“ warnte, mußte das Rabotscheje Delo in der wegen dieser Unwahrheit entbrannten Polemik mit Axelrod und Plechanow zugeben, daß es „in der Form des Nichtverstehens alle jüngeren Sozialdemokraten im Ausland gegen diese ungerechte Beschuldigung“ (die von Axelrod gegen die „Ökonomisten“ erhobene Beschuldigung der Beschränktheit) „in Schutz nehmen wollte“. In Wirklichkeit war dieser Vorwurf völlig berechtigt, und das Rabotscheje Delo wußte ausgezeichnet, daß er sich unter anderem auch gegen sein Redaktionsmitglied W. I-n richtete. Nebenbei sei bemerkt, daß Axelrod in dieser Polemik, was die Auslegung meiner Broschüre Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten [31] betrifft, völlig recht und das Rabotscheje Delo völlig unrecht hatte. Diese Broschüre ist im Jahre 1897, noch vor dem Erscheinen der Rabotschaja Mysl, geschrieben worden, als ich der Ansicht war und das Recht hatte, der Ansicht zu sein, daß die von mir oben charakterisierte ursprüngliche Richtung des Petersburger „Kampfbundes“ die vorherrschende sei. Und mindestens bis Mitte 1898 war diese Richtung tatsächlich vorherrschend. Datum hatte das Rabotscheje Delo, als es die Existenz und die Gefährlichkeit des „Ökonomismus“ leugnete, nicht das geringste Recht, sich auf eine Broschüre zu berufen, in der Ansichten vertreten wurden, die in den Jahren 1897/1898 in St. Petersburg durch die Ansichten des „Ökonomismus“ verdrängt worden sind. [P]
Aber das Rabotscheje Delo hat die „Ökonomisten“ nicht nur „verteidigt“, sondern ist auch selber ständig in ihre grundlegenden Irrtümer verfallen. Die Ursache hierfür ist in der Doppeldeutigkeit der folgenden These des Programms des Rabotscheje Delo zu suchen: „Die wichtigste Erscheinung des russischen Lebens, die in erster Linie bestimmend sein wird für die Aufgaben„ (hervorgehoben von uns) „und den Charakter der literarischen Tätigkeit des Auslandsbundes, ist unseres Erachtens die in den letzten Jahren entstandene Massenbewegung der Arbeiter„ (hervorgehoben vom Rabotscheje Delo). Daß die Massenbewegung eine höchst wichtige Erscheinung ist, darüber kann nicht gestritten werden. Aber die ganze Frage ist hier, wie die „Bestimmung der Aufgaben“ durch diese Massenbewegung aufzufassen ist. sie kann in zweifacher Weise aufgefaßt werden: entweder im Sinne der Anbetung der Spontaneität dieser Bewegung, d.h. der Reduzierung der Rolle der Sozialdemokratie auf die einer einfachen Dienerin der Arbeiterbewegung als solcher (Auffassung der Rabotschaja Mysl, der „Gruppe der Selbstbefreiung“ und der übrigen „Ökonomisten“); oder aber in dem Sinne, daß die Massenbewegung uns vor neue theoretische, politische, organisatorische Aufgaben stellt, die viel komplizierter sind als diejenigen, mit denen man sich in der Periode vor der Entstehung der Massenbewegung begnügen konnte. Das Rabotscheje Delo neigte und neigt gerade zu der ersten Auffassung, denn etwas Bestimmtes über neue Aufgaben hat es niemals gesagt, sondern immer nur so gesprochen, als würde uns diese „Massenbewegung“ der Notwendigkeit entheben, die von ihr gestellten Aufgaben klar zu erkennen und zu lösen. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß das Rabotscheje Delo es für unmöglich hielt, der Massenbewegung der Arbeiter als erste Aufgabe den Sturz der Selbstherrschaft zu stellen, und daß es diese Aufgabe (im Namen der Massenbewegung) auf die Aufgabe, für die nächsten politischen Forderungen zu kämpfen, herabdrückte. (Antwort, S.25.)
Wir überschlagen den Artikel des Redakteurs des Rabotscheje Delo, B. Kritschewski, in Nr.7 – „Der wirtschaftliche und der politische Kampf in der russischen Bewegung“ –, einen Artikel, in dem dieselben Fehler [Q] wiederholt sind, und gehen direkt zu Nr.10 des Rabotscheje Delo über. Wir wollen natürlich nicht auf die Analyse der einzelnen Einwände B. Kritschewskis und Martynows gegen die Sarja und die Iskra eingehen. Uns interessiert hier nur die prinzipielle Position, die das Rabotscheje Delo in Nr.10 eingenommen hat. Wir wollen zum Beispiel nicht das Kuriosum untersuchen, daß das Rabotscheje Delo einen „diametralen Gegensatz“ gefunden hat zwischen dem Satz:
Die Sozialdemokratie bindet sich nicht die Hände, sie engt ihre Tätigkeit nicht durch irgendeinen vorher ersonnenen Plan oder Modus des politischen Kampfes ein – sie erkennt alle Mittel des Kampfes an, wenn sie nur den vorhandenen Kräften der Partei entsprechen [usw.] (Nr.1 des Iskra). [32]
und dem Satz:
Ist keine feste Organisation vorhanden, die den politischen Kampf in den verschiedensten Situationen und Perioden gründlich aus der Erfahrung kennt, dann kann auch keine Rede sein von jenem systematischen, durch feste Prinzipien erhellten und unbeirrt durchzuführenden Tätigkeitsplan, der allein die Bezeichnung Taktik verdient (Nr.4 der Iskra). [33]
Die prinzipielle Anerkennung aller Kampfmittel, aller Pläne und Methoden, sofern sie nur zweckmäßig sind, verwechseln mit der Forderung, sich in einem gegebenen politischen Moment von einem unbeirrt durchzuführenden Plan leiten zu lassen, wäre – wenn von Taktik die Rede sein soll genau dasselbe, als würde man die Anerkennung verschiedener Heilsysteme durch die Medizin mit der Forderung verwechseln, sich bei der Behandlung einer bestimmten Krankheit an ein bestimmtes System zu halten. Aber das ist es eben, daß das Rabotscheje Delo, das selber an der Krankheit leidet, die wir als Anbetung der Spontaneität bezeichnet haben, keinerlei „Heilsysteme“ für diese Krankheit anerkennen will. Es hat darum die großartige Entdeckung gemacht, daß die „Taktik als Plan dem Wesen des Marxismus widerspricht“ (Nr.10, S.18), daß die Taktik „ein Prozeß des Wachsens der Parteiaufgaben ist, die zusammen mit der Partei wachsen„ (S.11, hervorgehoben vom Rabotscheje Delo). Dieser letzte Ausspruch hat alle Chancen, ein berühmten Ausspruch, ein unvergängliches Denkmal der „Richtung“ des Rabotscheje Delo zu werden. Auf die Frage „Wohin gehen?“ gibt das führende Organ die Antwort: Bewegung ist ein Prozeß der Veränderung des Abstands zwischen dem Ausgangspunkt und den folgenden Punkten der Bewegung. Dieser unvergleichliche Tiefsinn ist aber nicht nur ein Kuriosum (dann würde es sich nicht lohnen, besonders darauf einzugehen), sondern auch das Programm einer ganzen Richtung, nämlich: dasselbe Programm, das R.M. (In der Sonderbeilage zur Rabotschaja Mysl) mit den Worten zum Ausdruck brachte: Wünschenswert ist der Kampf, der möglich ist, und möglich ist der, der im gegebenen Augenblick vor sich geht. Das ist gerade die Richtung des grenzenlosen Opportunismus, der sich der Spontaneität passiv anpaßt.
„Die Taktik als Plan widerspricht dem Wesen des Marxismus!“ Das ist doch eine Verleumdung des Marxismus, seine Verwandlung in dieselbe Karikatur, die die Volkstümler in ihrem Kampf gegen uns ins Feld führten. Das ist genaue ein Herabdrücken der Initiative und der Tatkraft der bewußten Funktionäre, wahrend der Marxismus im Gegenteil der Initiative und der Tatkraft des Sozialdemokraten einen gewaltigen Anstoß gibt, ihm die weitesten Perspektiven eröffnet, ihm die machtvollen Kräfte vor Millionen und aber Millionen der sich „spontan“ zum Kampf erhebenden Arbeiterklasse zur Verfügung stellt (wenn man sich so ausdrücken darf)! Die ganze Geschichte der internationalen Sozialdemokratie strotzt von Plänen, die bald von dem einen, bald von dem anderen politischen Führer entworfen wurden, wobei der Weitblick und die Richtigkeit der politischen und organisatorischen Ansichten des einen sich bestätigten und die Kurzsichtigkeit und die politischen Fehler des anderen zutage traten. Als sich in Deutschland ein so gewaltiger historischer Umschwung vollzog wie die Reichsgründung, die Eröffnung des Reichstags, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, da hatte Liebknecht den einen Plan für die gesamte sozialdemokratische Politik und Arbeit, Schweitzer einen anderen. Als über die deutschen Sozialisten das Ausnahmegesetz verhängt wurde, da hatten Most und Hasselmann, die einfach zu Gewalt und Terror aufrufen wollten, den einen Plan, einen anderen hatten Hochberg, Schramm und (zum Teil) Bernstein, die den Sozialdemokraten zu predigen begannen, daß sie durch ihre unvernünftige Schärfe und ihre Haltung das Gesetz herausgefordert hätten und sich darum jetzt die Verzeihung der Regierung durch musterhaftes Betragen verdienen müßten; einen dritten Plan hatten diejenigen, die die Herausgabe eines illegalen Organs [34] vorbereiteten und verwirklichten. Blickt man viele Jahre später zurück, nachdem der Kampf um die Wahl des Weges beendet und die Geschichte ihr endgültiges Urteil über die Tauglichkeit des gewählten Weges gefällt hat, dann ist es allerdings nicht schwer, tiefsinnige Aussprüche zu tun über das Wachsen der Parteiaufgaben, die zusammen mit der Partei wachsen. Aber in einer Zeit der Verwirrung [R], da die russischen „Kritiker“ und „Ökonomisten“ die Sozialdemokratie zum Trade-Unionismus degradieren, die Terroristen aber mit großem Eifer eine „Taktik als Plan“ verfechten, die die alten Fehler wiederholt, sich in solcher Zeit auf einen solchen Tiefsinn beschränken heißt sich ein „Armutszeugnis“ ausstellen. In einer Zeit, da viele russische Sozialdemokraten eben gerade an mangelnden Initiative und Tatkraft, an mangelndem „Ausmaß der politischen Propaganda, Agitation und Organisation“ [S] leiden, daran leiden, daß es an „Plänen“ für eine möglichst umfassende revolutionäre Arbeit mangelt, in einer solchen Zeit sagen: „die Taktik als Plan widerspricht dem Wesen des Marxismus“, heißt nicht nur theoretisch den Marxismus verflachen, sondern auch praktisch die Partei nach rückwärts zerren.
Der revolutionäre Sozialdemokrat hat die Aufgabe – belehrt uns weiter das Rabotscheje Delo –, durch seine bewußte Arbeit die objektive Entwicklung nur zu beschleunigen, nicht aber sie durch subjektive Pläne aufzuheben oder zu ersetzen. In der Theorie weiß die Iskra das alles. Aber die enorme Bedeutung, die der Marxismus der bewußten revolutionären Arbeit mit Recht beimißt, verführt sie, infolge ihrer doktrinären Auffassung von der Taktik, in der Praxis dazu, die Bedeutung des objektiven oder spontanen Elements der Entwicklung zu unterschätzen. (S.18.)
Wiederum eine ungeheure theoretische Verwirrung, die des Herrn W.W. und seiner Sippschaft würdig ist. Wir möchten unseren Philosophen fragen: Worin kann die „Unterschätzung“ der objektiven Entwicklung durch den Verfasser subjektiver Pläne zum Ausdruck kommen? Offenbar dann, daß er außer acht laßt, daß diese objektive Entwicklung bestimmte Klassen, Schichten, Gruppen, bestimmte Nationen, Gruppen von Nationen usw. schafft oder festigt, zugrunde richtet oder schwächt, wodurch die und die internationale politische Kräftegruppierung, die und die Stellungnahme der revolutionären Parteien usw. bedingt wird. Aber die Schuld eines solchen Verfassers besteht dann nicht in der Unterschätzung des spontanen Elements, sondern umgekehrt in der Unterschätzung des bewußten Elements, denn seine „Bewußtheit“ reicht für das richtige Verstehen der objektiven Entwicklung nicht aus. Datum zeigt schon allein das Gerede von der „Einschätzung der relativen (hervorgehoben vom Rabotscheje Delo) Bedeutung“ der Spontaneität und der Bewußtheit einen absoluten Mangel an „Bewußtheit“. Wenn gewisse „spontane Elemente der Entwicklung“ dem Bewußtsein des Menschen überhaupt zugänglich sind, so wird ihre Fiasko Einschätzung gleichbedeutend mit einer „Unterschätzung des bewußten Elements“ sein. Wenn sie aber dem Bewußtsein nicht zugänglich sind, so kennen wir sie nicht und können von ihnen nicht sprechen. Wovon redet also B. Kritschewski? Wenn er die „subjektiven Pläne“ der Iskra für irrig halt (und er erklärt sie ausdrücklich für irrig), so müßte er nachweisen, welche objektiven Tatsachen es sind, die von diesen Plänen ignoriert werden, und müßte der Iskra wegen dieser Ignorierung Mangel an Bewußtheit, „Unterschätzung des bewußten Elements“ (um mit seinen eigenen Worten zu sprechen) vorwerfen. Wenn er jedoch, mit den subjektiven Plänen unzufrieden, keine anderen Argumente hat als den Hinweis auf die „Unterschätzung des spontanen Elements“ (!!), so beweist er damit nur, daß er erstens den Marxismus theoretisch à la Kanejew und Michailowski versteht, die von Beltow [36] genügend verspottet worden sind, und sich zweitens praktisch mit den „spontanen Elementen der Entwicklung“ vollkommen zufriedengibt, durch die unsere legale Marxisten in das Bernsteinianertum und unsere Sozialdemokraten in den „Ökonomismus“ geführt wurden, und daß er auf die Leute „sehr böse“ ist, die sich entschlossen haben, die russische Sozialdemokratie um jeden Preis vom Weg der „spontanen“ Entwicklung abzubringen.
Weiter kommen dann schon ganz und gar spaßige Dinge. „Ebenso wie die Menschen, trotz aller Fortschritte der Naturwissenschaften, sich in derselben Weise vermehren werden, wie es die Großväter taten, wird die Entstehung einer neuen Gesellschaftsordnung, trotz aller Fortschritte der Gesellschaftswissenschaften und trotz Zunahme der bewußten Kämpfer, auch fernerhin das Resultat vorwiegend spontaner Ausbrüche sein.“ (19.) Ebenso wie die großväterliche Weisheit lautet: Wem mangelt es schon an Verstand, um Kinder zu haben? – lautet die Weisheit der „neuesten Sozialisten“ (à la Narziß Tuporylow [37]): Um an der spontanen Entstehung der neuen Gesellschaftsordnung teilzunehmen, wird Es niemand an Verstand mangeln. Auch wir meinen, daß es niemand dann mangeln wird. für eine solche Teilnahme genügt es, sich dem „Ökonomismus“ anzupassen, wenn der „Ökonomismus“ herrscht, und dem Terrorismus, wenn der Terrorismus aufgetaucht ist. So nahm das Rabotscheje Delo im Frühjahr dieses Jahres, als es so wichtig war, vor der Begeisterung für den Terror zu warnen, zu der für das Rabotscheje Delo „neuen“ Frage eine unschlüssige Haltung ein. Jetzt aber, ein halbes Jahr später, wo die Frage nicht mehr aktuell ist, tischt uns die Zeitung gleichzeitig sowohl die Erklärung auf: „Wir sind der Ansicht, daß es nicht Aufgabe der Sozialdemokratie sein kann und sein darf, dem Aufschwung der terroristischen Stimmungen entgegenzuwirken“ (Rabotscheje Delo Nr.10, S.23), als auch die Konferenzresolution: „Einen systematischen offensiven Terror hält die Konferenz für unzeitgemäß“ (Zwei Konferenzen, S.18). Wie wunderbar klar und logisch ist das! Wir wollen dem Terror nicht entgegenwirken, aber wir Enklaven ihn für unzeitgemäß, und zwar so, daß sich die „Resolution“ auf den unsystematischen und defensiven Terror nicht erstreckt. Es muß zugegeben werden, daß eine solche Resolution sehr gefahrlos und gegen falsche Auslegung völlig gesichert ist – wie ein Mensch vor Fehlern sicher ist, der gesprochen hat, um nichts zu sagen! Und um eine solche Resolution zu verfassen, ist nur eins notwendig: im Nachbtrab der Bewegung einherzutrotten. Als die Iskra sich darüber lustig machte, daß das Rabotscheje Delo den Terror für eine neue Frage erklärte [38], da erhob das Rabotscheje Delo erzürnt die Beschuldigung, daß sich die Iskra in „geradezu unglaublicher Weise anmaßt, der Parteiorganisation die Lösung der taktischen Fragen aufzuzwingen, die vor mehr als fünfzehn Jahren von einer Gruppe in der Emigration lebender Schriftsteller gegeben wurde“ (S.24). In der Tat, welche Anmaßung und welche Überschätzung des bewußten Elements: Fragen vorher theoretisch lösen, um dann von der Richtigkeit dieser Losung sowohl die Organisation als auch die Partei und die Masse überzeugen zu wollen! [T] Da ist es doch viel einfacher, Binsenwahrheiten zu wiederholen und, ohne jemand etwas „aufzuzwingen“, sich jeder „Wendung“, sowohl zum „Ökonomismus“ als auch zum Terrorismus, unterzuordnen. Das Rabotscheje Delo verallgemeinert sogar diese goldene Regel der Lebensweisheit und wirft der Iskra und der Sarja vor, daß sie „der Bewegung ihr Programm entgegenstellen, das als Geist über dem formlosen Chaos schwebt“ (S.29). Worin besteht denn die Rolle der Sozialdemokratie, wenn nicht darin, der „Geist“ zu sein, der nicht nur über der spontanen Bewegung. schwebt, sondern diese Bewegung auch auf die Höhe „seines Programms“ emporhebt? Doch nicht dann, im Nachbtrab der Bewegung einherzutrotten: Im besten Falle wäre das für die Bewegung nutzlos, im schlimmsten Falle – sehr, sehr schädlich. Das Rabotscheje Delo aber befolgt nicht nur diese „Taktik als Prozeß“, sondern erhebt sie zum Prinzip, so daß es richtiger wäre, seine Richtung nicht als Opportunismus, sondern (abgeleitet vom Worte Chwost < Schwanz, Nachtrab. Die Red.>) als Chwostismus zu bezeichnen. Und Es muß zugegeben werden, daß Leute, die fest beschlossen haben, stets hinter der Bewegung als ihr Nachtrab einherzutrotten, vor einer „Unterschätzung des spontanen Elements der Entwicklung“ für alle Zeiten und absolut gesichert sind.
*
Wir haben uns also davon überzeugt, daß der grundlegende Fehler der „neuen Richtung“ in der russischen Sozialdemokratie in der Anbetung der Spontaneität besteht, im Nichtbegreifen der Tatsache, daß die Spontaneität der Masse vor uns Sozialdemokraten eine Masse vor Bewußtheit erfordert. Je starker der spontane Aufschwung der Massen ist, je breiter die Bewegung wird, desto schneller, unvergleichlich schneller wächst. das Bedürfnis nach einer Masse vor Bewußtheit sowohl in der theoretischen als auch in der politischen und organisatorischen Arbeit der Sozialdemokratie.
Der spontane Aufschwung der Massen in Rußland ist mit einer solchen Schnelligkeit vor sich gegangen (und geht auch jetzt noch so vor sich), daß die sozialdemokratische Jugend für die Erfüllung dieser gewaltigen Aufgaben nicht genügend geschult war. Diese mangelnde Schulung ist unser allgemeines Unglück, das Unglück aller russischen Sozialdemokraten. Der Aufschwung der Massen ist unaufhörlich und kontinuierlich vorwärts und in die Breite gegangen, wobei er dort, wo er begonnen hat, nicht nur nicht aufhört, sondern immer neue Gegenden und neue Bevölkerungsschichten erfaßt (unter dem Einfluß der Arbeiterbewegung ist die Gärung in der studierenden Jugend, in der Intelligenz überhaupt und sogar in der Bauernschaft stärker geworden). Die Revolutionäre aber sind hinter diesem Aufschwung sowohl in ihren „Theorien“ als auch in ihrem Wirken zurückgeblieben, und es ist ihnen nicht gelungen, eine stetige und kontinuierliche Organisation zu schaffen, die fähig wäre, die ganze Bewegung zu leiten.
Im ersten Kapitel haben wir festgestellt, daß das Rabotscheje Delo unsere theoretischen Aufgaben herabdrückt und „spontan“ das Modeschlagwort „Freiheit der Kritik“ wiederholt: diesen Leuten fehlte es an „Bewußtheit“, um zu begreifen, daß die Positionen der opportunistischen „Kritiker“ und die der Revolutionäre in Deutschland und in Rußland diametral entgegengesetzt sind.
In den weiteren Kapiteln werden wir untersuchen, wie diese Anbetung der Spontaneität auf dem Gebiet der politischen Aufgaben und in der organisatorischen Arbeit der Sozialdemokratie zum Ausdruck gekommen ist.
O. Über die gegenwärtigen Aufgaben und die Taktik dar russischen Sozialdemokraten, Genf 1898. Zwei Briefe an die Rabotschaja Gaseta, geschrieben im Jahre 1897.
P. Bei seiner Verteidigung fügte das Rabotscheje Delo seiner ersten Unwahrheit („wir wissen nicht, von welchen jungen Genossen P.B. Axelrod sprach“) eine zweite hinzu, als es in der Antwort schrieb: „Seit jener Zeit, in der die Rezension der Aufgaben geschrieben wurde, sind bei manchen russischen Sozialdemokraten Tendenzen zu einer ökonomischen Einseitigkeit entstanden oder mehr oder weniger klar hervorgetreten, die im Vergleich zu dem Zustand unserer Bewegung, wie er in den Aufgaben (S.9) geschildert ist, einen Schritt rückwärts bedeuten.“ So heißt es in der Antwort, die im Jahre 1900 erschien. Die erste Nummer des Rabotscheje Delo (mit der Rezension) aber erschien im April 1899. Ist denn der „Ökonomismus“ erst im Jahre 1899 entstanden? Nein, im Jahre 1899 ertönte zum erstenmal der Protest der russischen Sozialdemokraten gegen den „Ökonomismus“ (der Protest gegen das Credo). Der „Ökonomismus“ aber entstand, wie das Rabotscheje Delo sehr gut weiß, im Jahre 1897, denn W. I-n hatte bereits im November 1898 (Listok Rabotnika Nr.9/10) ein Loblied auf die Rabotschaja Mysl gesungen.
Q. Die „Theorie der Stadien“ oder die Theorie „des schüchternen Zickzacks“ im politischen Kampf kommt zum Beispiel in diesem Artikel folgendermaßen zum Ausdruck: Die politischen Forderungen, die ihrem Charakter nach für ganz Rußland gelten, müssen jedoch in der ersten Zeit“ (das ist im August 1900 geschrieben!) „der Erfahrung entsprechen, die die betreffende Arbeiterschicht (sic!) aus dem ökonomischen Kampf gewonnen hat. Nur (!) ausgehend von dieser Erfahrung kann und muß man an die politische Agitation gehen“ usw. (S.11). Auf S.4 ruft der Verfasser, der sich gegen die seiner Meinung nach völlig unbegründeten Vorwürfe wegen ökonomistischer Ketzerei wendet, pathetisch aus: „Welcher Sozialdemokrat weiß denn nicht, daß nach der Lehre von Marx und Engels die wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Klassen die entscheidende Rolle in der Geschichte spielen und daß folglich auch der Kampf des Proletariats für seine wirtschaftlichen Interessen von ausschlaggebender Bedeutung für die Klassenentwicklung und den Befreiungskampf des Proletariats sein muß?“ (Hervorgehoben von uns.) Dieses „folglich“ ist absolut nicht am Platze, Aus dem Umstand, daß die wirtschaftlichen Interessen eine entscheidende Rolle spielen, ist keineswegs zu folgern, daß der wirtschaftliche (= gewerkschaftliche) Kampf von ausschlaggebender Bedeutung sei, denn die wesentlichsten, „entscheidenden“ Interessen der Klassen können nur durch radikale politische Umgestaltungen befriedigt werden; insbesondere kann das grundlegende wirtschaftliche Interesse des Proletariats nur durch eine politische Revolution befriedigt werden, die die Diktatur der Bourgeoisie durch die Diktatur des Proletariats ersetzt. B. Kritschewski wiederholt die Argumentation der „W.W.s der russischen Sozialdemokratie“ (die Politik folge der Wirtschaft usw.) und der Bernsteinianer der deutschen Sozialdemokratie (Woltmann z.B. hat gerade mit solchen Argumenten nachzuweisen versucht, die Arbeiten müßten, ehe sie an die politische Revolution denken können, erst einmal „ökonomische Macht“ erringen).
R. Ein Jahr der Verwirrung – so nannte Mehring das Kapitel seiner Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, in dem er die Schwankungen und die Unentschlossenheit schildert, die die Sozialisten anfänglich bei der Wahl einer neuen, den neuen Verhältnissen angepaßten „Taktik als Plan“ an den Tag legten.
S. Aus dem Leitartikel der Iskra Nr.1. [35]
T. Man darf auch nicht vergessen, daß die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ die Erfahrungen der vorhergegangenen revolutionären Bewegung verallgemeinerte, als sie die Frage des Terrors „theoretisch“ löste.
Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008