Alexandra Kollontai


März 1917

(1950)


Wird zum ersten Mal veröffentlicht; gekürzte Fassung des im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrten Manuskripts aus dem Zyklus der Erinnerungen Alexandra Kollontais an das Jahr 1917. Die Manuskripte im Archiv tragen die Überschriften Wie wir 1917 gearbeitet haben und Als Delegierte zur Beratung der Zimmerwalder Linken. Der Titel der Veröffentlichung wurde von den Herausgebern gewählt. Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 319–322.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der März des Jahres 17 – ein bewegter und sonniger Monat. Die Revolution ist in vollem Gange. Die Elemente scheinen entfesselt zu sein. Doch sie werden geschickt, unmerklich und mit starker Hand von der großen revolutionär-schöpferischen Kraft, unserer bolschewistischen Partei, gelenkt.

Der 20. März ist ein sonniger Frühlingstag. Die Stimmung ist kämpferisch, frühlingshaft, von kühnen Hoffnungen und Willenskraft erfüllt.

Vormittags ist eine Sitzung des Büros des Zentralkomitees [1], und zwar in der bescheidenen, sachlich wirkenden Redaktion der Prawda. Zur Debatte steht ein Brief Lenins. Im Gedächtnis geblieben ist mir die Einmütigkeit. „Keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung“, keinerlei „Abmachungen“ mit den kleinbürgerlichen Parteien. Das ist ein Gegengewicht zu der in jenen Tagen verbreiteten Formel der Menschewiki „insofern als“, was Unterstützung der Provisorischen Regierung, wenn auch mit Einschränkungen, bedeutet.

Nach der Bürositzung fahre ich in die Stadtduma. Dort findet eine Kundgebung der Frauenrechtlerinnen statt. Sie reden allen möglichen Unsinn – „Vaterlandsverteidigerinnen“ reinsten Wassers sind das! Soll ich mich mit ihnen schlagen? Nein, das lohnt sich nicht.

Anschließend ins Taurische Palais, zum Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Da sind Meetings von Truppenteilen im Gange. Ein Sammelsurium von Rednern – Generäle mit roten Schleifen, Sozialrevolutionäre, Kadetten und Menschewiki. Im Saal Truppenteile von der Front, Soldaten aus den Schützengräben. Diese werden mich verstehen, die müssen einfach auf unserer Seite, mit den Bolschewiki, sein. Ich kämpfe mich zur Tribüne durch. „Sie sind wahnsinnig. Sie werden in Stücke gerissen werden für Ihre bolschewistischen Losungen!“ Das flüstern mir „Gönner“ aus den „Zwischen“parteien zu und versuchen, mich zurückzuhalten.

Ich bin jedoch nicht in Stücke gerissen worden. Im Gegenteil, die Soldaten aus den Schützengräben haben mich sogar sehr gut verstanden. „Nieder mit dem imperialistischen Krieg!“, „Den Grund und Boden dem Volk! Es leben die Sowjets der Arbeiter und Soldaten!“

Vor dem Taurischen Palais drängen sich Soldatenfrauen ... „Gebt uns unsere Männer aus den Schützengräben zurück!“, „Brot für die Kinder!“ Diese Soldatenfrauen werden schon sehr bald mit uns sein. Man hat mich hochgehoben und auf jemandes Schultern gesetzt. Von oben ist mehr zu hören, lässt es sich besser zu den vielen tausend Menschen sprechen.

Die Meetings und Straßenkundgebungen beim Taurischen Palais dauern bis in die späte Nacht hinein ...

Es gibt noch viele, die der Losung von der „Vaterlandsverteidigung“ erlegen sind. Noch greift nicht jede Zuhörerschaft unsere bolschewistischen Losungen auf. Noch so manches Mal redet man sich heiser in heftigen Wortgefechten mit den „Vaterlandsverteidigern“, mit den paktiererischen Menschewiki. Von ihnen ist im Übrigen gar nichts anderes zu erwarten. Ärgerlicher und unverständlicher ist ein Gespräch mit Kamenew in den Sälen des Taurischen Palais. Kamenew kritisiert Lenins Linie. Er ist der Auffassung, man könne die Provisorische Regierung zum Verzicht auf Annexionen zwingen und allen Völkern einen „gerechten“ Frieden vorschlagen (und das bei der Provisorischen Regierung!) ...

Im März 1917 nimmt die Zerrüttung der Wirtschaft des Landes bedrohliche Ausmaße an. Die Betriebe stehen still. Es gibt keine Kohle. Die Kohleindustrie ist desorganisiert. Die ausländischen Konzessionäre mit ihren Aktiengesellschaften streichen sagenhafte Gewinne ein und bringen die Devisen außer Landes. Doch die Betriebe werden nicht instand gesetzt. Es kommt zur versteckten Aussperrung von Arbeitern. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu.

Die „Vaterlandsverteidiger“ geben selbst zu, dass eine wirtschaftliche Katastrophe vor der Tür steht, doch weiter als bis zu bürokratischen Maßnahmen geht die Provisorische Regierung nicht und kann es auch gar nicht. Sie fürchtet die weitere Entwicklung der Revolution.

„Der Krieg muss beendet werden, nur so kann das Land vor Hunger und Zerrüttung gerettet werden“, sagen die Bolschewiki.

Doch Miljukow träumt von einem „Krieg bis zum Sieg der Entente“.

Aber was kann es schon für einen „Sieg“ geben, wenn die Deutschen unaufhaltsam vorrücken! Die Fahnenflucht von der Front nimmt erschreckende Ausmaße an. Wie könnte es anders sein, ist dies doch nicht das wirkliche Vaterland, das Vaterland des Volkes, für das das Blut vergossen wird. Ist es doch nicht die Macht der Arbeiter und Bauern im Soldatenrock. Nein, das ist schließlich immer noch die gleiche Macht der Gutsbesitzer und Kapitalisten, die von den kleinbürgerlichen Parteien der Menschewiki und Sozialrevolutionäre unterstützt werden, von Parteien, die die Arbeiter und Bauern verraten haben.

Ende März die Beratung der Sowjets. [2] Die Fraktion der Bolschewiki im Sowjet erörtert gemeinsam mit dem Petersburger Komitee und dem Büro des Zentralkomitees, wer als Referent der Bolschewiki aufgestellt werden soll (und eine Reihe anderer Fragen). [3]

Ich trete dafür ein, die Sowjets der Provisorischen Regierung gegenüberzustellen, bin für schonungslose Entlarvung der Sozialpaktierer, für „Verbrüderung“, das heißt, ich verfechte die Linie Lenins.

Und wieder steuert Kamenew seinen paktiererischen Verräterkurs. Er versucht, zwei miteinander unvereinbare Standpunkte unter einen Hut zu bringen. Es wird über die beiden Kandidaten abgestimmt, die auf der Sowjetberatung im Namen der Fraktion der Bolschewiki sprechen sollen. Kamenew vermag eine knappe Stimmenmehrheit auf sich zu vereinigen. Das ist schlecht, das zeigt, dass es damals, im März, noch viele Schwankende gegeben hat ...

Lenin hat sich aus der Gefangenschaft der Emigration noch nicht befreien können, er hält sich noch in der Schweiz auf, doch seine Stimme, seine Führung reicht bis zu uns und hilft uns, eine feste Basis für die Strategie der Partei in dieser beispiellos schwierigen Periode des Anwachsens der revolutionären Bewegung zu schaffen.

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Anmerkungen

1. Alexandra Kollontai ist offensichtlich ein Fehler unterlaufen. Es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die Sitzung des Büros des Zentralkomitees am 22. März (4. April) 1917, auf der der Wortlaut der Resolutionen Über die Provisorische Regierung und Über Krieg und Frieden bestätigt wurde. Auf dieser Sitzung wurde Alexandra Kollontai auch als Kandidatin für das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten vorgeschlagen.

2. Es handelt sich um die geplante Einberufung der Gesamtrussischen Beratung der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, die vom 29. März bis 3. April (11. bis 16. April) 1917 in Petrograd stattfand. Den größten Einfluss dort hatten die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, was den Beschlüssen das entsprechende Gepräge gab. Die Beratung bezog die Position der „revolutionären Vaterlandsverteidigung“ und sprach sich für die Unterstützung der Provisorischen Regierung aus.

3. Gemeint ist das Treffen der Mitglieder der bolschewistischen Fraktion der Gesamtrussischen Beratung der Sowjets mit Delegierten bolschewistischer Organisationen, die auf der Beratung nicht vertreten waren, und Mitgliedern zentraler Parteikörperschaften vom 27. März bis 4. April (9. bis 17. April). Auf dieser Zusammenkunft der Bolschewiki standen Fragen wie die Einstellung zum Krieg und zur Provisorischen Regierung, die Organisierung der revolutionären Kräfte und anderes mehr zur Debatte.


Zuletzt aktualisiert am 16. Juli 2020