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Der Tag meiner Hochzeit verlief äußerst komisch und gar nicht feierlich. Zwei Jahre lang hatte ich mit meinen Eltern um die Erlaubnis gerungen, meinen Vetter zweiten Grades, den lustigen und gutaussehenden Wladimir Kollontai, heiraten zu dürfen. Wir jungen Mädchen hatten alle eine Schwäche für ihn. Er tanzte hinreißend gut Mazurka und vermochte uns einen ganzen Abend lang zu erheitern und zum Lachen zu bringen. Obwohl Kollontai ein Vetter zweiten Grades von mir war, hatte er unter völlig anderen Umständen gelebt. Sein Vater war von den zaristischen Behörden nach dem Kaukasus verbannt worden, so dass er schon als Kind Armut und Entbehrungen kennenlernte. Erzogen hatte ihn seine Mutter, eine Lehrerin, die die ganze Familie ernährte.
Mir ging immer das Herz vor Zärtlichkeit und Mitgefühl auf, wenn Kollontai von seiner schweren Kindheit und all den Entbehrungen erzählte. Ich wollte zu gern, dass er alles Schwere, was er durchgemacht hatte, vergaß und glücklich wurde. Die Tyrannei der zaristischen Selbstherrschaft empfand ich besonders schmerzlich, wenn sie so einen netten Burschen wie Wladimir Kollontai traf. Kollontai lachte mich mitunter aus. „Das ist lange her, ich habe das schon alles vergessen.“
Er war fröhlich und glücklich und vertraute auf seine Kraft. Sein Ziel war, ein guter Ingenieur zu werden, Brücken zu bauen und seine alte Mutter zu unterstützen.
Ich machte mir indessen weiter meine Gedanken. Ein Glück war, dass Kollontai nicht mehr den Verfolgungen des Zaren ausgesetzt war und keinen Hunger mehr litt, doch andererseits gab es in Russland nach wie vor jene Schrecken, die Wolodja hatte durchmachen müssen – Ungerechtigkeit, Verfolgungen und Qualen. Andere hungerten, andere wurden verbannt, andere litten.
Wie konnte er, der ein so gutes Herz besaß nur vergessen, dass in Russland die Selbstherrschaft existierte und das Volk unterdrückt wurde? Aber Kollontai mochte nicht über „philosophische Themen“ reden: Sag, was du willst, praktisch kommt nichts dabei heraus. Er sp?telte, mir gefalle es einfach, die Worte meiner Lehrerin nachzuplappern.
„Nun sei mir nur nicht böse“, meinte er schließlich, „laufen wir lieber noch eine Runde Schlittschuh.“
Natürlich lief ich mit Vergnügen nicht nur eine Runde mit ihm, sondern zwei. Ich war sehr verliebt. Längst war ich entschlossen, Kollontai zu heiraten. Mir gefiel, dass er „nicht einen roten Heller“ besaß, dass er sich selbst seinen Lebensunterhalt würde verdienen müssen und dass auch mir möglicherweise Entbehrungen und Schwierigkeiten bevorstanden. Hätte ich ein Luxusdasein führen sollen, wäre ich wohl sehr unglücklich gewesen und hätte die Ungerechtigkeit alles dessen, was mich umgab, noch stärker empfunden.
Meine Mutter jedoch wollte von dieser Ehe nichts wissen. Sie hielt sie für eine Riesendummheit. Schließlich hatte Kollontai noch nicht einmal sein Studium abgeschlossen.
„All das ist ja ganz schön und gut, solange Papa lebt“, sagte meine Mutter. „Aber wenn dein Vater eines Tages stirbt und ihr sieben, acht Kinder habt, wie wollt ihr dann leben?“
Ich zuckte nur mit den Schultern. Kollontai würde ein guter Ingenieur werden, und dann wollte ich selbst ja auch arbeiten.
„Das möchte ich sehen, wie du arbeiten wirst“, meinte Mutter. „Wo du doch mir und dem Mädchen nicht mal im Haushalt hilfst und dein eigenes Bett nicht ordentlich machst. Statt dessen läufst du, ganz wie dein Vater, durchs Haus und denkst an etwas anderes.“
Meine Eltern wollten von meinem „neuesten Einfall“ nichts wissen. Es kam so weit, dass sie Kollontai baten, unser Haus nicht mehr aufzusuchen. Das war für den empfindlichen Kollontai eine heftige Kränkung, und ich nahm mir noch fester vor, seine Frau zu werden.
Vater versuchte, mich davon zu überzeugen, dass Kollontai für mich nicht der geeignete Mann sei:
„Er ist ein netter Junge, das bestreite ich gar nicht, bloß, was erwartet er vom Leben? Sein Ziel ist es, Ingenieur zu werden. Nun überleg’ doch, er hat sicherlich nicht einmal deinen geliebten Dobroljubow gelesen. Dabei lässt du dich doch gar zu gern über große Dinge aus. Worüber werdet ihr beiden euch unterhalten? Euch wird die geistige Nähe fehlen, und du wirst schon bald nichts mehr für ihn empfinden.“
Als ich Kollontai das nächste Mal sah, gab ich ihm eine Menge gutgemeinter Ratschläge. Ich drückte ihm den ersten Band der Werke Dobroljubows in die Hand. (Ob er ihn wohl jemals aufgeschlagen hat?)
Meine Eltern blieben hartnäckig, doch ich war entschlossen, nicht nachzugeben.
„Wenn ihr nicht euer Einverständnis zu dieser Ehe gebt, dann mache ich es eben so wie die Jelena aus Turgenjews Am Vorabend.“
Darauf erwiderte meine Mutter: „Bei dir muss man auf alles gefasst sein.“
Nach und nach schaffte meine Mutter allerdings eine solide, gediegene Aussteuer für mich an. Keinen Luxus, sondern einfache und haltbare Sachen. Mich interessierte die Mitgift nicht im Geringsten. Aber dass die Frage überhaupt zur Debatte stand, war schon ein Zugeständnis seitens meiner Eltern. Kollontai durfte nun fast täglich kommen. Wir verbrachten die Abende vergnüglich, spielten alles mögliche, lachten und amüsierten uns zu dritt – Wladimir, meine Freundin Lidija und ich.
Plötzlich tauchte ein Hindernis auf, das keiner für möglich gehalten hätte. Für die Eheschließung brauchte man die Geburtsurkunde. Wie groß war jedoch das Erstaunen meiner Eltern, als in meinem Taufschein geschrieben stand, dass ein Knabe auf den Namen Alexander getauft worden sei. Tag und Stunde, die Taufpaten – alles stimmte, nur war das eben nicht ich, war dies kein Mädchen, sondern ein Junge. Großes Erstaunen und äußerste Bestürzung. Ich hätte beinahe losgeheult, vermutete, all das hätte Mutter so arrangiert, um unsere Ehe zu hintertreiben. Doch auch meine Eltern regte die Verwechslung auf. Es begannen Laufereien, Fahrten ins Konsistorium, überhaupt allerlei Scherereien. Vater lachte, besonders als er feststellte, dass der Fehler geschehen war, weil der Geistliche, der mich getauft hatte, vor der Ausstellung des Taufscheins bei uns zu Hause kräftig gefrühstückt und auch getrunken hatte. Die Taufpaten wurden befragt, sie machten ihre Aussagen, und schließlich wurde die Urkunde berichtigt. Endlich waren alle Papiere in Ordnung. Nun konnte ich heiraten ...
Die Hochzeit wurde für Ende April anberaumt. Meine Mutter sagte:
„Wir richten eine schlichte Hochzeit aus. Weshalb für alle möglichen Feiern Geld ausgeben! Bald wirst du jeden Rubel gebrauchen können.“
Ich spürte, dass Mutter bis zum letzten Tag hoffte, ich würde mich doch noch anders besinnen, so dass die Hochzeit nicht zustande käme. Meine Mutter warf mir – auf französisch – vor, meine Gefühle seien nicht von Dauer. Ich mochte diese Vorwürfe nicht hören, auf französisch klangen sie indessen weniger streng. Mutter sprach mit uns allen französisch, damit wir uns übten. Sie selbst beherrschte diese Sprache perfekt. Ich glaubte, niemanden so zu lieben wie Wolodja; alle anderen jungen Männer, meine Kavaliere auf den Bällen waren nichts weiter als Kindertorheiten gewesen.
Nach all diesen Geschehnissen kam dann endlich der Tag der Hochzeit. Aber wie ich schon sagte, verlief er reichlich komisch. Das begann gleich am Morgen.
Ich hatte einen Kanarienvogel, den ich heiß liebte. Er hieß Max. Außerdem besaß ich noch ein kleines gelbes Hündchen, eine Promenadenmischung. Das Hündchen konnte aus irgendeinem Grund den Kanarienvogel nicht ausstehen. Dieser war völlig zahm, so dass ich ihn aus dem Käfig ließ und er in den Zimmern umherflog. Mein Zimmer war klein, aber hell. Ich erledigte dort meine Schularbeiten, schrieb Romane und Erzählungen und träumte von „großen Taten“, die ich in meinem Leben vollbringen würde. Der Kanarienvogel Max saß gern auf dem Tintenfass, während sich das gelbe Hündchen auf den Stuhl setzte und ihn unverwandt anblickte. In solchen Augenblicken glich das Hündchen einer Katze, die auf ihr Opfer lauerte. Daher jagte ich den Hund, wenn ich den Kanarienvogel aus dem Käfig ließ stets aus dem Zimmer. An meinem Hochzeitstag muss ich die zwischen den beiden bestehende Feindschaft völlig vergessen haben. Und da war es auch schon geschehen. Max flog im Zimmer umher, das von seinem Gezwitscher widerhallte. Warum er sich auf mein Kissen gesetzt hat, weiß keiner. Er begann, an der Stickerei herumzuzupfen und verhedderte sich dabei. Diesen Umstand machte sich sein Feind zunutze. Als ich unvermittelt ins Zimmer trat, sah ich nur, wie der erbitterte Feind meines Kanarienvögelchens ganz betreten vom Bett sprang. Auf dem Kopfkissen aber lag der leblose kleine gelbe Körper des Vogels. Ich war derart entsetzt, dass ich aufschrie, wie man es nur bei einer Katastrophe tut. Meine Mutter kam aufgeregt und erschrocken ins Zimmer gestürzt. „Mein Gott, was ist los? Brennt es?“
Ich heulte los und hielt Mutter das kleine gelbe Knäuel hin.
„Dieser niederträchtige, gemeine Hund! Das verzeihe ich ihm niemals! Bitte, nimm du ihn. Ich mag ihn nicht mehr.“
Doch Mutter zankte mich aus:
„Dass du dich nicht schämst! Zu schreien wie ein kleines Kind, das sich gestoßen hat. Und warum? Wegen eines Kanarienvogels! Am Tage deiner Hochzeit! Du bist selbst schuld. Ich habe dir immer gesagt: Wenn du nicht mal auf deine Tiere aufpassen kannst, wie willst du dann nur mit deinen Kindern einmal zu Rande kommen?“
„Was gehen mich irgendwelche Kinder an!“ Dennoch versuchte Mutter, den Kanarienvogel wieder zum Leben zu erwecken, allerdings vergeblich. Nachdem sie mich nochmals ausgeschimpft hatte, eilte sie zu ihren hausfraulichen Pflichten zurück, denn am Abend, nach der Trauung, würde die Tafel im Saal gedeckt werden.
Schließlich war es Zeit, dass ich mich ankleidete – ein weißes Atlaskleid mit langer Schleppe, wie es Margarete von Valois, die Königin von Navarra, in der Oper Die Hugenotten trug. Ich begann mich also umzuziehen, da musste ich plötzlich niesen. Mit einem mal hatte ich regelrecht den Schnupfen. Eine schöne Braut, mit roter Nase und immerzu niesend! Hier musste Mutter helfen. Sie wurde böse und schalt mich:
„Du hast sicherlich zu viel Eis gegessen oder dich erkältet, als du bei diesem Wetter unbedingt reiten musstest. Weshalb musstest du auch mit Kollontai auf die Inseln reiten?“
Mutter ahnte nicht, dass es mir besonderes Vergnügen bereitete, zu empfinden, dass wir unmittelbar vor dem Tag standen, da wir für immer Mann und Frau sein würden. Sie schlug vor, die Hochzeit aufzuschieben, aber dagegen protestierte ich:
„Was beschlossen ist, ist beschlossen!“
Da kam mir Schenja zu Hilfe. Sie gab mir irgendeine Arznei, kremte mir das Gesicht ein und puderte meine Nase. Schenja bastelte mir eine komplizierte Frisur zurecht und setzte mir den Kranz aus künstlichen Blumen zusammen mit dem langen Schleier auf.
Meine Mutter kam nicht mit zur Kirche. Zum Glück nieste ich während der Trauung nicht, dafür packte mich der Schnupfen dann richtig, als wir aus der kalten Kirche wieder ins warme Zimmer zurückgekehrt waren. Ich musste Fieber messen, und als sich herausstellte, dass ich tatsächlich Temperatur hatte, verbot mir Mutter kategorisch zu tanzen und wollte mich unverzüglich ins Bett stecken. Kollontai versuchte, Einspruch zu erheben: „Aber wir wollten doch mit dem ersten Frühzug fahren.“
Doch davon wollte Mutter kein Wort hören.
„Begreifen Sie denn nicht, dass Sie jetzt für Schuras Leben verantwortlich sind? Wenn sich Schura mit ihrem Schnupfen noch weiter erkältet, kann sie sich eine Lungenentzündung holen.“
Kollontai senkte betrübt den Kopf und kam dann selbst zu mir, um mich zu überreden, die vorgesehene Reise nach Imatra zu verschieben. War das ärgerlich! Wie viel Mühe und Aufregung hatte es uns gekostet, diese Reise zu arrangieren! Weder Wolodja noch ich hatten Geld. Meinen Vater wollte ich nicht darum bitten. Da riet uns Lidotschka, meine goldenen Armbänder und einen kleinen Brillantring, ein Geschenk von Adele, zu versetzen. Für all diese Habseligkeiten bekamen wir 63 Rubel. Die Reise war gesichert, und Vater war der Meinung, Wolodja habe sie bezahlt.
Als die Gäste nach Hause gegangen waren, küsste Kollontai meiner Mutter die Hand und ging dann wie alle übrigen, während sich Lidija und ich wie gewöhnlich in mein Schlafzimmer zurückzogen, um zu Bett zu gehen. Lidotschka legte sich auf den Diwan, ich ins Bett, mit dem Kissen, auf dem am Morgen der Kanarienvogel den Tod gefunden hatte. Ich ging mit Lidija die Ereignisse dieses Tages noch einmal durch, und schon bald lachten und schwatzten wir wie eh und je, als habe es nie eine Hochzeit gegeben.
Die Unzufriedenheit mit meiner Ehe stellte sich schon sehr frühzeitig ein. Ich rebellierte gegen den „Tyrannen“, wie ich meinen schönen und geliebten Mann nannte.
Ganze drei Jahre waren vergangen, seit wir geheiratet hatten und in eine kleine Wohnung in der Nähe meiner Eltern gezogen waren. Wir hatten einen kleinen Sohn, Mischa. Er fing gerade an, durchs Zimmer zu tapsen und in seiner ulkigen Kindersprache zu sprechen. Als junges Mädchen hatte ich oft davon geträumt, dass ich, wenn ich erst einmal verheiratet wäre, zwei niedliche Mädelchen haben würde. Ich wollte ihnen keine Zöpfe flechten, sondern Locken drehen, wie es auf englischen Bildern zu sehen war. Und ich würde sehr, sehr glücklich sein. Doch im gleichen Augenblick dachte ich bei mir: Glücklich ... Was aber würde ich den ganzen Tag über tun? Schließlich konnte ich mich doch nicht die ganze Zeit mit der Frisur meiner Mädchen abgeben. Ich würde mir etwas anderes einfallen lassen müssen.
Nun war ich verheiratet. Ich liebte meinen schönen Mann und sagte jedermann, ich sei „furchtbar glücklich“. Und doch war mir, als würde mich dieses „Glück“ irgendwie einzwängen. Ich aber wollte frei sein. Was verstand ich darunter? Ich mochte nicht so leben, wie alle meine jungvermählten Freunde und Bekannten.
Der Mann geht arbeiten, während die Frau zu Hause bleibt, sich entweder in der Küche zu schaffen macht, sich die Rechnungen vom Kaufmann vornimmt oder sich anzieht, um Besuche zu machen. Alle diese kleinen wirtschaftlichen und häuslichen Sorgen füllten den ganzen Tag aus. Nicht einmal mehr Erzählungen und Romane konnte ich schreiben, wie ich es getan hatte, als ich noch bei meinen Eltern wohnte. Ich hatte mir das Leben in der Ehe völlig anders vorgestellt. Hatte geglaubt, dass ich, sobald ich nicht nur der zärtlichen Fürsorge, sondern auch der Tyrannei meiner Mutter ledig wäre, mein Leben so einrichten könnte, wie es mir gefiel. Der Haushalt interessierte mich nicht im Geringsten, und um meinen Sohn konnte sich sehr gut die Kinderfrau Anna Petrowna kümmern, die uns meine Mutter geschickt hatte, weniger, damit sie auf den kleinen Mischa aufpasste, sondern vielmehr, um den ganzen Haushalt zu führen. Annuschka verlangte von mir, ich solle wirtschaften lernen. Kaum hatte ich ein Buch zur Hand genommen und begonnen, mir Notizen zu Plechanows Monismus zu machen, kam sie gelaufen und fragte: „Sie haben die Wäsche zum Waschen gegeben? Sicherlich haben Sie wieder kein Verzeichnis gemacht?“ Oder: „Warum gehen Sie nicht mit dem Jungen spazieren? Schon den zweiten Tag ist er nicht an die Luft gekommen!“
Abends kam Kollontai mitunter nicht allein, sondern mit Freunden nach Hause. Da galt es, Sorge zu tragen, das zum Tee auch etwas zu essen da war. All das war sehr angenehm. Doch was sollte aus meiner Arbeit werden? Soja, meine beste Freundin, wohnte jetzt bei uns. Ihr Vater war gestorben, und sie war nach Petersburg gekommen, um Gesang zu studieren. Ich beneidete sie – keinerlei Haushalt, keinerlei Scherereien mit Rechnungen. Soja ging die ganze Zeit bald ins Konzert, bald zu einer Vorlesung oder aber zu ihrem Gesangslehrer. Ich dagegen saß immerfort zu Hause und sollte lernen, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Dabei kam jedoch wenig heraus. Zuweilen klagte ich Soja mein Leid:
„Mir gefällt das Eheleben ganz und gar nicht. Ich möchte Schriftstellerin werden. Manchmal könnte ich auf und davon laufen.“
„Wenn dir dein Leben nicht gefällt, dann lass dich doch von Kollontai scheiden“, meinte Soja. „Richte dir dein Leben so ein, wie du es magst.“
Dagegen wandte ich heftig ein:
„Du verstehst mich nicht. Das ist es ja gerade, was mich bedrückt. Ich liebe Kollontai, liebe ihn unheimlich. Ohne ihn werde ich niemals glücklich sein können.“
„Dann überlass’ doch Anna das Regiment im Hause, schließ’ dich in dein Zimmer ein und schreibe, soviel du magst. Verbiete allen, dein Zimmer zu betreten, während du schreibst.“
Solche Regeln werden jedoch im Familienalltag niemals eingehalten. Kaum hast du dich eingeschlossen, hörst du auf einmal: Mischa ist gerannt und dabei hingefallen. Nun brüllt er. Natürlich lasse ich meine Arbeit im Stich und eile dem Kleinen zu Hilfe.
Soja versuchte, Kollontai zu überzeugen, dass er mir mehr Freiheit gewähren müsse.
„Schura möchte Schriftstellerin werden, da muss sie völlig in Ruhe gelassen werden.“ Kollontai war gekränkt. „Womit störe ich sie denn?“ Manchmal fragte er mich: „Du liebst mich wohl nicht mehr?“
Ich protestierte natürlich, doch erklären, womit ich unzufrieden war, wollte und konnte ich nicht.
Ein Zimmer unserer bescheidenen Wohnung in einer engen Petersburger Straße. Die Petroleumlampe mit dem grünen Schirm brennt. Auf dem Tisch sind Zeichnungen und Berechnungen ausgebreitet. Daneben, auf einem kleinen Tisch, steht eine neue Erfindung, mit der sich Berechnungen anstellen lassen, Rechenmaschine heißt das. Kollontai und ein Kollege von ihm, ebenfalls Ingenieur, arbeiten an den Plänen für eine Heizung und Lüftung und rechnen auf der Maschine. Kollontai pfeift fröhlich etwas aus einem neuen Tanz vor sich hin. Sein Kollege hat sich tief über die Berechnungen gebeugt und alles um sich vergessen.
Das ist unser Haus, ein bescheidenes Haus. Geld haben wir nicht viel. Ingenieure verdienen wenig. Doch mein Vater gibt mir jeden Monat etwas, Nadelgeld, wie er es nennt. Das hilft mir sehr. Gewiss, es kommt vor, dass es bei uns zu Mittag nur eine Suppe gibt, doch das stört uns nicht. Wir alle sind jung und guter Dinge. Soja und ich versuchen, aus einer neuen dicken Zeitschrift mit fortschrittlicher Tendenz vorzulesen. Aber unsere Ingenieure möchten lieber ungestört arbeiten, und so ziehe ich mich mit Soja in mein Schlafzimmer zurück; wir schließen die Tür und unterhalten uns über das, was im Augenblick aktuell ist. Was tun, damit sich Kollontai für die neuen Ideen interessiert und sie verfolgt? Er spricht nicht gern über „hochtrabende Themen“ und betrachtet es gewissermaßen als Vergewaltigung, wenn ich ihm davon erzähle, wie der Teil der russischen Gesellschaft lebt, der von einer besseren Zukunft träumt.
Unter der Jugend wird viel von sozialen und ökonomischen Problemen gesprochen. Befinden wir uns doch in der Mitte der neunziger Jahre! Diskussionen und Streitgespräche zwischen Idealisten und Materialisten sind an der Tagesordnung. Der Marxismus findet Eingang in Russland. Mich interessiert der Marxismus, und ich besorge mir alle neuen Bücher über die Arbeiterfrage. Allerdings gibt es davon nicht viele. Die Zensur ist streng. Dennoch finden sich in den dicken Zeitschriften ein paar interessante Artikel, in denen die Lage der russischen Bauernschaft und der russischen Arbeiter geschildert wird. Kollontais Freund, der sich in erster Linie für seine Berechnungen und die Technik interessiert, glaubt, dass technische Erfolge der gewichtigste Faktor in der Geschichte und die größte Triebkraft der Menschheit sind. Kollontai ist der Ansicht, dass Bildung die Hauptsache sei.
„Das genügt nicht“, sage ich, „wie willst du Wissenschaft und Bildung im zaristischen Russland entwickeln, wo doch hier jeglicher lebendiger Gedanke im Keim erstickt wird? Die bestehende Ordnung muss grundlegend verändert werden. Es muss die Basis für eine neue Wirtschaft geschaffen werden. Die Geschichte der Menschheit wird vom Klassenkampf vorangetrieben.“
Kollontais Kollege diskutiert zäh und ausdauernd; er versteht es, die Argumente des Gegners zu zerschlagen. Wir streiten, bis wir heiser sind. Soja versucht, mir zu helfen. Sie fällt immer wieder unerwartet und heftig über den Gegner her, doch Kollontai verpasst uns plötzlich eine kalte Dusche:
„Seid gefälligst ein bisschen leiser! Ihr schreit so, dass ihr noch das Kind aufweckt. Dabei ist Mischa gerade erst eingeschlafen.“
Kollontai lacht während der Rededuelle häufig über uns und beteiligt sich selbst am wenigsten daran. Manchmal unterbricht er uns einfach und sagt: „Genug philosophiert! Jetzt wird getanzt!“
Und da es zu jener Zeit noch keine Grammophone gab, pfeifen wir den Walzer aus Eugen Onegin oder singen ihn im Chor und tanzen dazu.
Soja und ich schlafen längst, im Zimmer nebenan klappert noch immer die Rechenmaschine, und unsere „Jungs“, wie wir sie nennen, arbeiten durch bis zum Morgen.
Kollontai und sein Freund ähneln einander ganz und gar nicht. Kollontai hat dunkles Haar und braune Augen. Jede seiner Bewegungen verrät lebhaftes Temperament. Sein Freund ist von kleinem Wuchs, blass und keineswegs schön, hat aber ein kluges Gesicht. Er ist selbstbewusst, reserviert, kühl. Soja hat ihn „Marsmensch“ getauft. Der Freund meines Mannes nimmt mich ernst, interessiert sich für meine Schreiberei und für die Aufgaben, die ich mir selbst gestellt habe.
„Selbstverständlich können Haushalt und Erziehung eines Kindes Ihr Leben nicht ausfüllen“, sagt er.
Er bringt mir Bücher und hört sich gern Stellen aus meinen Erzählungen an. Kollontai macht sich über meine schriftstellerischen Arbeiten lustig, sein Kollege dagegen kritisiert, was ich schreibe, oder wübdigt es nach Gebühr. Das Urteil des Kollegen meines Mannes höre ich gern, ich respektiere ihn wegen der Klarheit und Exaktheit seiner Gedanken. Meine ganze Liebe jedoch gehört Kollontai ...
Viele Jahre später, nach der Februarrevolution von 1917, bin ich dem „Marsmenschen“ in Petrograd wieder begegnet. Er war damals ein bekannter Mathematikprofessor. Auf meine Frage, was er während der Februarrevolution getan habe, als in den Straßen Petrograds geschossen wurde, antwortete er mir mit gewohnter Gelassenheit:
„Ich habe diese Tage sehr gut genutzt. Habe eine umfangreiche Studie über das Gesetz der Abkühlung abgeschlossen. Da kam es mir sehr zupasse, dass man nicht ausgehen und Vorlesungen halten konnte.“
Nach langem Mühen hatte ich eine Erzählung fertiggestellt. Schreibmaschinen waren damals noch nicht in Gebrauch, so dass ich alles mit der Hand schrieb. Ich schrieb flüssig und schnell, korrigierte jedoch immer wieder und schrieb vieles um. Wir glaubten, es sei eine kühn konzipierte Erzählung, etwas, das den alten Vorurteilen einen tödlichen Schlag versetzen und mit der doppelten Moral, einer für die Männer, einer anderen für die Frauen, aufräumen würde. In dieser Erzählung wurde die volle Gleichberechtigung gefordert. Die Geschichte handelte von einer jungen Frau, die die Blüte ihrer Jugend hinter sich hatte (damals hieß das „alte Jungfer“). Sie war noch keine vierzig und verdiente sich ihren Lebensunterhalt selbst, lebte aber ganz zurückgezogen, ohne Liebe und ohne Zerstreuungen. Als sie schließlich einen Mann liebgewann, der jünger war als sie, schlug sie ihm vor, dass sie zusammen ins Ausland fahren (er hatte eine Dienstreise anzutreten) und während ihres Aufenthaltes dort wie Mann und Frau leben sollten, ohne sich in irgendeiner Weise zu binden. Sie hatte Angst, ihn an sich zu binden, denn sie war nicht sicher, ob seine Gefühle ihr gegenüber von Dauer waren. „Wir werden wie Freunde und Liebesleute leben“, sagte meine Heldin. „Und wenn wir zurückkommen, sind wir beide wieder frei und unabhängig voneinander.“ Damals klang so etwas neu, kühn, ja fast zynisch.
Mir gefiel meine Erzählung sehr, und ich dachte, sie würde ein großes literarisches Ereignis werden. Stolz ging ich in der Wohnung umher und spielte frohgelaunt mit meinem kleinen Sohn. Es war ein aufregender Tag, als ich meine Freunde versammelte und ihnen meine Erzählung vorlas. Maria Iwanowna Strachowa hätte mir sehr aufmerksam zu und lobte den Stil, hatte aber ein wenig ihre Zweifel, ob das Problem richtig angepackt sei. Dennoch sagte sie:
„Schicken Sie Ihre Erzählung an eine der dicken Zeitschriften.“
Meine Freunde waren sehr optimistisch in Bezug auf meinen literarischen Erstling. Es kam zu Diskussionen. Die einen verteidigten meine Fragestellung, die anderen lehnten sie ab. Auf jeden Fall waren sich aber alle einig, dass das Ganze interessant und zeitgemäß sei. Soja versicherte, meine Erzählung würde bei der Jugend, besonders bei den jungen Studenten, sehr gut aufgenommen werden. Meine Freunde dachten sich verschiedene Pseudonyme für mich aus, damit ich nicht als Autorin bekannt würde, doch dann wurde beschlossen, ich müsse unter meinem eigenen Namen, als Alexandra Kollontai, veröffentlichen.
Ich sandte das Manuskript an den bekannten Schriftsteller Korolenko. Wir hielten ihn für den besten Kenner der schöngeistigen Literatur jener Zeit. Sein Urteil über die Erzählung würde ausschlaggebend sein. Ich schrieb ihm einen kurzen Brief und bat Soja, Korolenko das Manuskript persönlich zu überbringen. Er hatte es also erhalten. Doch Woche um Woche verging, ohne dass ich auch nur ein Sterbenswörtchen von Korolenko hörte. Endlich traf ein Paket ein. Meine Erzählung war abgelehnt. Korolenko hatte dem zurückgesandten Manuskript einen Brief beigefügt. Er schrieb, das Thema der Erzählung scheine zwar originell, sei aber zu sehr vereinfacht und zu plump abgehandelt. Literarisch sei es ein Misserfolg. Es sei keine Erzählung, sondern Propaganda für die Idee, die ich verfechte. „Hätten Sie propagandistische Flugblätter verfasst, hätten Sie mehr erreicht. Für die Belletristik haben sie weniger die Voraussetzungen.“
Das war ein schwerer Schlag für mich. Mich packte Verzweiflung. Kollontai nahm meinen Misserfolg jedoch fast heiter auf. Er sagte:
„Das kommt alles daher, dass du dir als Heldin so eine alte Jungfer ausgedacht hast. Hättest du ein hübsches junges Mädchen genommen, wäre die ganze Erzählung interessant. Du aber halst einem jungen Mann, der ins Ausland fährt, ein hässliches altes Mädchen auf. Ich glaube, dass auch Korolenko vor allem deine Heldin missfallen hat. Die Alten mögen hübsche junge Mädchen.“
Kollontais Scherze kränkten mich tief und ärgerten mich. Soja nahm sich das Manuskript, das der Freund Kollontais mit seiner schönen, gleichmäßigen Handschrift abgeschrieben hatte, nochmals gründlich vor und kam zu dem Schluss, dass Korolenko tatsächlich recht hatte.
„Die Charaktere sind unscharf gezeichnet. Das ist ein Aufsatz, kein Roman“, sagte sie. „Schreib deine ganze Erzählung um.“
Ich war indessen so gekränkt, dass ich starrköpfig erklärte: „Überhaupt nichts werde ich mehr schreiben.“ Ich begriff, dass Sojas Kritik und Korolenkos Urteil ein Körnchen Wahrheit enthielten. Der „Marsmensch“ sah die ganze Angelegenheit noch unter einem etwas anderen Aspekt. Er las Korolenkos Brief ein zweites Mal und sagte nach kurzem Überlegen:
„Korolenko schreibt nichts davon, dass Sie keine literarische Begabung besitzen. Ihm gefällt das Thema nicht. Dieses Thema richtet sich gegen die Grundprinzipien der bürgerlichen Moral. Er befürchtet als Redakteur einer großen Zeitschrift, dass diese, wenn sie eine solche Erzählung abdruckt, beschlagnahmt werden könnte.“
Ich wäre vor Freude beinahe in die Luft gesprungen.
„Glauben Sie das wirklich?“ fragte ich den „Marsmenschen“.
„Gewiss ist es so. Wäre Korolenko der Meinung, Ihre Erzählung sei keinen Pfifferling wert, hätte er sich nicht die Mühe gemacht, Ihnen einen langen Brief zu schreiben. Sehen Sie doch, in seinem Brief steht: ‚Bei dem jungen Autor (das heißt bei Ihnen) gibt es wundervolle Stellen, die literarische Begabung erkennen lassen.‘ Warum hat er das wohl geschrieben? Weil er Ihre Erzählung aus völlig anderen Beweggründen ablehnt.“
Erleichtert seufzte ich auf und schenkte dem „Marsmenschen“ ein zärtliches Lächeln. Wie logisch er doch denkt! Er ist wirklich ein Freund, dachte ich bei mir. Ich kam noch oft auf Korolenkos Schreiben zurück, und mir gefiel, dass der „Marsmensch“ immer aufs Neue den Beweis antrat, warum Korolenko meine Erzählung abgelehnt hatte. Bei Soja beklagte ich mich über meinen Mann:
„Zwischen uns gibt es keine wahre Freundschaft, kein echtes Verstehen. Da ist mir nun ein so großes Unglück widerfahren – meine schöne Erzählung, das heißt die Erzählung, die ich am meisten geliebt habe, ist abgewiesen worden –, und er macht sich dar?er nur lustig. Ist das etwa ein Kamerad, ein Freund?“
Da wurde Soja böse auf mich. „Du bist einfach zu verwöhnt. Sagt man dir die Wahrheit ins Gesicht, bist du beleidigt. Der ‚Marsmensch‘ schmeichelt dir ja nur.“
Dennoch machte ich mir Gedanken, worüber ich nun schreiben sollte. Mit dem „Marsmenschen“ sprach ich oft und lange davon, und er kam nun häufiger als bisher zu uns.
„Schreiben Sie eine Broschüre“, sagte er, „zu jenem Thema oder aber darüber, was Sie uns so oft zu beweisen versuchen – über den Einfluss der Umwelt auf den Charakter des Kindes. Heutzutage interessiert man sich sehr für Erziehungsprobleme.“
Dieser Gedanke gefiel mir. Warum sollte ich es nicht versuchen? Ich begann, Pirogow, Pestalozzi und Uschinski zu lesen und Vorlesungen von Professor Lesgaft zu besuchen, zu denen mich der „Marsmensch“ öfter begleitete. Mit der Zeit fiel mir aber eine gewisse Unzufriedenheit in Kollontais Miene auf, wenn der „Marsmensch“ und ich zu dicht beieinander über meine Manuskripte gebeugt dasaßen. Sollte Kollontai etwa eifersüchtig sein? So ein Blödsinn! Weißt du nicht, Wolodja, dass ich nur dich und keinen anderen auf der Welt liebe?
Es war im März 1896, glaube ich. Mein Mann und sein Kollege erhielten einen interessanten Auftrag, interessant in technischer Hinsicht: Man hatte ihnen angeboten, in einer der größten Textilfabriken Russlands, der Krenholmmanufaktor bei Narva, Lüftung und Heizung neu zu gestalten. Die beiden Ingenieure würden voraussichtlich etwa eine Woche in Narva zu tun haben, so dass Kollontai vorschlug, Soja und ich sollten mitfahren, um auf diese Weise Nützliches mit Angenehmem zu verbinden. Ich war begeistert, denn ich ging sehr gern auf Reisen, und nach dem langen und grauen Winter, in dem das Leben in unserer kleinen Wohnung so eintönig dahinfloss, zog es mich ganz besonders fort. Schließlich war es außerordentlich interessant, sich eine zwar kleine, dafür aber historisch bedeutsame Stadt wie Narva anzusehen. Dort lebten noch historische Gestalten wie Peter I. und der Schwedenkönig Karl XII. fort. Das alles war aufregend, und ich holte auf der Stelle die Bücher hervor, um mir die Zeit des Schwedisch-Russischen Krieges und die Gestalten Peters I. und Karls XII. in Erinnerung zu rufen.
Unsere lustige Gesellschaft verließ Petersburg an einem Sonnabend, damit wir den ganzen Sonntag Zeit hatten, Narva und Umgebung zu besichtigen. Wir hatten Schlittschuhe mitgenommen. In Narva führten wir uns wie Vergnügungsreisende auf – fuhren im Schlitten über die verschneiten Felder und ergötzten uns im Wald an den phantastisch anmutenden schneebedeckten Kiefern und Fichten. Wir besichtigten die alte Festung und aßen zu Mittag im vornehmen Speisesaal des Hotels, wo ein Orchester spielte. Das war neu für uns und lustig. Beim Essen diskutierten wir, begleitet von Tschaikowskis Musik oder von Strauß-Walzern, und sprachen darüber, ob die Entwicklung der Technik die Menschheit von allem Übel und Unglück erretten könne, wie das die jungen Ingenieure behaupteten. Soja bedauerte, dass die Entwicklung der Industrie die Schönheit der Natur beeinträchtige, zum Beispiel würden Wasserfälle gebändigt, damit das Wasser für die Fabriken arbeitet wie hier in Narva. Ich behauptete dagegen, man müsse die Frage unter anderem Gesichtspunkt sehen: Damit der Menschheit mehr Glück beschieden wäre, müssten vor allem die sozialen und ökonomischen Verhältnisse verändert werden, müsste das ganze russische Volk Freiheit und Rechte erlangen.
„Was verstehst du eigentlich unter der Freiheit, um die du dir ewig Sorgen machst?“ unterbrach mich Kollontai. „Völlige Freiheit vermag nur Chaos zu bewirken. Die Menschen müssen Gesetze haben, natürlich gerechte, aber eherne Gesetze.“
Ich wollte an diesem Tag nicht mit meinem Mann streiten. Dazu war ich zu froh gestimmt. Mir schien, dass ich in Narva, in dieser neuen Situation, meine Freiheit zurückgewonnen und „meine Flügel ausgebreitet“ hatte, wie Soja sagte. In unserer winzigen Wohnung fehlte mir immer die Luft zum Atmen, kam ich mir wie in einen Käfig gesperrt vor.
Am nächsten Morgen gingen die Ingenieure an die Arbeit, während Soja und ich von der Direktion der Krenholmmanufaktur die Erlaubnis erhielten, die Fabrik zu besichtigen. Damals galt diese Fabrik hinsichtlich der Technik, der Arbeitsbedingungen, der Hygiene und dergleichen mehr als modern; deshalb wollte ich besonders gern wissen, wie eine mustergültige Fabrik aussah.
Ein Angestellter aus dem Büro führte uns in einen kleinen Behandlungsraum für „Erste Hilfe“, doch gab es dort weder eine Krankenschwester noch gar einen Bereitschaftsarzt. Ein alter Meister, der inzwischen nicht mehr in der Fabrik arbeitete, betätigte sich als Chirurg und Schwester zugleich.
„Ich habe in meinem Leben so viele Unfälle gesehen, dass ich jede Operation besser als sämtliche Chirurgen ausführe“, erklärte er uns.
Dann wurden wir in die kleine Bibliothek mit einem Bücherschrank geführt, in dem die Werke Turgenjews, Puschkins und Gogols standen, doch gab es dort weder Fachliteratur noch neue Bücher. Den Eintragungen nach zu urteilen, hatte die Bibliothek nur sehr wenige Leser. Die Bibliothekarin erklärte uns, dass neunzig Prozent der Arbeiter Analphabeten seien. Es gab auch einen Raum für Abendunterricht im Lesen und Schreiben, doch betrug die Zahl der Schüler nur ein paar Dutzend, während in der Fabrik zehntausend Arbeiter beschäftigt waren. Unter den Besuchern der Abendschule war nicht eine einzige Frau. Die Lehrerin erzählte, dass sich jeden Herbst einige hundert Personen meldeten, doch mit der Zeit nahm die Zahl der Schüler ab. Die Arbeiter waren nach dem langen Arbeitstag, der über zwölf Stunden währte, einfach zu müde. Von neuen Methoden für den Unterricht im Lesen und Schreiben hatte die Lehrerin nichts gehört. Die Lehrbücher waren veraltet, schmutzig und zerrissen. Schule und Ambulanz existierten lediglich auf dem Papier.
Ein Werkmeister geleitete uns durch die einzelnen Betriebsabteilungen und erläuterte uns dabei die Maschinen, doch als er gewahr wurde, dass wir uns dafür wenig interessierten, überließ er Soja und mich uns selbst. Soja hatte von der heiße n und feuchten Luft voller Faserstaub Kopfschmerzen bekommen und wollte ins Hotel zurück, um sich auszuruhen. So setzte ich meinen Rundgang durch die Manufaktur allein fort. Ich wollte mir einmal aus der Nähe ansehen, wie diese vielen tausend Arbeiter und vor allem die Frauen lebten und unter welchen Bedingungen sie arbeiteten. Doch die Arbeiterinnen gaben nur ungern Antwort auf meine Fragen. Die älteren Arbeiter hüllten sich ebenfalls in Schweigen. Nur die Jugendlichen erzählten mir bereitwillig von der Schwere ihrer Arbeit und ihres Lebens, die man nur als Zwangsarbeit und als Zuchthausleben bezeichnen konnte.
Die Arbeiter lebten innerhalb der Fabrikmauern wie im Gefängnis. Nur einmal in der Woche, sonntags, durften sie in die Stadt. Die Frauen allerdings fanden, dass es so besser sei, sonst vertränken die Männer den ganzen Lohn. Aber die jungen Arbeiter beklagten sich bitter darüber, dass sie keinerlei Freiheit besäßen und der lange Arbeitstag sie völlig auslaugte. Sie würden nie etwas Vernünftiges lernen. Die jungen Arbeiter wünschten sich, Ingenieur zu werden beziehungsweise überhaupt irgend etwas Nützliches zu erlernen. Das aber war unter den Bedingungen, unter denen sie arbeiteten, unmöglich. In der Schule konnten sie außer Lesen und Schreiben nichts lernen. Das schlimmste waren jedoch die in puncto Hygiene entsetzlichen Arbeitsbedingungen. Gewöhnlich erkrankten die Arbeiter schon in jungen Jahren an Tuberkulose und starben, noch ehe sie dreißig waren. „Drei, vier Jahre in der Fabrik, und man hat das Leben satt. Man wird allem gegenüber gleichgültig und wartet nur darauf, dass man ins Krankenhaus gebracht wird, um dort zu sterben.“
Die meisten Arbeiter hatten keine eigene Unterkunft, sondern hausten in großen Wohnkasernen, wo Verheiratete und Alleinstehende in ein und demselben Raum untergebracht waren. Ich warf einen Blick in diese Behausungen. Die Zimmer standen voll mit hölzernen Schlafpritschen, auf die alle möglichen Lumpen geworfen waren. Nur selten lag auf einer Pritsche ein dünner Strohsack. Sie schliefen alle bunt durcheinander – Ehepaare und Ledige. In der stickigen Barackenluft hing der Geruch von Machorka und menschlichen Ausdünstungen. Die Fenster waren fest verklebt, so dass nicht der geringste frische Lufthauch herein dringen konnte.
Auf dem Boden, zwischen den Pritschen, spielten, lagen und schliefen oder prügelten sich und weinten kleine Kinder, die von einem sechsjährigen Mädchen beaufsichtigt wurden. Ich bemerkte einen Jungen, der so alt sein mochte wie mein Sohn und dalag, ohne sich zu rühren. Als ich mich zu ihm hinab beugte, stellte ich voller Entsetzen fest, dass das Kind tot war. Der kleine Leichnam lag mitten unter den lebendigen, spielenden Kindern. Auf meine Frage, was dies zu bedeuten habe, sagte mir die sechsjährige „Kinderfrau“ in aller Ruhe:
„Das kommt vor, dass sie am helllichten Tag sterben. Um sechs kommt eine Tante und bringt ihn dann fort.“
Ich hatte genug niederdrückende Dinge zu Gesicht bekommen und begab mich rasch ins Hotel, um Soja meine Eindrücke mitzuteilen. So konnte das Leben nicht weitergehen! Es musste etwas getan werden. Alle diese Ungerechtigkeiten und Leiden der Arbeiter mussten aufhören. Weg mit dem Kapitalismus! Die Arbeiter mussten politische Rechte erhalten, damit sie ihre Interessen selbst wahrnehmen konnten. Nieder mit dem Zarismus! Freiheit für das russische Volk!
Mit solchen Gedanken stürmte ich in das Zimmer, in dem sich Soja ausruhte. Wir sprachen lange und leidenschaftlich über das, was ich gesehen hatte.
Am Abend klopften Kollontai und sein Freund an unsere Tür. Sie traten fröhlich lachend ein, und Kollontai tat uns, rosafarbene Eintrittskarten schwenkend, kund:
„Wir haben Karten für eine neue, lustige Operette ergattert. Wir fahren jetzt gleich los ...“
Doch er sprach nicht zu Ende, sondern verstummte, als er in meinem Gesicht den ihm wohlbekannten, wie er sagte, trotzigen Ausdruck bemerkte.
„Was hast du, Schura?“ fragte er. „Ist jemand grob gewesen zu dir in der Fabrik, oder hast du dich irgendwo gestoßen? Du guckst so komisch.“
„Mit mir ist gar nichts“, erwiderte ich gereizt. „Warum denkst du immer nur an mich? Es gibt weitaus Wichtigeres auf der Welt, das habe ich erst heute bis tief in mein Innerstes hinein begriffen. Wir können nicht so weiterleben wie bisher, wo doch ringsumher solch schreckliche Lebensbedingungen und unmenschliche Verhältnisse herrschen.“
„Was für Verhältnisse denn?“ wollte Kollontai wissen. Ich hielt eine flammende Anklagerede gegen die Unterdrückung der Arbeiter und gegen den Kapitalismus, denn ich war ehrlich erregt und empört angesichts dessen, was ich gesehen hatte.
„Das ist schlimmer als Zwangsarbeit. Alle diese zehntausend Menschen sind zu einem frühen Tod verurteilt, sie leben schlimmer als die Tiere. Und sie können dieser Hölle nicht entrinnen. Da liegen tote Kinder mitten unter lebendigen auf dem Fußoden. Eine Schande! Welch ein Verbrechen! Das kann und darf nicht so weitergehen. All das muss unverzüglich verändert werden, die alten Verhältnisse müssen abgeschafft werden, ein neues, besseres Leben muss aufgebaut werden.“
Die jungen Ingenieure versuchten, mir klarzumachen, dass sie ja gerade deshalb hierhergekommen seien, um die Arbeitsbedingungen für die Arbeiter zu verbessern.
„Wenn wir erst einmal die neue Lüftung installiert haben, werden alle schädlichen Fasern abgesaugt, und bei einer guten Heizung lässt sich die Temperatur so regeln, dass es nicht mehr so stickig und feucht ist.“
Doch ich war nicht umzustimmen.
„Es geht ja gar nicht nur um die sanitären Bedingungen. Verändert werden muss das gesamte System der ökonomischen Verhältnisse, die Arbeiter müssen ihre volle Freiheit bekommen.“
„Na schön“, sagte Kollontai versöhnlich. „Sollen die Arbeiter Rechte und Freiheit erhalten. Darüber kannst du uns nach dem Theater dann beim Abendessen im Restaurant ein paar Reden halten.“
Aber da konnte ich nicht mehr an mich halten.
„Ich gehe nicht mit euch ins Theater, und ich werde mich auch nicht in ein Luxusrestaurant setzen und mir blöde Musik anhören. Ich hasse das alles. Ich will nicht mehr so leben wie ihr. Geht ihr nur alle, wir haben verschiedene Wege!“
Mit diesen Worten warf ich mich aufs Bett und vergrub das Gesicht ins Kissen.
Kollontai wollte mich überreden, doch Soja sagte sehr bestimmt zu ihm:
„Lassen Sie sie in Ruhe. Wir gehen ohne sie. Soll sie ihre Eindrücke erst einmal verdauen und dann entscheiden, was sie tun wird.“
Wir kehrten nach Petersburg zurück, und ich machte mich mit doppeltem Eifer an das Studium der Arbeiterfrage und alles dessen, was ich über den Marxismus bekommen konnte. Wo es ging, besorgte ich mir illegale Broschüren. Besonders stark beeindruckte mich Lenins Was sind die ‚Volksfreunde‘? Mir war klar, dass der erste Schritt eine Revolution in Russland und eine revolutionäre Taktik sein musste. Wie konnte ich jedoch dazu beitragen? Ich fand, ich sei theoretisch zu wenig geschult. Daher besuchten Soja und ich alle Vorlesungen, die in jenen Jahren in Petersburg von Professoren und Fachleuten zu sozialökonomischen Problemen gehalten wurden. Besonders interessierten mich dabei die Vorträge des Fabrikinspektors Janschul. Ich schrieb keine Erzählungen mehr, sondern studierte fleißig die Mehrwerttheorie von Marx. Zwei Bände Marx schenkte mir mein Freund, der „Marsmensch“. In den dicken Zeitschriften fand ich hin und wieder Artikel von Lenin und andere Materialien. Sie halfen mir, die Theorie mit der Praxis des Lebens zu verbinden. Nur eine Revolution konnte die Arbeiter aus der Hölle erlösen, in der sie lebten. Doch wie den Weg zu den Revolutionären, zu den Parteimitgliedern finden, die sich in der Illegalität verborgen hielten?
Eines Tages ging ich zu meiner ehemaligen Lehrerin und erzählte ihr, dass ich meinen Mann zwar sehr liebte, die Ehe aber nicht im Geringsten das sei, was ich von ihr erwartet hätte. Ich wollte etwas anderes. Maria Iwanowna schaute mich aufmerksam an und sagte dann:
„Sie sind ein aktives Wesen, Schura. Sie brauchen eine nützliche Arbeit. Eigentlich könnten Sie beim Wandermuseum für Lehr- und Lernmittel mitmachen. Bei uns arbeiten da alle ehrenamtlich. Bringen Sie auch Soja mit, Sie werden gleichzeitig interessante Leute kennenlernen, die auf dem Gebiet der Volksbildung tätig sind.“
Ich erklärte mich einverstanden. Lehr- und Lernmittel interessierten mich freilich wenig. Doch ich hoffte, mit Hilfe des Museums Zugang zur revolutionären Arbeit zu finden.
Die Idee, solche Museen einzurichten, war aus dem Ausland nach Russland gelangt. In Pädagogenkreisen war viel davon die Rede, dass es nicht genüge, anhand von Büchern zu lernen. Der kindliche Verstand müsse mit Hilfe von Anschauungsmaterial entwickelt werden, durch die Verwendung von Wandtafeln, Herbarien usw.
Maria Iwanowna nun befasste sich damit, diese für Russland neue Sache zu organisieren, und war tatkräftig dabei, Material für ein Museum zusammenzutragen. Sie konnte Lehrerinnen für das Vorhaben gewinnen, die gern Käfer- oder Mineraliensammlungen, Herbarien, aus Zeitschriften ausgeschnittene Bilder für die laterna magica, Bildbände und anderes mehr für das Wandermuseum für Lehr- und Lernmittel stifteten. Maria Strachowa wandte sich auch an wissenschaftliche Institutionen, um die Sammlungen zu vervollständigen und einen Bestand anzulegen, aus dem sich die städtischen Schulen – etwa wie von Bibliotheken – die benötigten Unterrichtsmittel ausleihen konnten.
Doch für ein solches Museum brauchte man auch Geld. Zu diesem Zweck wurden in den Sälen des Gebäudes der alten Salzniederlage musikalisch-literarische Abende und Vorträge zu wissenschaftlichen Themen veranstaltet. Das brachte eine ganze Menge ein.
In der ersten Zeit war das Museum in einem kleinen Raum untergebracht, den ihm die bekannte Bibliothek Nikolai Rubakins abgetreten hatte. Rubakin war Schriftsteller und Verleger populärer Broschüren für die Bildung der Bauernschaft und der Arbeiter. Er war in Petersburg eine bekannte und beliebte Persönlichkeit, und seine Privatbibliothek galt als eine der besten. Das Museum wurde schon bald zu einem kulturellen Zentrum, das fortschrittliche Lehrer und Intellektuelle, die mitwirken wollten, dem russischen Volk Bildung zu geben, gern besuchten. Wer arbeitete nicht alles ehrenamtlich in diesem Museum mit! Ich erinnere mich zum Beispiel an den später berühmt gewordenen Zoologieprofessor Knippowitsch und dessen Schwester. Der Student Graftio fertigte physikalische Geräte an – jener Graftio, der auf Lenins Wunsch hin später mit dem Bau des Wolchowkraftwerks beauftragt wurde. Es gab auch ganz junge Mitarbeiter, wie etwa die Studenten Merkulow und Iljin. Ende der neunziger Jahre stellte die bekannte „Aufklärerin“ A. M. Kalmykowa, die bei der Herausgabe der beiden legalen marxistischen Zeitschriften Natschalo [1] und Nowoje Slowo [2] mitwirkte, Lehrmittelprogramme für Dorfschulen auf und saß mit Maria Iwanowna oft bis spät in die Nacht über ihnen. Nadeschda Konstantinowna Krupskaja arbeitete eine Zeitlang mit, denn sie war als Pädagogin an neuen Unterrichtsmethoden interessiert und nutzte das Museum zugleich für Treffs in Parteiangelegenheiten.
Von den Museumsmitarbeitern mochte ich am meisten Jelena Stassowa. Später, als Mitglied der Partei der Bolschewiki, wussten wir ihre Verdienste in der Partei und der revolutionären Arbeit besser zu würdigen. Damals war sie für uns nur ein interessantes, hochgewachsenes und schlankes junges Mädchen mit ausdrucksvollem, klugem Gesicht und schünem Haar, sehr resolut und selbstbewusst. Die Arbeit nahm sie sehr ernst. Sie verstand es, Anforderungen zu stellen, und hielt andere zur Arbeit an. Viele hatten Angst vor ihr. Aber wenn einer in Not geriet, war niemand so hilfsbereit wie Jelena Stassowa. Später bekam sie verantwortungsvolle Parteifunktionen übertragen und half der Partei, mit einer Menge Schwierigkeiten fertig zu werden, vor allem in der Zeit der Illegalität. Sie saß viele Male im Gefängnis, floh aus der Verbannung, lebte überhaupt das unruhige Leben einer Revolutionärin. In den ersten Jahren nach der Revolution von 1917 war sie Sekretär der Partei. Wladimir Iljitsch Lenin achtete und schätzte sie.
Gekleidet ging die Stassowa stets sehr schlicht, denn sie war bemüht, sich nicht von den Lehrern zu unterscheiden. Die Familie Jelena Stassowas war bei der fortschrittlichen Petersburger Intelligenz bekannt und geachtet. Ihr Vater war ein bedeutender Anwalt, der bei vielen politischen Prozessen die Verteidigung der Angeklagten übernommen hatte, ihr Onkel ein Musikkenner und Mäzen, der mit seinen kritischen Aufsätzen über die russische Musik das Musikpublikum die russischen Komponisten Glinka, Mussorgski, Dargomyschski, Rimski-Korsakow und andere lieben und verstehen gelehrt hat.
Maria Iwanowna bemühte sich nach Kräften, ihr geliebtes Werk, das Wandermuseum für Lehr- und Lernmittel, vor Kontakten mit der illegalen revolutionären Arbeit zu bewahren. Es kostete viel Mühe, die Genehmigung für die Bildung der Gesellschaft zur Förderung des Anschauungsunterrichtes zu bekommen. Die Polizei fürchtete, die Pädagogen könnten unter der harmlosen Bezeichnung Schulunterricht ihre gefährlichen revolutionären Ideen in die Schulen hinein tragen Nach langen Scherereien und erst nachdem in den Vorstand dieser Gesellschaft einige bekannte Mitglieder der Stadtduma, Professoren und sogar irgendein mit der Volksbildung sympathisierender Graf aufgenommen worden waren, erhielt Maria Iwanowna die gewünschte Genehmigung. Wenn die Polizei fürchtete, das Wandermuseum könnte ein Schlupfwinkel für revolutionäre Arbeit werden, hatte sie damit allerdings gar nicht so unrecht. Alle diese Atlanten, die laternae magicae und anderes bildeten in der Tat eine Art Deckmantel für jene Mitarbeiter des Museums, die in der illegalen Bewegung tätig waren und das Museum für geheime Treffs und andere Formen der illegalen Arbeit nutzten. Doktor Serebrjany von der Festung Schlüsselburg stellte direkten Kontakt zum Museum her. Unter den Gefangenen gab es ja eine Menge Wissenschaftler, die auch jetzt noch in der Naturwissenschaft einen Namen haben. Den Häftlingen wurden Sammlungen zugeschickt, deren Material sie bestimmen oder die sie ordnen sollten. Das Museum sandte ihnen auch Bücher und Zeitschriften zum Binden, unter anderem Das Kapital von Marx. Doktor Serebrjany führte zur Begründung seines Einfalls medizinische Argumente an: Es handele sich hierbei um eine Maßnahme, die notwendig wäre, um einer völligen nervlichen Zerrüttung der Häftlinge vorzubeugen. Vera Figner, Morosow und andere erzählten uns später, welch enorme Hilfe ihnen die Sammlungen des Museums, die Bücher und Zeitschriften bedeutet hätten, die wir in die Festung Schlüsselburg schickten.
Maria Iwanowna achtete sehr streng darauf, dass alles im Einklang mit den Vorschriften der Behörden abgewickelt wurde. Sie packte die für die Festung Schlüsselburg bestimmten Sendungen selbst ein und aus, damit wir nicht heimlich irgendwelche Kassiber mitschickten. Wir Museumsmitarbeiter kamen zwar nicht einmal mit dem Doktor ins Gespräch, doch allein die Tatsache, dass zwischen uns und den Gefangenen von Schlüsselburg eine rege Verbindung bestand, erfüllte mich mit großer Genugtuung.
Das Museum versorgte auch Arbeiterkurse, die damals die Bezeichnung Sonntagsschule trugen. Der Unterricht für die Arbeiter in den Betrieben fand abends statt, mit dem Segen der technischen Gesellschaft, die sich dafür einsetzte, dass der russische Arbeiter durch Unterricht qualifiziert würde. In den neunziger Jahren entwickelte sich die russische Industrie rasch. Jene Kurse wurden gleichfalls für die politische Propagandaarbeit und für die Herstellung von Verbindungen zwischen der Partei und den Massen benutzt. Als Tarnung diente der Mathematik-, Geographie- oder Zeichenunterricht. Hier lernte ich Vera und Ljudmila Menschinskaja kennen.
Damit die Kultur nicht zu kurz kam und die Mitarbeiter des Museums ihren Horizont erweiterten, organisierten Jelena Stassowa und ich einen Zirkel für die Lektüre von Monatsschriften, in dem auch Diskussionen stattfanden und aktuelle Artikel besprochen wurden. Der Zirkel kam in der Wohnung Maria Strachowas, bei Jelena Stassowa oder bei mir zusammen. Wir diskutierten leidenschaftlich über Vitalismus und Antivitalismus, über die Grundlagen des Materialismus und des Idealismus, über die Arbeiterbewegung in den verschiedenen Ländern sowie über die Ideen der Volkstümlerbewegung und des Marxismus. Heftige Dispute entbrannten um die Tendenz der beiden bedeutenden Zeitschriften Russkoje Bogatstwo [3] (eine volkstümlerische Zeitschrift) und Sewernij Westnik [4] (eine dem Marxismus nahestehende Zeitschrift). All dies war nichts weiter als eine Bereicherung unseres Wissens und von politischer Arbeit noch weit entfernt. Maria Iwanowna war eine typische „Förderin der Kultur“ der neunziger Jahre, für die das Museum Selbstzweck war. Sehr stark unterschied sich von ihr Jelena Stassowa, die das Museum nur als legales Aushängeschild für die illegale Arbeit zum Aufbau und zur Festigung der Partei Lenins sah. Doch hat Maria Strachowa uns, die wir noch jung waren, geholfen, den Grundstein für eine umfassende weltanschauliche Bildung zu legen, und uns die gesellschaftliche Tätigkeit zum Wohle des Volkes zur Gewohnheit werden lassen.
Zweimal in der Woche tat ich Dienst in den kleinen Räumen des Wandermuseums, in denen sich immer eine Menge Leute drängten. Maria Iwanowna hatte mir aufgetragen, die Glasdeckel der Kästchen mit den Insekten, die als Anschauungsmaterial für Vorträge über Mimikry dienen sollten, zu beschriften. Ich stellte Kataloge von Bildern für die laterna magica zusammen, wobei die farbenfrohen Bildchen mitunter auch mein eigenes Interesse weckten. Ich kam mir dann immer wie eine ertappte Schülerin vor, wenn Maria Iwanowna fragte:
„Haben Sie denn den Katalog immer noch nicht fertig, Schura?“
Ich gab Mineraliensammlungen an die Schulen aus, bemühte mich jedoch vergebens, mit den Lehrern, die ins Museum kamen, politische Gespräche anzuknüpfen. Sie gingen jeder Unterhaltung aus dem Wege.
Maria Iwanowna beauftragte mich, dem Lektor an den Sonntagsschulen behilflich zu sein, wenn es die laterna magica vorzuführen galt. Manchmal gab ich selber Geographiestunden. Sorgfältig drehte ich das Planetarium und erklärte den Arbeitern die Bewegungsgesetze der Himmelskörper. Meine Schüler, besonders die jungen Arbeiter, hatten es gern, wenn ich ihnen die laterna magica vorführte, und fanden an den Giraffen und der Elefantenjagd ebenso viel Gefallen wie ich selbst. Doch wie weit war dies alles von revolutionärer Tätigkeit entfernt! Ich hatte mir da etwas ganz anderes ausgemalt.
Ljolja Stassowa und ich kamen gut miteinander aus, doch hatte ich stets das Gefühl, dass sie, obwohl sie zwei Jahre jünger war als ich, mir gegenüber immer sehr bestimmt auftrat. Aber war das ein Wunder, da sie doch schon in der ersten Hälfte der neunziger Jahre aktiv illegal tätig war? Sie gehörte zu den Organisatoren jenes Parteikerns in Petersburg, aus dem später die Partei der Bolschewiki hervorging. Jelena Stassowa wusste genau, was sie im Leben wollte. Sie hatte ihren Weg schon gefunden. Ich hingegen suchte ihn noch.
Jelena Stassowa war einer Menge Verfolgungen seitens der zaristischen Regierung ausgesetzt, aber ich hatte nie das Gefühl, dass es für sie ein Opfer bedeutete, mit ihrer begüterten Familie gebrochen zu haben und unter falschem Namen in der Illegalität zu leben.
Ich hätte liebend gern gewusst, was die Stassowa außerhalb des Museums tat, wie sie ihre langweilige Arbeit im Museum mit der illegalen Tätigkeit verband. Doch zu diesem Thema äußerte sich Jelena ungern, und sie interessierte sich nicht für die Probleme, die unter den Jugendlichen debattiert wurden, mit denen Soja und ich verkehrten.
Würde ich wohl je eine so zurückhaltende, zuversichtliche und mutige Dienerin der Partei sein können wie Jelena Stassowa? Darüber sprach ich oft mit meiner Freundin Soja.
„Warum kann die Stassowa einer illegalen Organisation angehören und ich nicht?“
Ich wünschte sehnlichst, mit jenen Leuten in Kontakt zu kommen, die die Revolution vorbereiteten. Manchmal schickte mich Jelena Stassowa zu einer Adresse, die ich auswendig lernen musste und wo ich einem Unbekannten ein Paket oder einen Brief zu übergeben hatte. Dabei musste ich mir ganz genau eine Parole merken. Beim Betreten der Wohnung durfte man nicht grüßen, sondern hatte lediglich das Kennwort zu sagen, und erst wenn man die entsprechende Antwort erhalten hatte, durfte man den Brief oder das Paket übergeben. Zuweilen schickte mich meine Lehrerin zu reichen Bekannten meiner Mutter, damit ich ihnen Lotterielose zugunsten des Museums verkaufte. Oft gab mir Jelena Stassowa Pakete mit illegalen Druckerzeugnissen, Broschüren und Aufrufen, mit, die ich in unserer Wohnung verbarg. War das nun revolutionäre Tätigkeit?, fragte ich mich im Stillen.
Ich begriff nicht, dass diese kleinen Aufträge unserer künftigen bolschewistischen Partei ein Bestandteil der revolutionären Arbeit waren und dass ich, mein Mann und Soja, wir alle dies mit Gefängnis oder Verbannung hätten bezahlen müssen, wenn die Polizei dahintergekommen wäre.
Eines Tages nahm mich Ljolja Stassowa im Museum beiseite und sagte leise zu mir:
„Schura, kommen Sie am Dienstag Abend um acht zu einer Parteiversammlung in die Wohnung meiner Eltern. Gehen Sie durch den Haupteingang und klingeln Sie zweimal. Wir haben dringend ein paar Dinge zu erledigen, und ich denke, Sie können der Partei nützlich sein.“
Ich fühlte, wie ich bei Ljoljas Angebot ganz rot wurde und wie mein Herz klopfte. Ich reichte Jelena die Hand, die vor Aufregung eiskalt war. Ljolja indessen schien von meiner Erregung nichts zu bemerken. Im Weggehen sagte sie noch: „Sie dürfen natürlich niemandem etwas davon sagen!“ – „Auf gar keinen Fall“, erwiderte ich eifrig.
Bei einer illegalen Parteiversammlung dabei sein! Ein wichtigeres Ereignis konnte es in meinem Leben gar nicht geben! Ich freute mich und war eigentlich auch ein bisschen fassungslos. Was, wenn ich es nicht fertigbrächte, der Partei nützlich zu sein?
In meiner frühen Jugend hatte ich einst bei Spaziergängen durch den Park von Kuusa davon geträumt, an konspirativen Zusammenkünften von Revolutionären teilzunehmen. Ich stellte mir so eine geheime Zusammenkunft irgendwo in einem Keller vor, bei Kerzenschein, wo jedermann im Flüsterton redete; die Anwesenden waren alle jung, voller Selbstvertrauen, standhaft und kaltblütig. Inzwischen wusste ich natürlich, dass Parteiversammlungen nicht so theatralisch abliefen. Dennoch war ich bei dem Gedanken, dass ich an einer illegalen Versammlung der Partei teilnehmen würde, sehr aufgeregt. Was würde dort erörtert werden? Welche Fragen würden entschieden werden? Sollte man mich nach meiner Meinung fragen, würde ich sie wohl klar und deutlich begründen und vertreten können? Die zwei Tage bis zur Versammlung nahm ich alles um mich herum nur wie im Nebel wahr. Ich war stolz auf das Vertrauen, das mir Ljolja entgegengebracht hatte, und empfand dennoch Angst, der Situation vielleicht nicht gewachsen zu sein.
Am Dienstag stand ich Punkt acht vor dem vertrauten Haus in der Furschtadtskaja-Straße, wo Ljolja Stassowas Eltern wohnten. Mein Herz schlug stürmisch, während ich die Treppe hinaufstieg. Haus und Treppe schienen mir völlig fremd.
Auf mein Klingeln öfnete Ljolja selbst. „Das Mädchen hat Ausgang, und meine Eltern sind in der Oper“, sagte sie. „Außer uns ist niemand im Haus.“
Am Kleiderständer hingen bereits einige Herrenmäntel. Ljolja geleitete mich ins Esszimmer. Auf dem Tisch, auf dem wie gewöhnlich ein weißes Tischtuch lag, dampfte der Samowar. Am Tisch saßen fünf, sechs Leute und tranken Tee mit Konfitüre dazu. Jelena stellte mich als Kollegin aus dem Museum vor und fügte hinzu: „Und das sind alles meine persönlichen Freunde. Möchten Sie Tee?“
Alles war genau wie sonst, wenn unser Literaturzirkel bei Ljolja zusammenkam.
Zur Debatte stand eine sehr prosaische Aufgabe: Man brauchte dringend Geld, um einen Aufruf drucken zu können. Die Polizei hatte die Parteidruckerei aufgespürt, und die neue war noch nicht richtig in Betrieb. Den Aufruf hatte, glaube ich, Lenin verfasst. Mich hatte man hinzugeholt, weil ich reiche Bekannte hatte und mir ein Mittel einfallen lassen konnte, damit sie möglichst bald etwas springen ließen.
Ich verließ diese erste illegale Versammlung betrübt und enttäuscht. Taugte ich etwa nur dazu, Pakete zu befördern und Geld zu sammeln?
Ich ging durch die vertrauten Petersburger Straßen nach Hause. Es war ein regnerischer Abend, wie sie im Frühjahr in Petersburg häufig sind. Feiner Regen fiel auf mich hernieder. Plötzlich musste ich an ein Gespräch denken, das ich unlängst mit Jelena Stassowa geführt hatte. Als ich Zweifel äußerte, ob ich mit meinem so geringen theoretischen Wissen in der Partei überhaupt mitarbeiten könnte, hatte sie geantwortet:
„Für die großen revolutionären Aufgaben der Partei kann jeder nützlich sein, wenn er nur zwei Bedingungen erfüllt: Erstens muss er die Partei lieben, zweitens muss er lernen, Disziplin zu wahren. Sicher ist es von Nutzen, dass Sie die Mehrwerttheorie von Marx studieren und sich mit den Werken Lenins beschäftigen, aber das genügt nicht. Der Partei muss man mit Leib und Seele angehören. Man muss alle bürgerlichen Gewohnheiten ablegen und in sich den Wunsch bezwingen, eine Rolle zu spielen oder sich selbst in den Vordergrund zu drängen. Man darf auch nicht gekränkt sein, wenn man nur kleine Aufträge bekommt. In der Partei gibt es überhaupt nichts Unwichtiges. Wenn man nämlich im Kleinen einen Fehler begeht, kann man auch im Großen Schaden anrichten. Die Partei muss sich davon überzeugen, dass Sie vor allem ein äußerst diszipliniertes Parteimitglied sind und unsere politischen Aufgaben ganz zu Ihren eigenen gemacht haben. Wir bauen unsere Partei gerade erst auf, setzen die ersten Steine. Unsere führenden Genossen werden Ihnen schon eine Aufgabe zu geben wissen, wenn sie sehen, dass Sie die Fähigkeiten dazu haben. Aber gehen Sie nicht in die Partei, Schura, wenn Sie damit rechnen, dort eine ‚Rolle‘ zu spielen, ohne sich dies verdient zu haben.“
An dieses ganze Gespräch erinnerte ich mich mit einem mal sehr deutlich, während ich durch den feinen Petersburger Frühjahrsregen ging. Ich schämte mich nun, dass ich die Versammlung enttäuscht verlassen hatte. Als ich an dem Haus anlangte, in dem ich wohnte, schmiedete ich bereits Pläne, wie ich meinen Auftrag am besten erfüllen könnte. Es war doch immerhin der erste Auftrag, den mir nicht einfach Ljolja oder meine Lehrerin erteilt hatte, sondern die Partei selbst. Mir wurde warm und froh ums Herz.
Ich führte weiterhin kleinere Aufträge der Partei aus, arbeitete aber zugleich fleißig an der Vervollständigung meiner theoretischen Kenntnisse auf dem Gebiet des Marxismus und der sozialen Probleme. Ich hatte mir vorgenommen, über soziale Themen zu schreiben. So konnte ich mir das Vertrauen der Partei erwerben und ihr nützlich sein.
Im Kinderzimmer brennt das Nachtlämpchen. Ich sitze am Bett meines Jungen, der ernstlich erkrankt ist. Sein kleiner zarter Körper glüht im Fieber. Die Wangen sind ganz heiß, der ausgetrocknete kleine Mund saugt gierig die Luft ein, das Köpfchen auf dem Kissen dreht sich unruhig hin und her. Ich sehe, wie er sich quält, und ich bin bereit, alles hinzugeben, alles zu tun, damit ihm Linderung zuteil wird. Mein Gesicht an sein heißes Körperchen gepresst, habe ich nur das eine Verlangen, ihm seine Krankheit und sein Leiden abzunehmen. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich nicht besser auf ihn achtgegeben habe. Seine Kinderfrau, Anna Petrowna, ist ihre Mutter besuchen gefahren, und ich habe den Beginn der Erkältung übersehen, die nun eine Lungenentzündung zu werden droht. Und alles, weil ich so intensiv mit meinen Studien befasst war, dass ich darüber vergaß, meinem Sohn ein warmes Jäckchen anzuziehen.
Kollontai hat mir ganz zu Recht vorgeworfen, ich sei eine leichtsinnige, nachlässige Mutter.
In der nächtlichen Stille, beim schwachen Schein des Bettlämpchens, mache ich mir zehnmal mehr Vorwürfe. Aber wie soll ich meine Arbeit mit den familiären Pflichten unter einen Hut bringen?
Nachdem ich dem Kind Arznei gegeben habe, fühlt es sich besser. Der Junge atmet jetzt leichter und gleichmäßiger. Ich bedecke seine kleinen Händchen mit Küssen und seufze erleichtert auf. Mein Sohn schläft inzwischen ruhig und friedlich. Nun kann ich über meine Arbeit nachdenken.
In der Hand halte ich ein gerade ausgelesenes Buch von Lenin, und ich habe begriffen, dass sich vor mir ein weiterer, grundlegender Aspekt der Politik der proletarischen Partei aufgetan hat. Mich erreicht Lenins Stimme über das gedruckte Wort. Dabei gibt es so glückliche Genossen, die ihn persönlich kennen. Sie können mir von diesem außergewöhnlichen Menschen erzählen, den der Zarismus erbarmungslos verfolgt, der jedoch besser als alle anderen den Weg sieht und kennt, der zur Revolution und zur Befreiung der Arbeiterklasse führt. Ob ich Lenin wohl einmal zu Gesicht bekommen würde?
In jenen Tagen, da ich mit meinen Träumen in die Zukunft vorauseilte, konnte ich mir natürlich nicht vorstellen, welch bewegtes und ereignisreiches Leben voller Kampf, Kontraste und Aktivität mich erwartete. Eines aber wusste ich genau: Im unbekümmerten Familienalltag dahinleben wollte und konnte ich nicht. Jene Welt, die Lebensbedingungen, die mich umgaben, lähmten mich und untergruben mein Vertrauen in die eigene Kraft.
Weshalb sollte ich nicht für ein bis zwei Jahre ins Ausland fahren, zum Beispiel nach Zürich, zu Professor Herkner? Ich hatte unlängst sein Buch Die Arbeiterfrage gelesen. Ohne Familie, ohne Haushaltssorgen, ohne Auseinandersetzungen mit meinem Mann und ohne die Kontrolle durch meine Eltern würde ich allein, ganz für mich, als Studentin leben und mein Wissen erweitern. Im Ausland könnte ich die gesamte in Russland verbotene Literatur lesen und Menschen aus Fleisch und Blut begegnen, die in der Arbeiterbewegung tätig waren. Meinen kleinen Mischa könnte ich bei den Eltern lassen, Kollontai aber würde begreifen müssen, was ich im Leben wollte und warum ich gezwungen war, von ihm wegzugehen. Hätte er kein Verständnis dafür, hieß es, wir würden ohnehin nicht fürs Leben zusammenbleiben. Von meiner Aufgabe ließ ich mich nicht abbringen. Ich würde zu denen gehen, die die Arbeiter vom Kapitalismus, vom Zarismus befreien wollten.
Mein kleiner Sohn schläft friedlich. Ich küsse seine schweißfeuchte Stirn, decke ihn ordentlich zu und gehe ins Nebenzimmer, um Lenin weiter zu lesen.
Im August 1898 erschien in der legalen marxistischen Monatsschrift Obrasowanije mein erster Artikel. [5] Es ging darin um pädagogische Fragen, vor allem um den Einfluss der Verhältnisse und des Milieus auf den kindlichen Charakter. Ich griff Gedanken Dobroljubows auf und wies eifrig die Irrtümer der idealistischen Schule nach, die nur die angeborenen menschlichen Eigenschaften gelten ließ. Dabei polemisierte ich mit den Idealisten von der Warte der marxistischen Weltanschauung aus. Mit diesem Artikel manifestierte ich bereits meine Zugehörigkeit zum Marxismus.
Die Veröffentlichung des ersten Artikels war für mich und Soja eine große Freude. Wir beide waren nicht nur glücklich, sondern auch stolz. Soja beglückwünschte mich sogar feierlich.
„Der erste Schritt ist getan“, sagte sie, „du hast den Weg eingeschlagen, von dem du immer geträumt hast – den Weg einer Schriftstellerin. Nun kannst du selbständig arbeiten und dir dein Leben einrichten ...“
Mein Vater hingegen verabreichte mir eine kalte Dusche.
„Dein Artikel enthält keinen einzigen selbständigen, neuen Gedanken und zu viele Zitate“, meinte er. „Schreiben kannst du allerdings.“
Jetzt, da mein Artikel gedruckt worden war und ich von meinen Freunden lobende Worte hörte, beschloss ich endgültig, in die Schweiz zu fahren und mich an der Universität Zürich für das Seminar von Professor Herkner einzuschreiben, der damals als Marxist galt. Später wurde er dann Bernsteinianer [6]. Im Jahre 1898 jedoch hoffte ich, unter seiner Anleitung die Gesetze der Ökonomie aus marxistischer Sicht studieren und meine Kenntnisse über die Arbeiterbewegung in anderen Ländern vertiefen zu können. Ich hatte begriffen, dass ich der Partei nur, wenn ich gründlich im Marxismus bewandert wäre, wirklich von Nutzen sein konnte. Dann würde ich auch den Volkstümlern eine ordentliche Abfuhr erteilen können und mich nicht mehr von den Spitzfindigkeiten der Leute vom Rabotscheje Delo [7] verwirren lassen.
Als mein Artikel in der Zeitschrift Obrasowanije erschien, war Kollontai auf einer Dienstreise in Lublin, während mein Sohn zu Besuch bei meinen Eltern in Kuusa weilte. Das erleichterte mir mein Vorhaben. Ich entschloss mich, alles meinem Vater zu erzählen, sobald dieser aus Kuusa in die Stadt kam.
Natürlich war Vater von meinem Plan nicht gerade begeistert. Doch nachdem er sich meine Argumente angehört hatte, versprach er mir, monatlich etwas Geld zu schicken, machte allerdings zur Bedingung, dass Mutter nicht erfuhr, wohin ich gefahren sei, wieso und weshalb. Von den Damen der Gesellschaft fuhren in jenen Jahren eine Menge den Winter über ins Ausland, nach Italien oder Frankreich, der Gesundheit wegen, hieß es. Wir wollten Mutter sagen, die Ärzte verlangten einen Aufenthalt in den schweizerischen Bergen. Das würde sie beruhigen ...
Ich hatte angenommen, dass ich mich, sobald mich der Schnellzug aus Petersburg ins Ausland bringen würde, wo mich ein neues Leben erwartete und ich durch nichts gebunden wäre, ungeheuer glücklich und frei fühlen würde. Doch in Wirklichkeit sah es ganz anders aus. Einmal im Zug, kam ich mir einsam und verlassen vor und dachte sehnsuchtsvoll an meinen gütigen, zärtlichen und liebevollen Mann. Ich sehnte mich auch nach den zarten kleinen Ärmchen meines Sohnes.
Warum nur war mir in den Sinn gekommen wegzufahren? Was sollte ich mit dieser Freiheit, von der ich so sehr geträumt hatte? Würde mir dieses neue Leben auch geben, was ich von ihm erwartete?
In der Nacht weinte ich bittere Tränen in das harte Kissen und rief in Gedanken nach meinem Mann. Warum hatte ich ihn so gekränkt, ihm einen solchen Schlag versetzt? Natürlich musste er mir Vorwürfe machen, dass ich meinen Sohn und ihn wegen irgendeines Professors Herkner im Stich gelassen hatte. Ich wusste, dass ich nicht nur vorübergehend weggefahren war und dass meine Abreise in Wirklichkeit das Ende unserer Ehe bedeutete. Kollontai würde nicht begreifen, dass ich nicht nur ihn verlassen, sondern auch für immer mit dem Milieu gebrochen hatte, das mich daran hinderte, ein nützlicher Mensch zu werden. Mir wurde mit Schrecken klar, dass Kollontai nicht jahrelang auf meine Rückkehr warten würde. Mir fiel Sojas Schwester, die schöne Schauspielerin Vera Jurenowa, ein. Was, wenn er sich in sie verliebte? Mir wurde richtig weh ums Herz. Auf einem Bahnhof unweit der Grenze, wo sich die Züge begegneten, wäre ich beinahe ausgestiegen, um den Gegenzug zu nehmen, der mich zu meinem Mann zurückgebracht hätte. Doch das hätte bedeutet, dass ich alle meine Wünsche und Vorhaben völlig aufgab. Dabei kam die Gelegenheit, mit meiner Umgebung zu brechen, vielleicht nie wieder.
Ich entschloss mich, Kollontai noch im Zug einen langen und herzlichen Brief zu schreiben. Ich versicherte ihm darin, wie heiß und innig ich ihn liebte ...
Gleich anschließend schrieb ich einen zweiten Brief, an Soja. Ihr schrieb ich, dass der Entschluss, mit meinem bisherigen Leben zu brechen, unwiderruflich sei. Zu diesem Leben würde ich nie mehr zurückkehren. Mochte auch mein Herz vor Kummer darüber brechen, dass ich Kollontais Liebe verliere, ich hätte andere Aufgaben im Leben, die wichtiger seien als Familienglück. Ich wolle für die Befreiung der Arbeiterklasse, für die Rechte der Frau, für das russische Volk kämpfen. Soja möge mir glauben, dass ich unser Banner hochhalten und niemals fallen lassen werde. Doch während ich all dies schrieb, weinte ich bittere Tränen und dachte voller Sehnsucht an Kollontai.
An der Grenzstation Werschbolowo suchte ich einen Briefkasten, um beide Briefe einzuwerfen. Als ich vernahm, wie die Briefe auf den Boden des Briefkastens fielen, wusste ich, dass nun alle Wege zurück in mein früheres Leben abgeschnitten waren. Mein Herz krampfte sich für einen Augenblick zusammen – war das das Ende? Doch am nächsten Morgen, im hellen Sonnenschein, erschien mir die Zukunft in anderem Licht als in der Nacht. Ich blickte nicht mehr zurück, und die Zukunft schreckte mich nicht mehr, sondern lockte.
Was hielt das Leben für mich bereit? Welche Schwierigkeiten oder Leiden es mir auch bringen würde, ich wusste, dass ich sie überwinden, dass ich für das Glück der Werktätigen und für die Befreiung Russlands vom Zarismus kämpfen würde.
1. Natschalo (Der Anfang) – Monatsschrift für Wissenschaft, Literatur und Politik, Organ der „legalen Marxisten“; erschien 1899 unter der Redaktion von P. B. Struve, M. I. Tugan-Baranowski und anderen in Petersburg.
2. Nowoje Slowo (Neues Wort) –Tageszeitung, erschien ab 1895 in Moskau unter dem Titel Russkoje Slowo (Russisches Wort); ab 1918 trug sie den Namen Nowoje Slowo und danach Nasche Slowo (Unser Wort).
3. Russkoje Bogatstwo (Russischer Reichtum) – Monatsschrift für Literatur und Wissenschaft, die von 1876 bis 1918 in Petersburg erschien; von 1892 an war sie das Organ der liberalen Volkstümler; ab 1906 wurde sie zum Organ der halbkadettischen Volkssozialistischen Arbeitspartei (Sozialrevolutionäre); sie bekämpfte den Marxismus und die russische sozialdemokratische Bewegung.
4. Sewernij Westnik (Bote des Nordens) – literarisch-wissenschaftliche und politische Monatsschrift; erschien von 1885 bis 1898 in Petersburg; anfangs widmete sie sozial?onomischen Fragen gro? Aufmerksamkeit und zählte liberale Volkstümler zu ihren Mitarbeitern; von 1891 an bezog sie reaktionäre idealistische Positionen und wurde zum Organ der Dekadenz.
5. Gemeint ist Alexandra Kollontais Artikel Die Grundlagen der Erziehung nach den Ansichten Dobroljubows, der 1898 in Nr. 9–11 der Zeitschrift Obrasowanije (Die Bildung) veröffentlicht wurde und noch im gleichen Jahr als selbständige Publikation erschien. Teilweise wurde der Artikel auch 1972 in Nr. 4 der Zeitschrift Narodnoje Obrasowanije (Die Volksbildung) veröffentlicht.
6. Bernsteinianer – Anhänger Bernsteins, des Begründers von Revisionismus und Reformismus in der Arbeiterbewegung, der die wichtigsten Grundsätze des Marxismus auf dem Gebiet der Philosophie, der politischen Ökonomie und der Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus einer Revision unterzog.
7. Leute vom Rabotscheje-Djelo wurden die Ökonomisten genannt, die sich um die Zeitschrift Rabotscheje Delo (Arbeitersache), das Organ des Auslandsbundes russischer Sozialdemokraten, gruppierten; die Zeitschrift wurde von 1899 bis 1902 unter der Redaktion von A. S. Martynow und anderen periodisch in Genf herausgegeben. Lenin hat die Zeitschrift in seiner Arbeit Was tun? kritisiert.
Zuletzt aktualisiert am 28. Juni 2020