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Es war ein heißer Sommer, als die Familie Domontowitsch aus Bulgarien nach Russland zurückkehrte. Unterwegs nach Petersburg machten wir bei Verwandten meines Vaters in der Ukraine Station. Unser Aufenthalt dort hinterließ jedoch bei mir keinerlei Eindruck. Ich erinnere mich nur an die Ankunft in Petersburg.
Kurz etwas zum politischen Klima jener Zeit.
In jenen Jahren schien die zaristische Monarchie unerschütterlich und ewig zu sein. Sie wurde von den adligen Gutsbesitzern und den höchsten Würdenträgern der Kirche unterstützt. Alle Reichtümer waren in den Händen einer kleinen, begrenzten sozialen Gruppe konzentriert. Unter den Bauern begann sich auf der einen Seite eine Großbauernschicht herauszubilden, während auf der anderen Seite Verarmung einsetzte. Die Politik im Lande wurde von Gendarmerie und zaristischer Geheimpolizei durchgesetzt. In den unteren Volksschichten allerdings gärte es, besonders nach dem Krieg gegen die Türkei. Hier und da flammten Bauernunruhen auf, und trotz aller Verbote der zaristischen Zensur drangen sozialistische Ideen nach Russland.
Die konservativen Kreise in Russland verkündeten über ihre Zeitung Nowoje Wremja lauthals, Russland wäre das einzige Land in Europa, in dem eine Revolution unmöglich sei. Die russischen Bauern seien unwissend und träge, sie ließen sich mit der Peitsche und durch Hunger fügsam halten.
Rückblickend erkennt man, dass die reaktionären Kräfte in Russland ebenso blind waren wie die reaktionären Kräfte in der ganzen Welt und dass ihre Politik der Unterdrückung und der Verfolgungen gerade das Gegenteil bewirkt hat. Im Ausland, in verschiedenen Teilen Europas, vor allem in der Schweiz, in England und in Frankreich, sammelten sich bereits die fortschrittlich und demokratisch gesinnten russischen Kräfte. Vorerst waren dies nur die Anhänger Alexander Herzens mit dessen Zeitung Kolokol [1], aber auch der liberale Kolokol weckte seinerzeit Gedanken.
Äußerlich schien Russland noch genauso wie in jenen Jahren, als wir nach Bulgarien gefahren waren, doch wenn man aufmerksam verfolgte, was bei uns los war, konnte man die immer breiter und tiefer werdenden sozialen Risse Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre nicht übersehen.
Wie bereits erwähnt, war es in Petersburg schwül und heiß. Nach der Rückkehr aus Bulgarien hatten wir uns in einer fremden Wohnung einquartiert. Meine Schwestern wohnten vorübergehend nicht mit bei uns. Sie waren zu ihrem leiblichen Vater, zu Mrawinski, geschickt worden. Ich begriff zum ersten Mal, dass sie eigentlich nicht meine richtigen Schwestern waren, denn Mutter hatte ja zum zweiten Mal geheiratet, und mein Vater, Michail Alexejewitsch, war nicht der Vater meiner Schwestern. All das gefiel mir nicht. Ohne die Schwestern war es öde und langweilig im Hause. Gar nicht schön war auch, dass Mutter immerfort auf etwas wartete, und wenn Vater nach Hause kam, so gingen die beiden umschlungen endlos im Zimmer auf und ab. Mich beachtete keiner. Sie redeten mit gedämpfter Stimme, als fürchteten sie, ich könnte hören, wovon sie sprachen.
Abends wurden Kerzen angezündet, die in Flaschenhälsen steckten, da keine Leuchter vorhanden waren. Die Kerzen gaben nur trübes Licht. Aus der Küche kamen schwarze und braune Schaben gekrochen, die ich nicht ausstehen konnte.
Besonders gut kann ich mich an einen Abend erinnern. Meine Eltern waren nicht zu Hause, ich war mit der Kinderfrau allein geblieben. Die Kerze in der grünen Flasche war fast niedergebrannt, doch Miss Gudgeon wollte keine neue aufstecken. Sie sagte:
„Neue Kerzen kosten Geld, und wir wissen nicht, wie lange unsere Ersparnisse aus Bulgarien reichen werden. Jetzt ist jede Kopeke kostbar.“
Ich mochte es nicht, wenn Miss Gudgeon so wie Mutter sprach. Etwas sehr Schlimmes konnte geschehen, doch niemand erklärte mir, was eigentlich. Auf meine Fragen erhielt ich immer ein und dieselbe Antwort: „Du bist noch zu klein, um das zu verstehen.“ Doch ich wusste, dass alles davon herrührte, dass der Zar mit meinem Vater unzufrieden war, weil die Nationalversammlung Vaters Verfassung und nicht die angenommen hatte, die der Zar und Stoilow wollten. Ich versuchte, Miss Gudgeon dies zu beweisen:
„Papa hat recht und der Zar völlig unrecht. Er ist genauso wie die Türken, keinen Deut besser. Ich hasse ihn.“ Miss Gudgeon hob entgeistert die Hände.
„Rede nicht solchen Unsinn! Dann heißt es noch, dass ich dir das beibringe. Für solche Worte kann dein Vater ins Gefängnis kommen.“
„Aber das hat doch nicht Vater gesagt, sondern ich. So kleine Mädchen werden nicht ins Gefängnis geworfen.“
Für mich stand fest: Was man auch mit meinem Vater tun mochte, ich würde mit ihm gehen und bei ihm bleiben. Und um meinem Herzen Luft zu machen, betitelte ich den Zaren mit sämtlichen Schimpfwörtern, die mir nur einfielen.
Als ich dann aber schlafen ging, weinte ich lange, und mein tränennasses Kopfkissen fiel zu Boden, direkt auf die Schaben. Ich traute mich nicht, es aufzuheben, weil sonst die Schaben in mein Bett gekrochen wären.
Eines Tages wurde alles anders. Wie und warum, weiß ich allerdings nicht mehr. Später erzählte man mir, der Kriegsminister sei mit einem Bericht meines Vaters zufrieden gewesen. Mein Vater kam in den Generalstab, doch „er steht weiterhin in Verdacht“, wie Mutter sagte, „und wir müssen sehr vorsichtig sein und dürfen kein dummes Zeug reden“.
Wir zogen wieder in unsere Wohnung am Jekaterinenkanal. Meine Mutter sagte, wir müssten jede Kopeke sparen, und so hatten wir nur wenig Dienstpersonal.
Nach der Rückkehr aus Bulgarien entschloss sich meine Schwester Schenja, ernsthaft Unterricht zu nehmen und sich auf die Reifeprüfung vorzubereiten, wobei sie die zwei Klassen des Gymnasiums überspringen wollte, die sie während des Aufenthalts in Bulgarien versäumt hatte. Sie hatte sich fest vorgenommen, Gesang zu studieren und Opernsängerin zu werden.
Meine Mutter verlangte von uns allen, das Abitur zu machen, damit wir für alle Eventualitäten des Lebens gerüstet wären ... Sie hatte allerdings ihre Zweifel, ob Schenja genug Willen haben würde, nach der unbeschwerten Zeit in Bulgarien nun beharrlich zu lernen. Doch da machte sie sich unnötige Sorgen; Schenja hatte einen starken Charakter und kniete sich förmlich in die Bücher.
Meine Schwester Adele führte das Leben einer jungen Dame jener Zeit, das heißt, sie fuhr in schönen, duftigen Kleidern mit Schleppe auf Bälle, kokettierte mit jungen Herren (das Wort „Flirt“ kannte man damals noch nicht) und tat im Übrigen all das, was damals „in Gesellschaft verkehren“ hieß. Schenja saß bis spät in den Abend an ihrem Schreibtisch und bereitete sich auf die Prüfungen vor.
Mitunter, wenn Mutter und Adele gemeinsam zu einer Abendgesellschaft oder einem Ball gefahren waren, klappte Schenja ihre Bücher zu und ging zum Flügel im Salon. Sie spielte ein wenig, trat dann vor einen der großen Spiegel, die dort hingen, und begann, Arien aus Margarethe und Rigoletto zu singen. Sie sang nicht nur, sie spielte direkt ihre Rolle, und ich fand es interessant, ihr zuzusehen. Schenja besaß eine wundervolle Stimme, die keiner vergessen konnte, der sie jemals gehört hatte – klar, melodisch, an den Klang eines Cellos erinnernd. Bisweilen bat mich Schenja um Hilfestellung. So sollte ich Faust in der Gartenszene darstellen. Dazu stieg ich auf einen Stuhl, damit Schenja die Arme hochwerfen und mich umarmen konnte. Mitunter stellte ich auch den Narren Rigoletto dar, während sich Schenja zu meinen Füßen niedersetzte und mich traurig anblickte. Sie küsste sogar meine Hand. All das war sehr lustig, doch wir erzählten niemandem von unseren Opernerfolgen.
Meine Mutter engagierte eine Lehrerin, die Schenja bei den Prüfungsvorbereitungen behilflich sein sollte. Sie hieß Maria Strachowa. Die Lehrerin ging sehr einfach gekleidet; sie trug derbe Stiefel und hatte das Haar glatt zurück gekämmt. Vom Äußeren her unterschied sich Maria Strachowa von allen Leuten, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Mir gegenüber war sie immer liebenswürdig. Zugleich hatte sie etwas an sich, das einem Respekt und auch ein wenig Furcht einflößte.
Meine Mutter sagte von Maria Strachowa, sie sei ein gutes, arbeitsames Mädchen. „Sie hat kein leichtes Leben gehabt, und über ihre Manieren und ihre hässliche Frisur muss man hinwegsehen.“
Mein Vater, der sich selten mit Damen unterhielt, plauderte gern mit Maria Strachowa, und jedes Mal, wenn sie zum Essen blieb, sprach er mit ihr über Bulgarien, über die mazedonische Frage, kritisierte gemeinsam mit ihr Bismarck und dessen Bestreben, Russland über die deutschen Barone in Preußens Politik zu verwickeln. Mein Vater und die Strachowa erörterten auch die Semstworeform. Manchmal stritten sie. In solchen Fällen pflegte mein Vater zu sagen:
„Nehmen Sie sich in Acht, Maria Iwanowna, Sie haben gefährliche Gedanken. Eines schönen Tages wird man Sie festnehmen und verbannen.“
Ich dachte: Wer wird sie festnehmen? Wer verbannen? Und mir tat Maria Iwanowna leid, zumal Schenja sie so ins Herz geschlossen hatte. Vieles in den Gesprächen zwischen Vater und Maria Iwanowna verstand ich nicht, doch später wurde mir so manches klar. Ich hatte Hochachtung vor Maria Strachowa, weil sie mit meinem Vater zu debattieren verstand.
Einmal, als Mutter und Adele zu einer Abendgesellschaft waren, blieb Maria Strachowa bei mir und Schenja. Es war im zeitigen Frühjahr. Mich hatte oft gewundert, warum es in Bulgarien abends gleich dunkel wurde und der Himmel wie Samt aussah, während bei uns in Petersburg der Himmel grau und die Abende lang und fahl waren. An jenem Abend nun, als Maria Strachowa bei uns blieb, wollte ich mir das von Schenja erklären lassen. Ich war überzeugt, dass sie eine Erklärung für mich haben würde, doch Maria Strachowa wandte mir bloß den Kopf zu und blickte mich aufmerksam an.
„Sie beginnen sich für die Gesetze des Universums zu interessieren, Schura? Irgendwann werde ich sie Ihnen erläutern.“
„Universum“ war ein neues Wort für mich. Es gefiel mir, so schön lang und wohlklingend, wie es war. Ich wartete geduldig, wann mir Maria Strachowa endlich erklären würde, was das Universum ist.
Eines Tages, als ich mit Schenja in dem Zimmer saß, in dem sie lernte und wo auf dem Tisch ein Globus mit einem kleinen silbernen Mond stand, der sich auf einer feinen Spirale drehte, rief mich Maria Strachowa und sagte:
„Jetzt sollen Sie die allerwichtigsten Gesetze des Universums kennenlernen, Schura.“
Ihre Erläuterungen waren für mich fesselnder als eins der üblichen Märchen, und vieles wurde mir nun klar. Das sagte ich auch Maria Strachowa.
Schenja bestand die Prüfungen mit Bravour, und die Lehrerin war sehr stolz auf sie. Maria Strachowa kam, um sich von uns allen zu verabschieden.
„Im Herbst werden Sie dann meine Schülerin sein, hoffe ich.“
„Aber werde ich denn nicht zur Schule gehen?“ erwiderte ich ein wenig enttäuscht. Das betrübte mich. „Mutter hat mir doch versprochen, ich dürfte zur Schule gehen.“
„Wollen Sie wirklich in die Schule gehen?“ fragte Maria Strachowa. „Das wäre sehr gut für Sie. So eine abgekapselte Familienatmosphäre ist nichts für Kinder, die allein aufwachsen. Es kann Ihnen nichts schaden, Schura, wenn Sie andere Kinder kennenlernen. Ich werde mit Ihrer Mutter reden.“
„Helfen Sie mir“, bat ich Maria Strachowa, und sie versprach es.
Aber Mutter wollte davon ganz und gar nichts wissen. „Schura erkältet sich so leicht. Im Herbst können wir immer noch sehen.“
Jahr um Jahr verging, doch in die Schule ließ mich Mutter nicht. So lernte ich zu Hause unter der Aufsicht Maria Strachowas.
Warum hat man mich wohl nicht zur Schule geschickt? Wie mir scheint, befürchtete meine Mutter, ich könnte von gefährlichen politischen Ideen angesteckt werden. Ich hörte, wie sie darüber mit den alten Tanten sprach.
„Diese gefährlichen Ideen hängen überall in der Luft“, sagten die Tanten. „Viele Mädchen aus gutem Hause haben ihre Angehörigen verlassen und sind ‚unters Volk‘ gegangen. Sie wollen eine Revolution anzetteln und den Zaren ermorden. Wir müssen alles tun, um Schurinka vor solchen grässlichen Dingen zu bewahren.“
Meine Mutter wollte mich so lange wie nur möglich unter ihren Fittichen haben, zugleich aber wünschten meine Eltern, dass ich eine gediegene Bildung bekäme. Eine Zeitlang schickten sie mich in eine Zeichenschule, doch das Abzeichnen geometrischer Figuren und des klassischen Profils von Apoll interessierte mich nicht im Geringsten. Interessanter waren da schon die jungen Studenten und Studentinnen, die die Schule besuchten. Talent zum Zeichnen hatte ich nicht, doch in die Eremitage ging ich gern mit Maria Strachowa, die mir die verschiedenen, mit den einzelnen Entwicklungsetappen der jeweiligen Länder verbundenen Malschulen erklärte. Besonders fesselten mich Rembrandt und das niederländische Volk, das so tapfer und einmütig gegen diese Schurken von Katholiken und gegen Philipp II. von Spanien gekämpft hatte.
Auch Klavierunterricht musste ich nehmen, doch das hatte ich gleichfalls bald satt. Ich mochte Musik zwar, aber nur dann, wenn Mutter ihre schönen Walzer spielte oder Schenja Opernarien sang. Spielte ich dagegen selber, schlug ich, um meinen Lehrer zu ärgern, absichtlich die falschen Tasten an.
Eine Zeitlang nahm ich Tanzunterricht. Es machte mir Spaß, vor dem Spiegel auf Zehenspitzen hin und her zu gehen, und ich dachte bei mir: Wenn Schenja Opernsängerin wird, warum ich dann eigentlich nicht Balletttänzerin? Miss Gudgeon nähte mir aus alten Vorhängen ein Ballettröckchen. Das Kostüm gefiel mir sehr gut, doch die Tanzstunden selbst fand ich langweilig. Da musste man immer zählen – eins, zwei, drei, eins, zwei, drei – und achtgeben, dass man die Füße richtig setzte.
Mutter sagte betrübt: „Schura interessiert sich für nichts, nur für Bücher.“ Eine Zeitlang nahm sie mir die Bücher einfach weg und versteckte sie vor mir.
„Du verdirbst dir die Augen, wenn du den ganzen Tag liest. Sitz gerade und mach keinen Buckel.“
Doch wenn man mir auch die Bücher wegnahm, meine Phantasie konnte mir keiner nehmen. Ich brachte es fertig, stundenlang von Zimmer zu Zimmer zu gehen und mir selbst Märchen und interessante Geschichten zu erzählen. Hätten mich die alten Tanten nur nicht immer mit ihren Ermahnungen geplagt! „Geh vorsichtiger, damit du nicht meine Wolle verfilzt“ „Stoß nicht an den Tisch, du hast schon wieder meinen Kaffee verschüttet.“ All diese Erwachsenen sollten mich doch in Ruhe lassen! Wäre es nur schon Sommer, damit wir nach Kuusa fahren könnten! Auf Großvaters Hof hatte ich meine Freiheit.
„Der Zar ist ermordet worden! Unser Väterchen Zar ist tot! Die Nihilisten, diese Hundsfotte, haben eine Bombe in seine Karosse geworfen! Wie schrecklich! So ein Unglück! Unser liebes Väterchen Zar ist ermordet worden!“ [2]
Im ganzen Haus war nur das zu hören – alle waren bestürzt und niedergeschlagen. Die alten Tanten bekreuzigten sich eifrig. Mit dem Blick auf die Ikonen sagten sie in einem fort:
„Wer nur hat es gewagt, die Hand gegen den Zaren zu erheben? Eine schlimmere Sünde kann es doch gar nicht geben. Aber diese Kanaillen, diese Banditen von Studenten kennen ja keinen Glauben an Gott und keinen Gehorsam vor der Obrigkeit mehr. Verbannen und aufhängen sollte man sie alle.“
Vaters Cousine war es, die uns die Neuigkeit meldete. Sie trat in den Vorsaal und erzählte unter Tränen, wie sie die Detonation der Bombe gehört habe. Sie sei gerade beim Metzger gewesen, um den Braten fürs Mittagessen zu kaufen, als plötzlich ein furchtbarer Knall ertönte, schlimmer als ein Donnerschlag. Alle seien auf die Straße geeilt und viele vor Kummer schluchzend auf die Knie gefallen. „Ich habe zwei Neffen“, sagte Vaters Cousine, „die sind Studenten. Möge Gott sie behüten! Vielleicht sind auch sie in diese schreckliche Sache verwickelt?“
Eine alte Dienerin, ein Tuch übergeworfen, brachte andere Nachrichten.
„Nein, der Zar ist nicht tot“, sprach sie. „Gott hat ihn gerettet, er ist nur schwer verwundet. Aber alle die Halunken, die an dem Attentat beteiligt sind, hat man schon verhaftet und ins Gefängnis gebracht.“
„Gott sei Dank, Gott sei Dank“, ging es durchs ganze Haus. „Der Zar ist nicht tot, nur verletzt.“ Die alten Weiblein und die Tanten besprachen, was geschehen war. Ihrer Meinung nach rührte das ganze Übel daher, dass der Zar die Zarin betrogen und eine gewöhnliche Sterbliche, Katja Dolgorukowa, zur Frau genommen hatte. Die Zarin war vor Kummer darüber gestorben. Das konnte das Volk dem Zaren nicht verzeihen. Der Zar hatte sich schwer versündigt. Gott aber lässt keine Sünde ungestraft, vor allem nicht so eine wie den Ehebruch.
Ein Verwandter meines Vaters, ein junger Offizier, erschien bei uns und fragte ganz aufgeregt, wo Vater sei. Er hatte geglaubt, uns die Neuigkeit als erster zu bringen, und war ein wenig enttäuscht, dass sich die erste Erregung im Hause bereits gelegt hatte. Natürlich, an allem waren die Studenten schuld. Sie hatten ja so üble Gedanken im Kopf. Sie waren gegen die Monarchie – aber was sollte wohl aus Russland ohne Väterchen Zar, ohne den Selbstherrscher werden?
Mich interessierte, was in der Küche gesprochen wurde. Dort drängten sich alle um die Köchin, die behauptete, den Zaren hätten nicht die Studenten, sondern die Gutsbesitzer ermordet, weil der Zar befohlen habe, die Leibeigenen freizulassen.
„Ich bin selbst Leibeigene gewesen und kann mich noch erinnern, wie ergrimmt die Gutsbesitzer waren.“ Doch das Zimmermädchen meinte:
„Was haben sie uns schon für eine Freiheit gegeben! Meiner Familie – wir sind Bauern – geht es jetzt schlechter als vorher. Steuern über Steuern, und der ganze Ertrag geht wieder an die Gutsbesitzer. Wenn das die Freiheit sein soll!“
Vaters Diener Mitrofan pflichtete dem Zimmermädchen bei. Ich fragte ihn: „Also haben nicht die Studenten den Zaren ermordet?“ Mir ließ das Schicksal der Studenten keine Ruhe.
Mitrofan erklärte mir:
„Studenten oder jemand anderes – das spielt keine Rolle. Unter den Studenten gibt es auch viele Gutsbesitzersöhne, aber was stimmt, ist, dass die Bauern jetzt nicht besser leben als zu der Zeit, da sie noch Leibeigene waren.“
Inzwischen war es dunkel geworden, doch Vater war immer noch nicht zu Hause.
Mutter machte sich Sorgen. Damals gab es weder Telefon noch Autos, so dass man nicht so schnell etwas in Erfahrung bringen konnte. Auf den Straßen wimmelte es von Leuten, und aus der Menge wurde geschrien: „Hängt die Mörder auf!“, „Es lebe unser Väterchen Zar!“ Durch die Straßen ritten Polizei- und Gendarmeriepatrouillen.
Mein Vater kam erst spätabends nach Hause. Er berichtete, der Zar sei seinen Verletzungen erlegen. Wieder begannen alle im Hause zu wehklagen und sich zu bekreuzigen. Ich wurde zu Bett gebracht, konnte aber nicht einschlafen. So viele neue Gedanken und Eindrücke waren auf mich eingestürmt, und ich wollte doch alles begreifen ...
Zar Alexander II. war tot. Am nächsten Tag wurde sein Sohn, Alexander III., zum Zaren von ganz Russland ausgerufen. Der Prozess gegen die Terroristen, die es gewagt hatten, die Hand gegen den Zaren zu erheben, ging seinem Ende entgegen. Taten wie diese hatte Russland noch nicht erlebt. Zwar waren auch früher schon russische Zaren ermordet worden, doch geschah das gewöhnlich im Palast selbst. Die Mörder waren immer eine Gruppe von Verschwörern, die zum Hofstaat gehörten und dem Zaren nahestanden. Die einfachen Menschen hatten es „nie gewagt“, die Hand gegen den Herrscher zu erheben, und so etwas musste durch besondere Maßnahmen „unterbunden“ werden. Das Urteil wurde gefällt: Tod durch den Strang für alle am Attentat Beteiligten. Dieses Urteil wurde bei Hofe, von den Gutsbesitzern und den Popen gutgeheißen. Wer nur ein bisschen progressiv war, schwieg, obwohl manch einer aufs Tiefste empört und unglücklich war. Was hätte man indessen schon tun können? Jeder Protest konnte Anlass für einen neuen Prozess sein, man konnte ins Gefängnis kommen oder nach Sibirien verbannt werden ... Die zaristische Regierung wütete im ganzen Land, ließ grausamen weißen Terror gegen jedermann walten, der nur irgendwie revolutionärer Ideen verdächtig war. Zeitschriften wurden verboten, Bücher beschlagnahmt.
Zu denen, die am Galgen enden sollten, gehörte auch Sofja Perowskaja; sie war die Tochter einer hochgestellten Persönlichkeit, hatte mit ihrer Familie gebrochen und sich der Revolution verschrieben. Zum ersten Male sollte in Russland eine Frau durch den Strang sterben. Diese Entscheidung empfanden selbst Leute mit konservativen Ansichten als zu hart.
Meine Mutter betete in jenen Tagen oft für die Mutter von Sofja Perowskaja.
„Was Sofja Perowskaja auch immer tun mochte, sie hätte an ihre Mutter denken müssen“, meinte meine Mutter. „Auch das ist ein Verbrechen, seiner Mutter solchen Kummer zu bereiten. Bevor sie sich entschloss, bei dieser Missetat gegen den Zaren mitzumachen, hätte sie mit ihrer Mutter sprechen und sich mit ihr beraten sollen.“
Adele war völlig auf Mutters Seite und verurteilte Sofja Perowskaja. Schenja hingegen schwieg. Ihre Miene ließ erkennen, dass sie Sofja bedauerte. Schenja sagte oft: „Man kann nicht immer so handeln, wie es die Familie will. Jeder muss seinen Weg ins Leben selbst finden.“ Für diese Worte habe ich Schenja einen Kuss gegeben.
Es war ein aufregender Tag, als die Attentäter zur Hinrichtung geführt wurden. Sie waren von Gendarmen und berittener Polizei eskortiert. Die Menschen strömten nur so zum Semjonowskaja-Platz.
Schenja saß am Flügel, aber sie sang nicht, und sie spielte auch nicht. Ich fragte sie: „Magst du nicht singen?“ Schenja meinte: „Ich kann heute nicht singen.“
Wir hörten, wie berittene Polizei an unseren Fenstern vorüber galoppierte, und Schenja sagte: „Sie haben es eilig, zur Hinrichtung zu kommen.“
Sie legte ihren Kopf auf die Tasten des Flügels, und ich sah, dass sie still vor sich hin weinte. Ich streichelte ihren Kopf, so wie ich dies immer tat, wenn ich ihren Vater in Rigoletto darstellte.
Da klingelte es, und ich lief zur Tür. Es war Maria Strachowa, bleich, ohne Brille. Sie vermochte nur noch zu sagen: „Es ist vorüber!“, dann fiel sie bewusstlos zu Boden.
1. Kolokol (Die Glocke) – revolutionäre Zeitung, die von 1857 bis 1867 von A. J. Herzen und N. P. Ogarjow herausgegeben wurde. Sie erschien in London, ab 1865 in Genf. Die Zeitung spielte eine sehr bedeutsame Rolle in der Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland.
2. Am 1. März 1881 vollstreckten die Narodowolzen das Todesurteil, das sie über Alexander II. verhängt hatten. Der Zar wurde durch eine von I. Grinewizki geworfene Bombe getötet. Dieser kam bei der Explosion ebenfalls ums Leben. A. Scheljabow, S. Perowskaja und N. Kibaltschitsch wurden wegen ihrer Beteiligung am Attentat hingerichtet.
Zuletzt aktualisiert am 28. Juni 2020