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Ein kleines Mädchen mit zwei Zöpfen und blauen Augen. Fünf Jahre alt. Ein Mädchen wie viele andere, doch bei genauerem Hinsehen strahlt das Gesicht Beharrlichkeit und festen Willen aus. Seine älteren Schwestern sagen von ihm: „Sie erreicht immer, was sie will.“ Das Mädchen heißt Schura Domontowitsch. Dieses Mädchen bin ich.
Ich lebe sorgenfrei in einer begüterten Familie, in der man weder Armut noch Hunger kennt. Ein großes Haus, das der Armee gehört. Das Gebäude ist Teil der Kavallerieschule. Große, helle Zimmer, lange Korridore. Auch einen Garten gibt es, eine Manege und viele Pferde. In der Manege üben die jungen Offiziersschüler. In diese Schule werden nur Kinder aus Adelsfamilien aufgenommen. Ich sehe gern zu, wie die Junker die Hindernisse beim Reiten nehmen. Manchmal darf ich den Pferden auch Zucker geben.
Vom Fenster des hellen Kinderzimmers aus sind hinter einer Böschung langgestreckte, öde, gelb getünchte Gebäude zu sehen mit schmalen, dunklen Fenstern, als sei dort immer Nacht. Vor den Fenstern sind dicke Gitter angebracht. Ich mag diese Häuser, vor allem die schrecklichen Fenster, nicht. Meine Kinderfrau, Miss Gudgeon, eine Engländerin, gibt mir recht: „Ja, diese Gebäude sind sehr düster. Es sind Armeemagazine, doch sie gleichen eher einem Gefängnis.“
Mein Vater ist Inspekteur für Ausbildung an der Kavallerieschule. Die Schule liegt im Norden von Petersburg. Ins Stadtzentrum fährt man gewöhnlich mit der Pferdebahn. An elektrische Straßenbahnen war damals überhaupt nicht zu denken. Die Wagen werden von dürren, klapprigen Gäulen gezogen, kein Vergleich zu den gestriegelten und lebhaften Reitpferden in der Schule. Mir tun die Tiere von der Pferdebahn leid. Aber wenn ich darum bitte, ihnen Zucker geben zu dürfen, lachen mich die Erwachsenen nur aus. Ich werde selten in die Stadt mitgenommen. Meine Welt beschränkt sich auf den Garten und Hof der Schule. Ich bin mit Ordonnanzen und Offiziersburschen befreundet. Im Winter bauen sie mir einen Schneemann, im Frühling bringen sie mir von den blauen Blümchen, die auf der Böschung wachsen. Seltsam, dass es in diesen Riesengebäuden so wenig Kinder gab. Oder erlaubte man mir nur nicht, mit ihnen zu spielen?
Die Familie Domontowitsch galt als fortschrittlich. In ihr war die Atmosphäre dessen zu spüren, was in den siebziger Jahren „europäische Aufklärung“ genannt wurde. In unserem Hause gab es keinen Überfluss, doch achtete meine Mutter auf Ordnung und Sauberkeit. Die Fensterritzen wurden bei uns im Winter nicht zugekittet, wie das in anderen Häusern üblich war, und da die neue Hygiene es vorschrieb, standen die Fenster selbst bei starkem Frost ständig offen. Frische Luft im Zimmer war für die russischen Familien etwas Neues. Mein Vater hatte dauernd Angst, Zug zu bekommen, und teilte Mutters Leidenschaft fürs Lüften nicht. „Eines schönen Tages werden wir alle an Lungenentzündung sterben“, sagte er immer. Doch Mutter lächelte nur.
Meine Mutter führte den Haushalt selbst und hielt uns Mädchen an, unsere Kleider und unsere Leibwäsche in Ordnung zu halten. „Steckt euch bloß nicht die Röcke mit Sicherheitsnadeln fest! Näht euch Knöpfe an! Räumt die Fächer auf!“ Mutter kleidete sich schlicht; sie machte sich nichts aus all dem „Modeklimbim“ wie die anderen Damen und wunderte sich, dass ihre Freundinnen so viel Zeit auf ihre Toilette verwendeten. Sie hatte nur ein einziges Festkleid, aus dunkelrotem Samt. Wenn sie dieses Kleid anzog, wussten wir, dass ein feierlicher Anlass gegeben war.
Die Familie Domontowitsch war, wie ich bereits sagte, für damalige Begriffe eine gebildete Familie. Wie sah nun aber die Lage der Dienerschaft in unserer Familie aus? Zunächst einmal sei gesagt, dass unsere Familie ziemlich groß war. Ich hatte noch zwei Schwestern und einen Bruder; sie waren alle älter als ich und stammten aus der ersten Ehe meiner Mutter. In unserer Familie lebten außerdem noch Tanten und Großmütter, alte Kinderfrauen und Hausangestellte im „Ruhestand“. Bei Tisch waren wir selten weniger als zwölf bis fünfzehn Personen. Personal hatten wir eine Menge im Hause. Lebensmittel waren zu jener Zeit relativ billig, und die Bediensteten erhielten im Monat drei bis fünf Silberrubel. Sie hatten freie Kost, doch wurde in der Küche stets zweierlei Mittagessen zubereitet – eins für die Herrschaft, ein anderes für die Dienerschaft. Den Zucker für Tee oder Kaffee teilte meine Mutter den Dienerinnen stückchenweise zu; diese taten ihn nicht ins Glas oder in die Tasse, sondern lutschten ihn dazu. Natürlich war das Essen für die Dienerschaft viel schlechter als das für die Herrschaften. Im Winter gingen die Dienstmädchen ohne Mantel; sie warfen sich nur einen Schal oder ein billiges Tuch über die Schultern. Im Sommer lief das „Gesinde“ barfuß, denn Schuhwerk war teuer, und für fünf Silberrubel im Monat konnte man sich kaum so etwas leisten. An eine Kammer für sich war nicht zu denken. Selbst Betten gab es nicht für alle, höchstens die Köchin und das älteste Stubenmädchen hatten ein eigenes Bett. Die übrigen schliefen, wo sich gerade Gelegenheit bot – auf ihren dünnen Matratzen in den Korridoren, auf Bänken in der Küche, auf Truhen in den Abstellkammern. Freie Tage hatte die Dienerschaft nicht, und die Arbeitszeit war für sie unbegrenzt. Sie durfte sich nicht beklagen, selbst wenn irgendeine alte Tante ihren Stock gegen sie erhob. Diese alten Tanten und Großmütter konnten nicht vergessen, dass es vor nur fünfzehn Jahren in Russland noch die Leibeigenschaft gegeben hatte, und sie warfen Mutter vor, sie „verwöhne“ die Dienerschaft, denn sie ließ sie nicht bis in die Nacht hinein sinnlos herum sitzen, nur weil es einer der Tanten und Großmütter einfallen könnte, zu irgendeiner Tages- oder Nachtzeit den Samowar aufstellen zu lassen. Und sie verlangte auch nicht, dass man sich erhob, wenn die Herrin die Küche betrat.
So war es um die Dienerschaft selbst im Hause einer Familie mit sogenannter europäischer Kultur bestellt, in einem Hause, wo bei meiner Mutter auf dem Tisch die Zeitschrift Otjetschestwennyje Sapiski lag, wo mit Tränen in den Augen Turgenjews Aufzeichnungen eines Jägers gelesen wurden und Mutter anhand eines Buches des zu jener Zeit berühmten Arztes Dr. Bock auf Hygiene im Haus achtete. Das Buch hieß Auf Ihre Gesundheit!, und ich glaubte immer, es habe etwas mit Niesen zu tun. Und darüber schreibt nun einer ein Buch?!
Mein Vater und meine Mutter entstammten sehr weit voneinander entfernten sozialen Schichten. Mein Vater, Michail Domontowitsch, war Ukrainer und kam aus einer Gutsbesitzerfamilie. Es war eine alte Familie, und Vater interessierte sich sehr für ihren Stammbaum. Das Geschlecht der Domontowitschs geht auf den berühmten Fürsten Dowmont von Pskow zurück, der im 13. Jahrhundert in Pskow herrschte, später Mönch wurde und von der orthodoxen Kirche als Timofej von Pskow heiliggesprochen worden ist. In Pskow gibt es viele Legenden, Lieder und Sagen über die ruhmreichen Feldzüge des Fürsten Dowmont gegen die deutschen Ordensritter, und der Sage nach stand der Fürst beim Volk in hohem Ansehen. Die Gebeine des heiligen Dowmont und sein Sieg bringendes Schwert befinden sich noch heute im Kloster zu Pskow. Vater erzählte immer, dass die Mönche, wenn jemand aus dem Geschlecht Domontowitsch nach Pskow ins Kloster kam, ihm zu Ehren alle Glocken läuteten, und ich habe mir in meiner Kindheit sehnlichst gewünscht, einmal nach Pskow zu kommen, damit dort mir zu Ehren ebenfalls die Glocken geläutet würden.
Mein Vater hatte wie viele ukrainische Adelssöhne die militärische Lehranstalt in Poltawa absolviert und war Offizier in einem der Garderegimenter in Petersburg, im Grenadierregiment, glaube ich, geworden. Die jungen Offiziere jener Zeit führten ein Leben, wie es in den Romanen Tolstois geschildert wird. Damals war es unter den Gardeoffizieren Mode, in die italienische Staatsoper zu gehen. Bei einer Premierenvorstellung begegneten sich mein Vater und meine Mutter zum ersten Mal. Mutter, ihre Schwester Nadja und meine Großmutter waren sehr musikliebend und auf eine Loge in der italienischen Oper abonniert. Viele Opernbesucher hatten ihre Freude am Anblick der „drei Schönen aus dem Norden“, wie sie genannt wurden. Meine Mutter gehörte jedoch nicht jenen mondänen Kreisen an, in denen mein Vater verkehrte. Sie war die Tochter eines einfachen Holzhändlers aus Finnland. Mein Großvater – Sohn eines armen finnischen Bauern aus der Gegend von Nyslott – war als Achtzehnjähriger, wie man mir erzählte, barfuß nach Petersburg gekommen und hatte dort begonnen, Holz aufzukaufen und an die Einwohner Petersburgs wie auch an staatliche Behörden weiterzuverkaufen. In jenen Jahren herrschte in der Stadt rege Bautätigkeit. Der Großvater, mit Namen Alexander Massalin, war offenbar ein energischer, geschäftstüchtiger Mann. Es gelang ihm, in kurzer Zeit durch den Holzhandel ein Vermögen zu erwerben. Nachdem er eine Russin namens Krylowa geheiratet hatte, kehrte er nach Finnland zurück, wo er auf der Karelischen Landenge ein Anwesen erwarb und dort ein wundervolles Holzhaus im Stile Alexander I. baute, ein Haus mit weißen Säulen und einem Altan, das an das Bühnenbild im ersten Akt von Eugen Onegin erinnerte. Das Haus hatte kunstvoll gestaltete Parkettfußböden. Sie zu besichtigen kamen Architekten aus Petersburg und Wiborg.
Großvater Massalin war ein stolzer Mann und erlaubte nicht, dass leichtsinnige Gardeoffiziere seinen schönen Töchtern den Hof machten. Er befürchtete, die russischen Adligen würden auf die Töchter eines einfachen Bauern herabblicken, und suchte daher für meine Mutter einen anderen Ehemann aus – gerade zu dem Zeitpunkt, als mein Vater in den Österreichisch-Ungarischen Krieg ziehen musste. [1]
Erst ein paar Jahre später sahen sich meine Eltern auf einem öffentlichen Ball wieder. Sie verliebten sich auf den ersten Blick leidenschaftlich ineinander, und Mutter bestand darauf, sich scheiden zu lassen, was bei den damaligen Verhältnissen überaus schwierig war. Eine Scheidung konnte sich über viele Jahre hinziehen, hatte man nicht „Beziehungen“ beim Heiligen Synod. Dass sich meine Mutter, die doch drei Kinder von ihrem ersten Mann hatte, zu einer Scheidung entschloss, war für jene Zeit ein sehr mutiger Schritt. Viele verfolgten das Liebesverhältnis meiner Eltern mit Interesse und Sympathie, andere verurteilten sie.
In Erwartung der Scheidung lebten meine Mutter und ihre Kinder in Kuusa auf Großvaters Hof, doch die ganze Affäre nahm ein glückliches Ende: Meine Mutter und mein Vater heirateten und liebten einander bis an ihr Lebensende. Vater überlebte Mutter nur um ein Jahr. Beide starben sie hochbetagt.
Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mich, obwohl sie mich sehr liebhatten, wenig gelobt und nicht verwöhnt haben. Meine Mutter und die englische Erzieherin waren sehr streng. Alles musste seine Ordnung haben. Ich musste mein Spielzeug wegräumen, vor dem Schlafengehen meine Kleidungsstücke ordentlich auf ein Stühlchen legen, mir frühzeitig nicht nur Gesicht und Hände, sondern auch die Ohren selbst waschen, was ich nicht ausstehen konnte, rechtzeitig meine Hausaufgaben erledigen, durfte keine Milch auf dem Tisch verschütten und hatte den Dienstmädchen gegenüber respektvoll zu sein. Das verlangte meine Mutter von mir. Sie sagte immer: „Dein Großvater ist ein einfacher Bauer gewesen. Vergiss das nie.“
Wenn ich meine Suppe oder meinen Milchbrei nicht aufessen wollte, so sprach Mutter mahnend, dass es viele Kinder gebe, die glücklich wären, wenn sie die Hälfte der Speisen bekämen, die ich zurückwies. „Denke daran, wie viele Kinder es gibt, deren Väter im Krieg gefallen sind.“
Ich widersprach nicht, dachte jedoch im Stillen: Sollen sie doch diesen Kindern meinen Brei geben. Warum zwingen sie mich denn, etwas zu essen, was ich nicht mag? Aber die Erwachsenen sind eben sehr dumm – nicht einmal so einfache Probleme können sie lösen.
Meine Mutter führte das Regiment im Hause, und alle in der Familie, selbst mein Vater, gehorchten ihr. Niemand wagte es, gegen ihre Anweisungen zu verstoßen. Ich fügte mich, doch in meinem Innersten rebellierte ich gegen Mutters Vorschriften.
Als der Türkisch-Bulgarische Krieg und der Krieg Russlands gegen die Türkei ausbrach, war ich etwa fünf Jahre alt. [2] Dieses große Ereignis im Leben unseres Volkes wirkte sich auch auf unsere Familie aus. Mein Vater nahm am Krieg teil, und zu Hause wurde nur von Bulgarien gesprochen, von den Gräueltaten der Türken, davon, welch ein Wohltäter doch Zar Alexander II. sei, der sich entschlossen hatte, die rechtgläubigen Bulgaren von den barbarischen Türken zu befreien.
An der Wand im Kinderzimmer hingen Bilder, auf denen Türken dargestellt waren, wie sie kleine Kinder mit riesigen Säbeln abschlachteten. Diese türkischen Soldaten hießen bei uns Baschibusuk – Räuber. Ich hasste und fürchtete sie mächtig. Dafür hing an der anderen Wand ein Porträt des russischen Generals Skobelew auf einem Schimmel, mit der Inschrift, dass der General die bulgarischen Glaubensbrüder befreie ...
Mein Vater wurde im Range eines Obersten des Generalstabs an die Front geschickt. Ich erinnere mich nicht mehr an seine Abreise, doch tief ins Gedächtnis hat sich mir jene Atmosphäre angespannten Wartens eingeprägt, die in unserem Hause danach herrschte. Meine Mutter war oft traurig und besorgt. Sie wartete ständig auf Telegramme, und wenn eins eintraf, rief sie uns alle zusammen, um es vorzulesen. Es kam jedoch vor, dass sie lange Zeit ausblieben, und dann ließen alle im Haus „die Nase hängen“, wie meine Schwestern es nannten. Die Tanten und Großmütter tuschelten untereinander, verstummten aber, sobald Mutter ins Zimmer trat. Sie suchte in solchen Fällen die Zeitung Nowoje Wremja [3], die, wie es hieß, die allerletzten Neuigkeiten brachte. Es kam vor, dass die Tanten und Großmütter die Zeitung vor meiner Mutter versteckten, dann weinte sie. Ich hielt die Großmütter und Tanten für sehr böse und glaubte, sie quälten Mutter absichtlich.
In unserem Hause hassten alle die Türken. Manchmal unterhielt ich mich über sie mit der guten Miss Gudgeon.
„Warum hasst ihr Russen die Türken nur so? Die Türken sind genauso gut Menschen wie wir.“
Doch ich wusste: Das sagt sie nur, weil sie Engländerin ist. England – das hatte ich schon ein paarmal gehört – wünschte nicht, dass Russland mit den Bulgaren Freundschaft hielt. Dennoch fragte ich meine Kinderfrau: „Warum bringen dann die Türken kleine Kinder um und schinden die Bulgaren?“
Darauf antwortete Miss Gudgeon:
„Die Russen sollten lieber einmal schauen, was sich in ihrem eigenen Lande tut. Das russische Volk wird von seinen eigenen Tyrannen nicht minder unterdrückt als das bulgarische.“
Was für Tyrannen? Wo waren sie? Das waren für mich neue Gedanken. Ich bemühte mich, herauszubekommen, wo es Unterdrückung gab, wo Tyrannen.
Ein glückliches kleines Mädchen, das in einer glücklichen Familie lebte. Doch Russland stand im Krieg. In einem Krieg, bei dem es um eine große Aufgabe ging – um die Befreiung der slawischen Brüder vom türkischen Joch. Man sprach vom „heiligen Krieg“, erzählte sich von Freiwilligen. Aus jeder Familie war jemand im Felde ...
Im Lande wurde viel von Politik gesprochen. Patriotische Gefühle flammten auf. Mich interessierte das Wort „Panslawismus“. Was war „Pan“, und was bedeutete „Slawismus“? „Pan“, so erklärten mir die Tanten, sei polnisch und heiße „Herr“, und „Slawismus“ sei eben einfach so ein „Anhängsel“.
Selbst die Nihilisten nahmen Anteil am Krieg. Wer die Nihilisten waren, wusste ich schon. Es waren Studenten, die Brillen trugen und statt des Mantels einen Schal, wie die Köchin Mascha. Und junge Mädchen, die sich die Haare kurz schneiden ließen. Die Großmütter sagten: „Sie bringen sich um die wichtigste weibliche Zierde, um die langen Zöpfe.“ Einmal fragte ich: „Können sie sich denn nicht einen falschen Zopf anhängen?“, worauf sich die Tanten nur entgeistert an den Kopf griffen.
In aller Munde waren die Helden des Krieges. Alle Generäle ritten Schimmel: Gurko, Radetzky und Dragomirow. Der Name Dragomirow ist mir in den darauffolgenden Jahren sehr vertraut und teuer geworden. Mit dieser Familie ist meine erste Liebe verknüpft.
Alle Damen im Bekanntenkreis, ob alt oder jung, strickten Socken oder zupften Charpie.
Es gab viele Karikaturen, die zeigten, wie die Türken an der Front die Flucht ergriffen, sobald russische Truppen auftauchten. Die Belagerung der türkischen Festung Plewna [4] indessen zog sich in die Länge. Das Wort „Plewna“ war von früh bis abends immer wieder zu hören. Welche Fortschritte macht die Belagerung? Wo stehen die Türken jetzt? Wo verläuft unsere Front?
Meine Mutter war zornig. Die Intendanten hatten schon wieder einmal die Ausrüstung beiseite geschafft, sie nutzten das Unglück des Volkes aus, um sich zu bereichern. Ob wohl der Krieg bald zu Ende war? Würde Michail Alexejewitsch bald nach Hause kommen?
Der Winter 1877/78 war sehr kalt. Die Schlacht am Schipkapass [5] dauerte an. Riesige Transporte mit Verwundeten trafen ein, die in den Unterrichtsräumen der Kavallerieschule untergebracht wurden. Und Mutters Freundinnen, die Offiziersfrauen, fuhren in ihren feschen Hüten, die mit einem Samtband unterm Kinn festgehalten wurden, zum Bahnhof, um die Verwundeten abzuholen.
Meine Mutter machte sich Sorgen um Vater, der Kälte nicht vertragen konnte und sich immerzu nach der ukrainischen Sonne sehnte. Mein Vater befand sich im Hauptquartier Tscherkasskis, und das war bekanntlich immer in den vordersten Linien anzutreffen.
Eines Abends kam ein Offizier von der Front zu uns. Er war am Arm verwundet und trug ihn in einer schwarzen Binde. Bis spät in die Nacht hinein blieb er und berichtete vom Leben an der Front. Meine Mutter, meine Schwestern und die Alten saßen da und hörten ihm zu. Was er erzählte, war nicht gerade lustig. Er schilderte, wie die Soldaten an der Front erfroren und wie schlecht der Nachschub organisiert war. Wer nur irgendwie konnte, stahl Heeresgut. An der Front rafften Krankheiten mehr Soldatenleben hinweg als die Kugeln. Die materielle Versorgung erfolgte ständig mit Verspätung, unsere Generäle aber gaben sich dem Kartenspiel hin und betranken sich mit Champagner. Es gab keine Ärzte, die Verpflegung war verdorben. Auch die Versorgung mit Kriegsmaterial klappte nicht.
Ich fragte: „Gibt es dort viele Schimmel?“ Der Offizier lachte nur. „Ach du liebe Güte! Wir sind schon über Schindmähren froh, die uns die Kanonen ziehen.“ Ich hörte zu, bis ich einschlief. Was der Offizier da erzählte, hatte mir nicht gefallen.
In unserem Hause und in allen anderen Gebäuden der Kavallerieschule herrschte freudige Erwartung und Aufregung. Die Dienerschaft wurde geschickt, Kerzen zu kaufen. Die Stadt sollte illuminiert werden, denn es wurde gemunkelt, Osman Nuri Pascha wolle sich ergeben und Plewna stehe vor dem Fall. Doch abends kam die Anordnung, dass nicht illuminiert würde. Die Gerüchte über den Fall Plewnas hatten sich nicht bestätigt. Meine Mutter ging von Zimmer zu Zimmer und nahm die Kerzen aus den Fenstern, die für die Illumination angezündet werden sollten. Sie legte sie sorgfältig ins Büfett.
Plewna fiel aber schließlich doch. Osman Nuri Pascha kam selbst mit seiner Armee aus der Festung und erklärte sich zur bedingungslosen Kapitulation bereit. Das war am 28. November 1877, und am Abend dieses Tages brannten in allen Fenstern von Petersburg Kerzen. Ich brauchte nicht zur gewohnten Zeit schlafen zu gehen, sondern durfte mir die Festbeleuchtung ansehen und die Begeisterung des Volkes erleben. Nur dass ich vom Fenster unseres großen Esszimmers aus keinerlei Volk sah, außer einigen wenigen betrunkenen Männern, die von der Polizei ins Revier abgeführt wurden!
Von den Erwachsenen sagten die einen: „Das war ein großer Tag.“ Die anderen fügten allerdings hinzu: „Aber wir haben einen hohen Preis für Plewna zahlen müssen – 40.000 Tote und viereinhalb Monate Belagerung.“
Zwischen Russland und der Türkei hatte es viele Kriege gegeben [6], und man hielt die Zeit für reif, dass mit den Türken in Europa aufgeräumt würde, doch England und da vor allem Disraeli hatten nichts für eine Expansion Russlands übrig. Ja, mehr noch: England widersetzte sich Russland ganz entschieden, das hoffte, die Dardanellen in seine Hand zu bekommen. Dadurch wären die Verbindungen Russlands zu Asien erleichtert worden, wo bisher England Alleinherrscher gewesen war.
England hatte damals in der Balkanfrage in der österreichischen Monarchie einen Bundesgenossen. Österreich wünschte, einen Teil der Mittelmeerküste für sich zu erhalten. Disraeli schloss daher ein offenes Bündnis mit Österreich und ein geheimes mit der Türkei. Gladstone, der Führer der Liberalen, war ein Gegner der Politik Disraelis. Die englischen Liberalen sympathisierten mit Bulgarien und vertraten die Auffassung: Soll sich doch Russland für die Befreiung Bulgariens schlagen, wir werden dann schon sehen. Disraeli hingegen hoffte, er könne Türken und Russen gleichzeitig (natürlich insgeheim) die Freundeshand reichen. Es gab Zeiten in Petersburg, da hieß es, England sei bereit, uns gegen die Türken zu helfen. Doch als die Verhandlungen zwischen der sogenannten Pforte und Russland begannen, entsandte England zur Unterstützung der Türken ein Geschwader nach Malta. Daraufhin schraubten die Türken ihre Forderungen bei den Verhandlungen mit Russland gleich höher, obwohl doch eigentlich Russland diesen Krieg gewonnen hatte.
Nachdem im März 1878 in San Stefano der Waffenstillstand unterzeichnet worden war, bestand Disraeli auf eine Revision desselben, da er Russland zu viele Rechte in Bezug auf Bulgarien einräume. Die Nihilisten aber rissen ihre Witze, denn sie sahen in dem Fehlschlag der russischen Politik ein eindeutiges Zeichen für die Ohnmacht des Zarenregimes. „Ein gewonnener Krieg und ein ehrenvoller Frieden, nur nicht für uns, sondern für England.“
Jede Woche kamen Arbeiter, zumeist fünfzehn- bis sechzehnjährige Jungen, um die Fußböden in den großen Zimmern unserer Dienstwohnung zu bohnern. Diese Jungen wurden meine ersten Freunde.
Ich sah ihnen sehr gern bei der Arbeit zu – mir schien immer, sie machten Tanzschritte. Ich kletterte auf Vaters Bücherschrank oder auf die Anrichte und hatte meinen Spaß an ihren behenden Bewegungen. Die größte Freude bereiteten mir jedoch die Gespräche mit den Bohnerleuten.
Sie unterhielten sich mit mir wie mit einer Erwachsenen – fragten mich nach dem Krieg, erkundigten sich nach meiner Meinung, wann er zu Ende sein würde, ob Plewna fallen und ob es den russischen Soldaten gelingen würde, den Schipkapass zu halten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich ihnen zur Antwort gab, doch weiß ich noch sehr wohl, dass die Jungen von den Zarengenerälen niemals wie von Helden sprachen und, wenn der Name Skobelew fiel, keine Tränen vergossen wie die Großmütter und Tanten. Sie sprachen von den Soldaten, von den Bauern, denen der Zar befohlen hatte, in den Krieg zu ziehen, und die von ihrer Scholle Abschied nehmen mussten, von ihrer Mutter, die weinte und vielleicht bald Hungers sterben würde, von der Kuh, die eingehen könnte, weil kein Futter da war. Im Dorf gab es keine Männer mehr, die die Ernte einbringen konnten. All das war sehr traurig, und ich hätte den Bohnerleuten zu gern geholfen, damit die Mutter satt würde und die Kuh nicht stürbe.
Am meisten gefiel mir, dass die Bohnerjungen nicht ihre Scherze mit mir trieben. Sie redeten mich mit „Fräulein“ an, so, wie auch meine Schwestern angeredet wurden, und das imponierte mir. Ich war demnach schon erwachsen. Wenn ich mit den Jungen gesprochen hatte, kamen mir immer viele neue Gedanken, und ich begriff nicht, warum mich die Erwachsenen auslachten und sagten: „Geh nur zu deinen Freunden, den Bohnerjungen, Schura.“ Natürlich waren sie meine Freunde, nicht so etwas wie diese alten Großmütter und Tanten, die ich richtig satt hatte.
Eines Tages kam einer der Jungen, der Spaßvogel Andrjuscha, den ich von allen am liebsten mochte, nicht mit. Ich fragte: „Warum kommt er denn nicht?“ – „Er ist tot.“ Das konnte ich nicht begreifen. „Wieso ist er denn tot?“
„Weil sein Kaftan so sehr abgetragen war, und wenn man vom Bohnern schwitzt und Zug abbekommt, ist man, ehe man sich’s versieht, im Jenseits.“
„Aber warum hatte er denn keinen Kaftan?“
„Weil eben die einen“, antworteten mir die Jungen, „in Gold und Silber gekleidet sind und die anderen nur in Lumpen.“
Bald darauf kam mein Vater von der Front zurück. Das muss gewesen sein, als er zum Generalmajor befördert worden war und irgendwohin fahren sollte, um „sich vorzustellen“. Die ganze Familie hatte sich im Arbeitszimmer versammelt, um den frischgebackenen General mit den goldenen Epauletten und Orden zu bestaunen. Da passierte etwas Merkwürdiges. Als ich all das Gold an Vaters Uniform erblickte, kamen mir die Worte meiner Freunde, der Bohnerjungen, in den Sinn: „Die einen sind in Gold und Silber gekleidet, die anderen in Lumpen.“ Ich fiel Vater nicht wie sonst um den Hals, sondern blieb in der Tür stehen. Die Erwachsenen ringsum sagten: „Sieh doch, wie schmuck Vater aussieht, und all das Gold!“ Ich wollte weglaufen, musste aber dableiben. „Das ist überhaupt nicht mein Papa! Warum hast du so viel Gold an dir, Papa? Zieh doch deinen grauen Rock an! Ich hasse das Gold.“
Keiner der Erwachsenen begriff, was ich damit sagen wollte. Die Tanten brummelten, ich wäre eben ein Dickkopf, während Mutter meinte, ich hätte Fieber und müsste schnellstens zu Bett. Meine Schwestern wollten mich zum Lachen bringen, aber da fing ich an zu weinen. Wie sollte ich ihnen auch erklären, warum ich das Gold hasste?
Ich wurde ins Bett gepackt und musste Rizinusöl schlucken ...
Nach dem Frieden von San Stefano sagten sich meine Eltern, dass die Familie Domontowitsch nun endlich nach Bulgarien fahren könne. Mein Vater war nämlich zunächst zum Gouverneur von Tarnowo und dann zum Kanzleichef beim russischen Statthalter in Bulgarien (1878–1879) ernannt worden.
So reisten meine Mutter, meine Schwestern, Miss Gudgeon und ich nach dem Süden. Unterwegs nach Bulgarien machten wir auf der Krim, in Jalta, Station und wohnten in dem herrlich gelegenen Haus des bulgarischen Statthalters Dondukow-Korsakow. Ich erinnere mich noch genau an den Garten mit den Rosen und Magnolien sowie an die weinumrankte Veranda, wo an den Reben schon reife Trauben hingen.
Nach Bulgarien gelangten wir auf einem Kreuzer. Kapitän dieses Kreuzers war Admiral Makarow, der sich später im Russisch-Japanischen Krieg einen Namen machte.
Der Kaffee wurde auf dem Kreuzer in hübschen türkischen Kaffeeschälchen gereicht. Diese Schälchen gefielen mir sehr, und ich habe offenbar darum gebeten, eines davon behalten zu dürfen. Meine Mutter sagte mir, ich müsse diese Tasse aufheben, da sie historischen Wert besitze. Sie hatte einem türkischen Pascha gehört.
Ich weiß heute nicht mehr, ob uns mein Vater bei der Ankunft in Bulgarien abgeholt hat. Das Balkangebirge mussten wir zu Pferde, mit Soldaten als Schutzgeleit, überqueren. Zwar war der Krieg offiziell zu Ende, doch die Gefechte zwischen bulgarischen Partisanen und Türken dauerten an. Hin und wieder mussten wir haltmachen und warten, bis irgendwo in den Bergen eine Schießerei aufhörte. Miss Gudgeon gab uns währenddessen belegte Brote zu essen und Bonbons von Landrin, die wir sehr mochten.
Eine Zeitlang reisten wir zusammen mit dem Oberkommandierenden der russischen Armee, Totleben, und dessen Stab. Da an einer Stelle eine Brücke, die über einen reißenden Gebirgsfluss führte, gesprengt war, mussten wir warten, bis man sie repariert hatte. Totleben nahm mich auf die Schultern und trug mich über die stark schwankende Brücke. Als wir uns wieder in unsere Kalesche setzten, sagte meine Mutter mit ernster Miene zu mir:
„Du darfst dieses wichtige Ereignis in deinem Leben nie vergessen. Der Oberkommandierende persönlich hat dich über den Fluss getragen.“
„Warum darf ich das nicht vergessen?“ Schließlich hatten mich schon oft Offiziere und Soldaten bei verschiedenerlei Beschwernissen unserer Reise auf ihren Schultern getragen. Mir gefiel jedoch sein Name, diese ulkige Verbindung von „tot“ und „Leben“, weshalb ich ihn auch nicht vergaß.
Wir lebten in Sofia, der Hauptstadt des befreiten Bulgarien. Sofia glich eher einem großen Dorf, mit seinen staubigen Straßen und ebenerdigen Häusern, doch um die Häuser gab es viele Gärten. Die Familie Domontowitsch wohnte in einem zweigeschossigen Haus, ebenfalls mit einem Garten. Dieser Garten war zwar sehr verwildert, doch es standen wundervolle alte Bäume und Rosensträucher darin. Von unserem Haus und vor allem von dem Zimmer aus, in dem ich zusammen mit meiner englischen Kinderfrau wohnte, waren die weißen, schlanken Silhouetten der türkischen Minarette vor den violett schimmernden Hängen des Witoscha im Hintergrund zu sehen. Durch die Täler zogen Schafherden, die von Hirten in malerischen Trachten geweidet wurden. All das war neu für mich und gab mir Stoff zum Nachdenken und Entdecken.
Sofia gefiel mir auf den ersten Blick. Ein großes, fast leeres Haus. Niemand schimpfte mich aus, dass ich an die Möbel stoße und Unordnung mache, denn Möbel gab es nur wenig. Doch ganz besonders behagten mir der Garten und die kleine Gasse gleich neben dem Haus, wo es so zauberhafte Dinge wie kleine Eselchen zu sehen gab.
Hier in Sofia begann sich mein Charakter zu formen.
Er hieß Sascha. Ein blasser, kleiner Junge, alles andere als schön, mit blondem Haar und farblosen Augen. Er trug hohe russische Stiefel, die ihm zu groß waren. Die Kinder der anderen russischen Familien konnten ihn nicht leiden. Sie hänselten und zwackten ihn, und wenn er dann schrie, sagten sie zu ihm: „Angsthase, Feigling, du bist eben der Sohn vom Doktor, kein Offizierssohn, deshalb bist du auch ein Feigling. Wir aber sind Offizierskinder.“
Das versetzte Sascha in Wut. Mit seinen kleinen Fäusten ging er auf die heraus staffierten Jungen aus den Offiziersfamilien los, was dann unvermeidlich mit einer Schlägerei endete.
Mir tat Sascha leid, und ich nahm ihn in Schutz. Saschas Mutter war gestorben, so dass sich niemand richtig um ihn kümmerte. Miss Gudgeon nahm ihn oft mit zu uns, um ihn selbst in einem Zuber zu schrubben und um seine Sachen zu waschen. Es wurden ihm Strümpfe von mir angezogen, er wurde gekämmt und bekam ein Glas Milch. Dann spielten wir zusammen. Ich dachte mir Spiele aus, und er tat, was ich sagte. Wenn jedoch andere Jungen von der Straße hinzukamen, ging das Spiel stets mit einer Rauferei, mit Tränen und blauen Flecken aus, vor allem dann, wenn es Jungen aus gutsituierten Familien waren – der Wildfang Petja Rschewuski mit seiner schmucken hellblauen Krawatte, der Raufbold Sascha Gresser, Sohn des Polizeichefs von Sofia, und der hübsche Ninisch Scheweljow, der mit seinem langen, lockigen Haar einem Mädchen glich, ein stiller und gutmütiger Junge, aber wenn Sascha mitspielte, versuchte auch er, diesen zu piesacken und den „Quacksalbersohn“ zu kränken. Ich stritt mich mit den Jungen und verteidigte Sascha. Bisweilen griff ich zu einer List.
„Hört mal, was ich mir ausgedacht habe. Ein ganz neues Spiel. Phantastisch! Kommt mal mit zu der Kastanie dort, da sage ich euch, was ich mir ausgedacht habe.“
Mitunter half die List, doch eben nicht immer. Einmal hatte sie wiederum nichts genützt, die Jungen hänselten Sascha, und es kam zur Rauferei. Sie warfen Sascha zu Boden und gingen auf ihn los. Selbst der stille Ninisch mit seinen kleinen Füßen, die in Mädchenschuhen steckten, versuchte, dem am Boden Liegenden einen Tritt in die Seite zu versetzen.
Ich prügelte mich eigentlich nicht gern herum, aber diesmal konnte ich nicht mehr an mich halten, gebrauchte meine Fäuste – und siegte.
Sascha und ich triumphierten. Die Jungen liefen heulend auseinander, ich hatte ihnen die Gesichter zerkratzt, und ihre Hände bluteten – eine Siebenjährige kann eben ganz gut beißen, wenn es sein muss.
Miss Gudgeon war entsetzt, als sie mein zerrissenes Kleid und mich selbst zerschrammt und voller blauer Flecken erblickte.
„Wie siehst du denn aus, Schura! Du bist doch schließlich eine kleine Dame und kein Gassenjunge. Dass mir das nicht noch einmal vorkommt!“
Am meisten hatte indessen Sascha abbekommen. Ihm mussten Arm und Bein verbunden werden, und er weinte. Beim Verbinden streichelte ich ihm über den Kopf.
„Weine nicht, Sascha. Sie sind eben gemein. Du wirst schon sehen: Es kommt der Tag, da werden du und ich mit ihnen abrechnen.“
Viele Jahre vergingen. Ich beteiligte mich aktiv an der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917. Unter den von unserer Regierung verhafteten zaristischen Offizieren fand ich einige mir einst vertraute Namen – Graf Pjotr Rschewuski, General Scheweljow und andere ...
Unwillkürlich fielen mir unsere Raufereien im Garten an dem Haus in Sofia ein und Sascha, der Sohn vom Doktor ...
In Sofia kam ich erstmals mit Fragen des Internationalismus in Berührung. Meine Entdeckungen machte ich dabei im Zusammenhang mit einem schmutzigen Eselchen.
Dieses Eselchen gehörte mir, wie meine Schwestern sagten. Wer hatte es mir eigentlich geschenkt? Auf jeden Fall nicht mein Vater. Er schenkte weder den Großen noch uns Kindern jemals etwas. Ich glaube, den Esel hatte mir Vaters Sekretär, der Bulgare Slowejko, der immer sehr nett zu mir war, zum Geschenk gemacht. Wenn er mir guten Tag sagte, reichte er mir die Hand, nicht so wie die anderen Erwachsenen, die mich gar nicht bemerkten, weil ich ja nur ein kleines Mädchen war.
Slowejko unterhielt sich mit mir darüber, warum und wie es zum Krieg gekommen war und wie die Türken die Bulgaren unterdrückt hatten, bis die russischen Brüder ihnen zu Hilfe gekommen waren. Mir gefiel sehr, wenn Slowejko von den russischen Brüdern sprach. Er war der Sohn eines Bulgaren, den die Türken gehenkt hatten. Warum, wollte ich wissen.
Slowejko erklärte es mir: „Weil er für die bulgarische Armee als Kundschafter tätig gewesen ist, war er für die Türken ein Verräter.“
All das war mir nicht so ganz klar, aber ich hasste die Türken, vor allem weil sie den Vater eines so guten Menschen wie Slowejko aufgehängt hatten ...
Für mein Eselchen hatte ein bulgarischer Junge zu sorgen, der sich auch um die Pferde kümmerte; er verachtete es, und einmal sah ich, wie er mit dem Stiefel nach ihm trat. Ich stürzte zu meinem Eselchen hin, um es vor ihm zu beschützen.
Slowejko und ich trafen eine Abmachung. Wir würden den Jungen in sein Dorf zurückschicken und mein Eselchen dem alten Türken in Obhut geben, der unseren Garten in Ordnung hielt. Dieser Türke hatte eine große Familie und war sehr arm. Ich fragte Slowejko, ob sich der Türke denn überhaupt richtig um mein Eselchen kümmern könnte. Slowejko beruhigte mich:
„Aber gewiss kann der Türke ordentlich für das Eselchen sorgen – er ist ein ehrlicher Mann.“
„Aber er ist doch Türke.“
„Die armen türkischen Bauern haben unter dem türkischen Joch ebenso zu leiden wie die Bulgaren. Die armen Leute, Bulgaren wie Türken, werden von den reichen Türken gleichermaßen unterdrückt.“
Meine erste Schlussfolgerung lautete: Also sind nicht alle Türken Ungeheuer.
Und die zweite Schlussfolgerung: Die armen Leute, ob Türken oder Bulgaren, werden von den Reichen gleichermaßen gepeinigt.
Der Türke, der für unseren Garten sorgte, erwies sich als sehr zuverlässig. Er fütterte die Pferde und mein Eselchen besser. Ich freundete mich mit ihm an. Oft spielte ich mit seinen kleinen Söhnen und lernte von ihnen komische Wörter – türkische Wörter. Es dauerte nicht lange, da verstand ich sie.
So fing ich an, über die nationale Frage und die Klassengegensätze Klarheit zu gewinnen ...
Die Erwachsenen hatten in Sofia wenig Zeit, auf mich aufzupassen, was einfach wundervoll war. Ich genoss die Freiheit. Meine Mutter und Miss Gudgeon waren mit dem Haushalt befasst. Wir hatten immerzu Gäste, zum Mittag- wie zum Abendessen. Dabei gab es in dem vom Krieg zerrütteten Land noch Probleme mit den Lebensmitteln. Miss Gudgeon klagte häufig über die Schwierigkeiten. Aber Mutter war guter Dinge und wollte, dass die russische Kultur in Bulgarien Spuren hinterließe. Sie bildete ein Komitee bulgarischer Frauen für die Einrichtung von Mädchenschulen. Tatsächlich wurde die erste höhere Mädchenschule in Sofia auf ihre Anregung hin gegründet.
Bulgarische Frauen kamen oft zu uns. Gewöhnlich gingen sie schwarz gekleidet und trugen Kopftücher, keine Hüte. Alle waren sie sehr ernst und schweigsam. Sie nahmen auf den Stühlen Platz, die im Esszimmer an den Wänden standen. Meine Mutter und eine der Bulgarinnen saßen am großen Tisch in der Mitte des Zimmers. Die bulgarischen Frauen sprachen untereinander bulgarisch, und eine von ihnen übersetzte ins Russische, was sie sagten.
Das Gespräch drehte sich fast immer um Schulen für Mädchen. Das gefiel mir, und ich wollte selbst sehr gern eine solche Schule besuchen. Meine Mutter musste mir versprechen: „Wenn das Gymnasium kommenden Herbst eröffnet wird, lasse ich dich die Vorbereitungsklasse besuchen. Dann wirst du Bulgarisch lernen. Man soll möglichst viele Sprachen können, das kann nur von Nutzen sein.“
Ich war noch keine sieben, sprach aber schon fließend englisch, französisch und deutsch.
So interessierte ich mich also für das erste Lyzeum in Bulgarien. Ich fand, dass Mutter große Geduld mit den bulgarischen Damen hatte, die jedes Mal von ein und demselben sprachen – wie das Schulgebäude beschaffen sein würde, welche Lehrer an der Schule unterrichten würden, wer die Lehrer bezahlen und wer die Bücher und alles übrige besorgen sollte. Meine Mutter gab immer und immer wieder Erklärungen, und die Bulgarin, die mit am Tisch saß, schrieb alles auf. Manchmal fuhr ein Windstoß durchs Fenster und fegte die Zettel durchs ganze Zimmer. Das war für mich der Augenblick, aufzuspringen und rasch die Zettel aufzuheben. Ich tat das mit großem Vergnügen. Mir schien, ich hülfe dadurch, die Schule für die Mädchen mit zu bauen, und befolgte so Mutters Rat, dass „bei dieser Sache alle mithelfen müssen, und sei es auch nur in Kleinigkeiten“.
Abends hingegen hatten wir andere Gäste. Es waren meistens Freunde meiner Mutter und meiner Schwestern, die Rollen lernten und Liebhaberaufführungen für wohltätige Zwecke, zur Unterstützung von Waisen und Witwen, einübten. Meine beiden Schwestern galten als die wichtigsten Darstellerinnen, besonders Schenja mit ihrem schönen hohen Sopran. Ich mochte es sehr, wenn bei uns Theaterproben stattfanden. Betrüblich war nur, dass Miss Gudgeon mir selten erlaubte, bis zum Schluss der Probe aufzubleiben, sondern mich in den meisten Fällen zur festgesetzten Stunde schlafen schickte.
Für meine Schwestern war es überhaupt amüsant in Sofia. Später sagten sie oft, die Jahre in Sofia seien die schönsten in ihrem Leben gewesen: Theatervorstellungen, Picknicks, Tanzveranstaltungen, Reitpartien in die Berge und viele junge Offiziere, die ihnen den Hof machten. Ich bewunderte meine Schwestern, wenn sie in ihren langen blauen Reitkleidern auf den Stufen zum Haus darauf warteten, dass die gesattelten Pferde vorgeführt wurden. Die Offiziere halfen meinen Schwestern, so dass sie sich mühelos in den Damensattel schwangen. Inmitten ihrer Kavaliere galoppierten sie in Richtung Berge davon, während ich auf der Vortreppe zurückblieb und mich tief unglücklich fühlte. Ich beneidete sie um die schönen Pferde und die eleganten Reitkleider. Warum durften nur die Erwachsenen in die Berge reiten und sich vergnügen?
Niedergeschlagen ging ich in den verwaisten Pferdestall, wo mein graues Eselchen verlassen stand. Ich presste meine Wange an seinen Kopf, der sich weich und wuschelig anfühlte, legte die Arme um seinen Hals und flüsterte ihm ins Ohr: „Du weißt ja, dass ich dein Freund bin und dich sehr gern habe, aber warum bist du bloß kein Pferd?“
Mein Vater war noch mehr beschäftigt als meine Mutter. Wir sahen ihn nur selten. Tagsüber war er in der Kanzlei des Statthalters. Wenn Vater zu Hause blieb, so bedeutete dies, dass namhafte Bulgaren zu ihm kommen würden, um sich mit ihm „in wichtigen Angelegenheiten“ zu beraten. Professor Drinow war von kleinem Wuchs und trug einen Spitzbart. Seine lebhaften schwarzen Äuglein huschten die ganze Zeit im Zimmer umher, wenn er sprach. Er rieb sich in einem fort die kleinen weißen Hände und verbeugte sich tief vor allen, die ins Zimmer kamen, sogar vor mir.
Auch zwei in Bulgarien bekannte fortschrittliche Männer, wie mein Vater sagte, Zankow und Karawelow, gingen bei uns aus und ein. Ihr Kommen erfreute meinen Vater am meisten, und er lief ihnen jedes mal schon entgegen. Er nahm sie freundschaftlich bei den Schultern und geleitete sie in sein Arbeitszimmer. Aber wenn Zankow oder Karawelow bei ihm waren, schloss er unbedingt die Tür seines Arbeitszimmers und sagte selbst zu mir: „Geh nur, geh, Schurinka.“ Ich wusste, dass sie jetzt Wörter wie „Nationalversammlung“, „verfassungsmäßige Garantien“, und „neue Ordnung“ gebrauchen würden. Manchmal strich mir Vater, bevor er in die Kanzlei ging, über den Kopf und fragte mich mit zerstreuter Miene: „Bist du gern in Sofia?“ Ich bejahte, worauf er lächelte und sagte: „Fein, dass es dir in Sofia gefällt.“ Aber mir entging nie, dass er meine Antwort gar nicht vernahm. Mein Vater dachte immer an etwas anderes, wenn er mit mir oder meinen Schwestern sprach. Es war, als existierten wir überhaupt nicht für ihn.
Die Theateraufführungen, bei denen meine Schwestern mitwirkten, durfte ich nur selten besuchen, aber einmal nahm mich Mutter doch in ein neues Stück mit, in dem meine Schwester Adele die Hauptrolle spielte. Die arme Adele wollte in dem Stück einen jungen Mann heiraten, doch die böse Tante, bei der sie wohnte, versuchte, das mit allen Mitteln zu verhindern.
Ich saß ganz vorn unter dem übrigen Publikum. Miss Gudgeon hatte hinter der Bühne zu tun, denn sie half den Schwestern beim Anziehen der Kostüme.
In dem Stück nun schloss die böse Tante Adele ein, damit sie nicht zum Stelldichein mit ihrem Bräutigam gehen konnte. Adele weinte laut und bitterlich und schimpfte auf die Tante. Da bekam ich großes Mitleid mit Adele. Genauso hatte sie geweint, als ein Hund ihr Kätzchen in Stücke gerissen hatte. Ich hielt es nicht mehr aus, kletterte auf die Bank und rief Adele mit lauter Stimme zu:
„Adele, Adele, wein doch nicht. Hör nicht auf diese alte Hexe. Sie lügt ja. Du glaubst, sie hat dich eingesperrt? Das stimmt nicht. Ich habe genau aufgepasst. Sie hat gar keinen Schlüssel gehabt. Sitz doch nicht da und weine, geh lieber zur Tür und stoß mal richtig dagegen. Da geht sie von allein auf, und du trittst in die Freiheit hinaus und wirst glücklich.“
Die Zuschauer sahen zunächst erstaunt auf die kleine Person im blauen Kleid mit dem weißen Kragen, die da auf die Bank gestiegen war und der Schauspielerin Ratschläge erteilte, doch als ich Adele vorschlug, sie solle sich selbst befreien und in die Freiheit hinaustreten, lachten sie los und spendeten lauten Beifall. Die Worte „in die Freiheit hinaustreten und glücklich werden“ waren nämlich damals die Losung des bulgarischen Volkes. Ich achtete nicht auf den Beifall, setzte mich ganz ruhig wieder hin, zog mein Kleid glatt und schickte mich an, weiter zuzusehen.
Nach der Aufführung wurde meine Mutter von vielen gefragt, ob ich Gesangsunterricht nehmen würde, denn ich hätte eine sehr klare, voll tönende Stimme. Doch Mutter sagte, ich sei nicht musikalisch. Seitdem wurde ich nicht mehr zu Theateraufführungen mitgenommen.
Meine erste Freundin hieß Soja. Freunde wurden wir in Sofia. Unsere Freundschaft war fürs Leben und endete erst mit Sojas Tod, kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges. Gemeinsam machten wir die Revolution mit, überstanden wir die Jahre der politischen Emigration, halfen wir unserer großen Partei, den Grundstein für das gewaltige Werk, die Sowjetunion, zu legen.
Soja war für mich nach meinem Sohn der liebste Mensch ml Erden.
Wo sind wir uns eigentlich das erste Mal begegnet? Ich glaube, bei einer Neujahrsfeier in Sofia. Soja hatte zwei kleine Schwestern. Die jüngere der beiden, Vera, wurde später verdiente Künstlerin (Vera Jurenewa). Die drei Mädchen wohnten in Sofia in einem bescheidenen kleinen Haus, ihr Garten grenzte an unseren.
Sojas Vater – er hieß Schadurski – gehörte dem Kriegsgericht an. Ihre Mutter war noch recht jung. Sie hatte mit fünfzehn Jahren geheiratet und war in Sofia nicht mit meiner Mutter, sondern mit Adele und Schenja befreundet. Meine Mutter verhielt sich ihr gegenüber, als sei sie eine ihrer Töchter. Manchmal schimpfte sie mit ihr, meistens erteilte sie ihr jedoch Ratschläge.
Sojas Mutter gab sich kaum mit ihren Töchtern ab. Sie wirkte bei Liebhaberaufführungen mit, ritt mit meinen Schwestern zu Picknicks und ging mit ihnen in den Offiziersklub tanzen.
Ich freundete mich sehr rasch mit Soja an. Bisher hatte ich stets mit Jungen spielen müssen. Aber Jungen prügeln sich gern, und das war nicht immer gerade angenehm. Mit Soja dagegen konnte ich mich unterhalten. Sie konnte schon lesen und las ohne fremde Hilfe in den Zeitungen all das, was mit Großbuchstaben geschrieben stand. Soja erzählte mir auch von Politik. Viele Wörter, die ich aufgefangen hatte, deren Sinn ich jedoch nicht verstand, erläuterte sie mir.
Soja hatte ein richtiges hübsches Kindergesichtchen, rosige Wangen, große braune Augen und schimmerndes kastanienbraunes Haar. Sie wusste sich immer neue, interessante Spiele auszudenken, bei denen man ungeheuer tapfer sein und alle bösen Menschen und Feinde töten musste. In den Spielen verteidigten wir stets die Armen und traten für Gerechtigkeit ein. Soja war überhaupt ein mutiges Mädchen, und selbst die Straßenjungen hatten Respekt vor ihr. Sie kletterte auf die höchsten und gefährlichsten Bäume und riss nie aus, wenn eine Herde Kühe daherkam.
An jenem Tag, der mir im Gedächtnis haftengeblieben ist, spielten wir nicht. Wir unterhielten uns und dachten nach, wie wir das nannten. Ich mochte den Erwachsenen nicht mit Fragen lästig fallen, zumal mich ihre Antworten selten zufriedenstellten. Soja hingegen fragte ich nach allem, was ich nicht verstand. Mir schien, dass Soja alles wüsste. Sie erzählte mir vom Mond, dass dieser genauso ein Planet sei wie die Erde, nur schon erkaltet, und von den Negern in Amerika, die wie Sklaven gehalten würden, aber Präsident Abraham Lincoln habe denjenigen, die für die Sklaverei waren, den Krieg erklärt. Soja erzählte mir auch von einem verwegenen Italiener mit rotem Hemd, der Partisanen um sich geschart und Italien von den österreichischen Unterdrückern befreit hatte. Er hieß Garibaldi.
Sehr gefiel mir, dass sich Soja mit ihrem Vater unterhielt, als sei sie ebenfalls erwachsen. Sojas Vater hörte seiner Tochter zu, wenn sie mit ihm sprach, und antwortete freimütig auf ihre Fragen. Soja begleitete ihren Vater jeden Tag zur Arbeit, da fragte sie ihn nach allem möglichen.
Ich bewunderte Soja, weil sie so viel wusste. Als wir einmal auf unserer selbstgebauten Schaukel saßen, entschloss ich mich, Soja zu fragen, was eine Verfassung sei. Soja antwortete, ohne erst lange überlegen zu müssen:
„Die Verfassung ist so ein blaues Heft. Es liegt bei meinem Vater auf dem Tisch, und darin stehen alle Verordnungen, nach denen die Bulgaren leben sollen, damit sie frei werden und glücklich sind. Vater hat mir das alles erklärt. Die Türken haben alle bulgarischen Gesetze vernichtet, doch die Russen haben den Bulgaren diese Gesetze zurückgegeben, und jetzt werden die Russen in der Nationalversammlung den Bulgaren das blaue Heft schenken, und die Nationalversammlung wird so leben, wie es in der Verfassung steht, und alle werden sich an die Regeln halten, die dort aufgeschrieben sind.“
Ich konnte nicht so recht glauben, dass sich alle an die Regeln halten würden, die in dem blauen Heft standen. Mir kam Slowejkos Kritik in den Sinn, doch Soja versicherte, dass Regeln und Gesetze ein und dasselbe seien. Soja sagte: „In dem blauen Heft sind sehr gute Regeln.“ So hatte sie es von ihrem Vater gehört.
In unserem Hause wurde sehr viel von der bulgarischen Verfassung gesprochen und so manches Mal darüber gestritten. Meine Mutter sagte, die gesamte Vorbereitungsarbeit für die Verfassung habe Vater geleistet, und sie freute sich, dass er als Vorbild die finnische Verfassung genommen hatte. Ich konnte mich nur schwach an Finnland erinnern, wusste aber noch, das sich Großvaters Anwesen in Kuusa befand, dass dort wundervolle, süße Himbeeren wuchsen und dass es auch einen schönen großen Garten gab, wo man Verstecken spielen konnte. So stimmte ich meiner Mutter zu, denn ich dachte mir, dass die bulgarische Verfassung bestimmt gut sein müsse, wenn sie Großvaters Hof glich.
Einmal sagte Slowejko zu mir:
„Bald wird der Verfassungsentwurf in der Nationalversammlung erörtert werden. Wird dieser Entwurf angenommen, bleibt unser General hier, in Bulgarien, als Kriegsminister.“
Dieser Bescheid gefiel mir, doch Slowejko fügte hinzu:
„Es ist aber noch nicht ganz entschieden. Durchaus möglich, dass die Verfassung nicht angenommen wird. Stoilow mit seiner Partei ist gegen den Entwurf.“
„Ist denn Stoilow für die Türken?“
„Nein“, erwiderte Slowejko, „aber Stoilow will nicht, dass Bulgarien ein demokratisches Land wird. Er macht gemeinsame Sache mit den zaristischen Beamten.“ Das alles war schwer zu begreifen.
„Und Vater? Will er, dass Bulgarien ein freies und demokratisches Land wird?“
„Gewiss will er das“, antwortete Slowejko. „Unser General ist der wahre Vater der demokratischen Verfassung. Doch die andern können sie zu Fall bringen.“
Für mich war am wichtigsten, dass Vater für diese gute Verfassung war. Was ging es mich an, dass sie dem Zaren oder Stoilow missfiel!
Es gab in Bulgarien indessen Kräfte, die eine andere Einstellung zur Verfassung hatten, und die Diskussionen zu diesem Thema nahmen in unserem Haus kein Ende. Schließlich war ich ihrer überdrüssig. Ich hielt mir dann die Ohren zu und rannte in den Garten.
Es war im zeitigen Frühjahr – das ganze Haus duftete nach Veilchen. Auf allen Tischen standen Vasen und Töpfchen mit Blumensträußen. Veilchensträuße wurden sogar in einfache Eimer getan, so viele Blumen gab es. Die Luft war ein einziger Veilchenduft. Es war ein sonniger, heller und froher Frühlingstag. Am Flügel übten Schenja und Sojas Vater ein Duett aus der Oper Rusalka ein. Schenjas helle Stimme war im ganzen Haus zu hören.
Sojas Vater war der 1. Regisseur des Liebhabertheaters. Er dirigierte mit der rechten Hand und sang nur halblaut, um Schenja besser hören zu können. Ich lief ins Haus und blieb in der Tür zum Esszimmer stehen. Aus irgendeinem Grund empfand ich außergewöhnliche Freude. Mir schien, ich sei noch nie so glücklich gewesen. Was war das nur? Lag es am Frühling, am Duft der Veilchen oder an Schenjas schöner Stimme? Ich hätte beinahe losgeweint vor lauter Freude. Wie war das Leben doch schön!
Dabei trat gerade in diesem Augenblick die Tragödie über die Schwelle unseres Hauses. Ein Bote in Uniform klopfte an die Tür zu Vaters Arbeitszimmer. Er brachte ein Telegramm. Slowejko nahm das Telegramm entgegen und schloss die Tür wieder fest hinter sich.
Alles war noch wie eben, und doch schien mir, als habe sich mit dem Eintreffen des Kuriers etwas um mich herum verändert.
Ein paar Minuten später kamen meine Eltern aus dem Arbeitszimmer und sprachen gedämpft miteinander. Vater machte ein sehr ernstes Gesicht. Auf Mutters Wangen glühten rote Flecke. Das war ein Zeichen dafür, dass sie aufgeregt war.
„Wenn nun aber die Nationalversammlung die Verfassung annimmt“, sagte sie, „kann doch der Zar den der Versammlung bereits unterbreiteten Entwurf nicht wieder zurückziehen?“
„Die Zarenregierung unterstützt Stoilow“, erwiderte Vater, woraufhin meine Eltern in den Garten gingen.
Am gleichen Tag noch fuhr Vater nach Tarnowo, während Mutter die ganze Zeit sehr nervös war. Miss Gudgeon riet mir, mich möglichst wenig im Haus aufzuhalten und nicht auf die Gespräche zu lauschen, die ich ohnehin nicht begreifen könne.
Selbst wenn ich nicht alles verstand, war mir doch eines klar: Der Zar war gegen Vaters Verfassung, und das erfüllte mich mit Zorn. Mir tat meine Mutter leid, die ich noch nie so nervös und ungeduldig gesehen hatte.
Es kam der bedeutungsvolle April 1879. Die Nationalversammlung nahm den Verfassungsentwurf an, wenngleich dieser auf Weisungen aus Petersburg hin stark verändert worden war. Am Tag darauf wurde der deutsche Prinz von Battenberg zum Fürsten des autonomen Bulgarien gewählt. Das bulgarische Kabinett wurde gebildet.
Zu uns kamen viele Bulgaren, ganze Abordnungen, um meinen Vater zu beglückwünschen. Die bulgarischen Frauen brachten leckere türkische Süßigkeiten als Geschenk für meine Mutter und uns Mädchen. Sojas Papa umarmte meinen Vater, gab Mutter einen Kuss auf beide Wangen, küsste meine Schwestern ab und versuchte, Miss Gudgeon zu umarmen, doch diese fand das sehr ungehörig und lief in die Küche.
Die gehobene Stimmung dieses Tages war von kurzer Dauer. Schuldbewusst stürzte ich ins Esszimmer – über dem fröhlichen Spiel im Garten hatte ich ganz das Frühstück vergessen. Da dem aber niemand Beachtung schenkte, wurde mir klar, dass etwas geschehen war. Mutter weinte. Meine Schwestern scheuchten mich aus dem Zimmer. Auch Slowejko wollte nicht mit mir sprechen. Er war kurz angebunden.
„Sie haben erreicht, was sie wollten. Nun müssen wir voneinander scheiden und werden uns nie mehr wiedersehen.“
Ich sollte Slowejko tatsächlich nie wiedersehen. Er war in die Karawelow-Verschwörung [7] verwickelt und wurde später erschossen ... Doch damals in Sofia dachte ich noch nicht an die Zukunft. Ich suchte Miss Gudgeon, damit sie mir erklärte, was eigentlich passiert war. Sie saß höchst verärgert in der Küche, denn alle hatten sich zum Frühstück verspätet, das inzwischen nicht mehr zu retten war.
„Noch ist gar nichts geschehen“, sagte sie, „alle sind eben bloß aufgeregt.“
Und doch war an diesem Tag etwas geschehen. Mein Vater war nicht zum Kriegsminister in Bulgarien ernannt worden, vielmehr hatte ihn die Regierung des Zaren unverzüglich nach Petersburg zurückgerufen. Später erfuhr ich, dass die zaristischen Beamten meinem Vater vorwarfen, dass die Anregung zur liberalen Verfassung in Bulgarien von ihm gekommen war und er die fortschrittlichen bulgarischen Kreise gegen die Konservativen und die Freunde der Zarenherrschaft unterstützt hatte. Karawelow hätte er nicht unterstützen dürfen; dafür musste er nun büßen.
Düstere Tage brachen an. Das Leben in unserem Haus veränderte sich. Die Gäste blieben aus, und meine Schwestern ritten nicht mehr in die Berge. Liebhaberaufführungen gab es auch nicht mehr. Alle waren nur mit dem Packen beschäftigt. Überall standen Kisten umher, lag Holzwolle und Packpapier. Slowejko ging mit Stricken und Nägeln durchs Haus.
Kinder haben es ja eigentlich gern, wenn aufgeräumt oder gepackt wird. Da kann man sich die Zeit sehr kurzweilig vertreiben, doch in jenen Tagen bemühte ich mich, niemandem unter die Augen zu kommen. Alle knurrten mich an und waren böse auf mich, als wäre ich daran schuld, dass mein Vater Karawelow und nicht Stoilow unterstützt hatte.
Damals empfand ich eine starke Abneigung gegen den Zaren, besonders als ich gewahr wurde, dass mein Vater traurig und blass aussah. Er küsste Mutters Hand und sagte: „Mach dir nur keine Sorgen, es wird schon wieder alles werden.“
In diesen Tagen vernahm ich viele neue Wörter: „Aberkennung aller Rechte“, „Verbannung“ und „Degradierung“. Ich schrieb diese Wörter auf, um bei Gelegenheit einmal nach ihrer Bedeutung zu fragen, und verbarg den Zettel in meiner Schürzentasche.
Im Mai verließen wir Sofia. Als unser Wagen durch das Tor des vertrauten Hauses fuhr, kamen mir die Tränen. Adele weinte auch, doch Schenja sagte: „Adele hat dicht am Wasser gebaut. Ihre Tränen besagen nicht viel.“
In Erwartung des Dampfers, der uns übers Schwarze Meer nach Russland bringen sollte, hielten wir uns einige Tage im Schwarzmeerhafen Warna auf. In Warna war es sehr heiß. Wir kauften dort herrliche Kirschen – gelbe und hellrote. Ich glaube, so wundervolle Kirschen habe ich mein Lebtag nicht wieder gegessen, und doch waren die Tage in Warna traurig. Alle schienen besorgt. Zu uns kamen bulgarische Frauen, die meisten von ihnen ebenfalls betrübt. Sie erzählten meiner Mutter, dass ihre Männer auf Geheiß des neuen Fürsten Battenberg verhaftet worden seien. Ob mein Vater ihnen nicht helfen könnte? Doch er konnte gar nichts tun.
Gewiss, die Kirschen schmeckten wunderbar in Warna, aber die Stadt gefiel mir trotz allem nicht. Spätabends brachte man uns dann auf einem gewöhnlichen Passagierdampfer unter, nicht auf einem Kriegsschiff, wie das der Fall gewesen war, als wir vor einem Jahr nach Bulgarien gekommen waren.
1. Gemeint ist offensichtlich der Österreichisch-Preußische Krieg 1866, bei dem Russland zwar Neutralität bewahrte, sein Militär jedoch einsatzbereit hielt.
2. Der Aufstand gegen das türkische Joch in Bulgarien begann im April 1876. Nachdem die Türkei den Entwurf für die Sicherung der Autonomie Bulgariens, Bosniens und der Herzegowina, der auf Initiative russischer Diplomaten ausgearbeitet worden war, abgelehnt hatte, erklärte Russland im April 1877 der Türkei den Krieg.
Der Russisch-Türkische Krieg 1877–1878 war das Ergebnis des Aufschwungs der nationalen Befreiungsbewegung auf dem Balkan und der Verschärfung der internationalen Widersprüche im Nahen Osten.
3. Nowoje Wremja (Neue Zeit) – Tageszeitung; erschien von 1868 bis 1917 in Petersburg. Zu Beginn gemäßigt liberal, wurde sie, nachdem im Jahre 1876 A. S. Suworin Verleger der Zeitung geworden war, zu einem reaktionären Organ, das Großmachtchauvinismus und Antisemitismus propagierte.
4. Das von türkischen Truppen stark befestigte Plewna hielt lange seine Verteidigungsstellung, wodurch die zaristischen Heerführer gezwungen wurden, im Juli 1877 von ihrem Feldzug auf den Balkan abzulassen. Die Garnison von Plewna kapitulierte erst Ende November 1877.
5. Durch ihren heldenmütigen Einsatz vereitelten die Verteidiger des Schipkapasses – russische Soldaten und bulgarische Landwehrangehörige – den Plan des Feindes, die Russen bis hinter die Donau, nach Rumänien, zurückzuwerfen.
6. Gemeint sind die Russisch-Türkischen Kriege 1735–1739, 1768–1774, 1787–1791, 1806–1812 und 1828–1829. Der Friedensvertrag von San Stefano wurde am 19. Februar (3. März) 1878 zwischen Russland und der Türkei geschlossen. Die Türkei erkannte die Unabhängigkeit Bulgariens an, und die Grenzen des neuen Staates wurden so festgelegt, wie sie von der Türkei zugebilligt worden waren. Der Berliner Kongress von 1878 revidierte dann die Bedingungen dieses Vertrages auf Kosten der Interessen Russlands und der Balkanvölker. Objektiv lag die progressive Bedeutung des Krieges darin, dass der Sieg der russischen Armee die Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens und Montenegros sowie die Befreiung Bulgariens vom türkischen Joch brachte.
7. Gemeint ist der Kampf der Opposition gegen die antinationale Politik in Bulgarien. Einer der Führer dieses Kampfes war der bulgarische bürgerliche Politiker P. Karawelow, der für die Demokratisierung des Landes und darauf aufbauend für die Verbesserung der Beziehungen zwischen Bulgarien und Russland kämpfte.
Zuletzt aktualisiert am 28. Juni 2020