Alexandra Kollontai


In „gottgefälliger“ Angelegenheit bei den Mönchen

(1927)


Zum ersten Mal veröffentlicht 1927 in der Zeitschrift Smena (Der Wechsel), Nr. 20.
Unter der Überschrift In sozialer Angelegenheit bei den Mönchen wurde der Beitrag 1966 in der Zeitschrift Don, Nr. 4, erneut gedruckt.
Der vorliegenden Publikation liegt der etwas gekürzte Wortlaut der Zeitschrift Smena zugrunde, der mit dem im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrten Manuskript verglichen wurde.
Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 447–454.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Alle wollen etwas

In den Räumen und auf der Treppe wimmelt es von Menschen. Denjenigen, die das Leben unter dem Zarismus so erbarmungslos mit Füßen getreten hatte, konnte natürlich auch von der Provisorischen Regierung kein Schutz zuteil werden: Mütter mit ihren Säuglingen, Waisen von der Straße, verkrüppelte, blinde und aussätzige Greisinnen, verwitwete Soldatenfrauen und allen voran die durch die Hungersnot und die Wirren des Kerenskiregimes erbitterten Männer, die der Krieg zum Krüppel gemacht hatte, die Arm, Bein oder auch das Augenlicht verloren hatten.

Alle schlagen Krach, fordern, drohen ...

Doch am hartnäckigsten sind die Kriegsversehrten. Sie haben einen eigenen Verband, sind organisiert und treten fest und nachdrücklich auf. Ihre Forderungen kann man nicht abtun.

Sie verlangen vor allem – und das mit Recht – ein Dach über dem Kopf. Der imperialistische Krieg hat sie zu Krüppeln gemacht, sie verstümmelt und dann wie Kehricht auf die Straße geworfen.

„Da hast du deinen Helden! Da hast du deinen Lohn für die Verteidigung des Vaterlandes! Verflucht soll es sein, dieses Vaterland! Ins Dorf müsste man zurück ... Aber wer soll denn mich Krüppel jetzt ernähren?“

Mir wird jetzt noch bange, wenn ich an diese bleichen, von bläulicher Blässe überzogenen Gesichter zurückdenke, mit Augen, in denen unauslöschbar das Grauen des imperialistischen Krieges stand – an diese nervösen, überreizten, empfindlichen und bedauernswerten Menschen. Immer mehr Bauern sind darunter, aus allen Teilen Russlands. Die Lage ist fürwahr tragisch. Im Rat der Volkskommissare setze ich eine Erhöhung der Beihilfen für Invaliden durch. Das Dekret beruhigt sie für eine Weile. Doch die Preise in der Stadt klettern immer mehr in die Höhe.

Die Zahl der Invaliden, die sich in der Stadt aufhalten, wächst ständig. Wohnraum ist nicht da.

Anfang Januar entscheidet der Rat beim Volkskommissar, dass zunächst eine Unterkunft für die Kriegsversehrten gefunden werden müsse; andernfalls werde die Lage gefährlich.

Ein Wohnungsamt gibt es noch nicht, auch keine andere Stelle, über die sich ein Gebäude finden ließe. Wir müssen selbst etwas unternehmen.
 

Ein Kloster mit allem, was das Herz begehrt

Der Sekretär des Rates, Aljoscha Zwetkow, begab sich auf Erkundungsfahrt. Bei seiner Rückkehr berichtete er, sie hätten eine Unterkunft gefunden, die sich erstaunlich gut eignen würde. Alles gebe es da – einzelne Kämmerchen Speiseräume, Küchen, eine komplette Ausstattung und, was in dieser Zeit des Hungers besonders wichtig war, Lebenmittelvorräte.

Und wo war dieser ganze Segen zu finden?

Im Alexander-Newski-Kloster [1], einem „heiligen“ griechisch-orthodoxen Kloster.

Zu jener Zeit gab es noch keine Trennung von Kirche und Staat. Der Besitz der Kirche war nicht angerührt worden.

Wir beratschlagten und erkundigten uns genau. Es stellte sich heraus, dass die Räumlichkeiten für etwa 1,000 Personen Platz boten. Dabei lebten in dem Kloster nicht mehr als 60 Mönche und ein paar Dutzend Novizen. Und die Hauptsache – es war bestens für die Invaliden geeignet, mit Betten, Brennholz, das für zwei Jahre reichte, Mehl, Speiseöl und Fässern voll Hering ... Mit einem Wort, besser ging’s nicht mehr!

„Hat man euch denn überhaupt zur Besichtigung hineingelassen?“ fragen wir.

„Ganz einfach“, antwortete Genosse Zwetkow. „Wir haben beim Klassenwiderspruch angesetzt, haben die Zwietracht unter den Klassen geschürt.“

„Wie das?“

„Im Kloster ist doch auch ein ‚Klassen‘kampf im Gange: auf der einen Seite die fett gewordenen Mönche, auf der anderen die Novizen, die von den Mönchen angetrieben werden. Wir haben uns also direkt an die Novizen gewandt und zu ihnen gesagt: ‚Genossen Novizen, was tut sich denn hier bei euch? Eure Klassenfeinde, die Mönche, haben euch unterjocht?‘ – ‚Ja, das haben sie‘, antworteten die Novizen. ‚Wir sind für sie bloß Sklaven. Wer essen will, muss auch arbeiten, heißt es immerzu, dabei kriegen wir nur Wasser und Brot. Die Mönche selbst schlagen sich dafür ihre Bäuche mit allen möglichen guten Dingen voll, bis sie bald platzen. Es ist nicht zum Aushalten mit ihnen.‘ Die Novizen stellten sich also auf unsere Seite. Sie führten uns und ließen uns die Räume und die Vorratskammern ansehen, erzählten mir alles haarklein über die Vorräte. Wir haben uns als Freunde getrennt. Ein Novize, von den jungen, erklärte sich gleich zum Bolschewiken.“

Im Rat diskutierten wir dann über den Bericht unserer Kundschafter und entschieden, dass wir das Kloster bekommen müssten, doch sollte das „auf friedlichem Wege“ geschehen. Wir wollten die Mönche bitten, ein bisschen zusammenzurücken. Sie sollten einen Flügel für sich haben, der Rest würde die Unterkunft für die Kriegsversehrten.

Wir entsandten eine Kommission zum Klostervorsteher, um mit ihm zu verhandeln. Die Novizen begrüßten die Kommission hocherfreut. Die Mönche aber strömten sogleich in gespannter Erwartung, mit feindseligem Blick heraus. Es gefiel ihnen nicht, dass sich unsere Genossen von der staatlichen Fürsorge in der Zwischenzeit schon mit den Novizen angefreundet hatten. Die Kommission verlangte, dass sie jemand zum Vorsteher führe. Ein dicker, bärtiger Mönch war um nichts in der Welt dazu zu bewegen, irgendwelche unbekannten Laien ohne Rang und Namen zu seiner Eminenz vorzulassen.

„Bei uns ist es nicht Sitte, dass jeder Dahergekommene mit Bitten beim Vorsteher erscheint.“

„Wir haben aber keine Bitte, sondern ein Anliegen vorzutragen, eine Staatsangelegenheit.“

Die Mönche wollten nicht nachgeben, sträubten sich und blieben bei ihrem Nein. Daraufhin sprachen die Novizen, zunächst schüchtern, dann immer lauter:

„Warum weigert ihr euch? Sie wollen ein gottgefälliges Werk tun. Sie kümmern sich um die Kriegsversehrten, und ihr macht ihnen unnütze Scherereien. Die wollen uns doch nicht ausplündern!“

Schließlich empfing uns der Vorsteher.

Das war ein Greis, nur noch Haut und Knochen und schwerhörig dazu. Er glich einem wandelnden Skelett und fand sich offensichtlich auch nicht mehr so richtig in den Dingen zurecht. Bevor er etwas erwiderte, blickte er stets erst einen dicken, bejahrten Mönch mit dem Kreuz auf der gewölbten Brust an, der ihm dann die Antwort bedeutete.

Eine direkte Antwort bekamen wir nicht. Sobald die Mönche Lunte rochen, waren sie auf der Hut und führten nur noch leere Reden: Man dürfe den geheiligten Ort des Klosters doch schließlich nicht für Wohnzwecke nutzen. Unsere Abgesandten führten alle möglichen Argumente an, doch die Mönche beharrten auf ihrem Standpunkt.

So fuhren unsere Parlamentäre unverrichteter Dinge wieder weg.

Als der Verband der Kriegsversehrten davon erfuhr, gab es gleich Radau und Protest. „Wenn ihr uns kein Dach über den Kopf gebt, schlagen wir das Volkskommissariat kurz und klein, werden wir durch die Stadt demonstrieren! Die Bolschewiki haben die Macht, und uns Krüppel lasst ihr in der Kälte hausen!“

Den ganzen Abend lang plagten wir uns mit den Invaliden ab; sie ließen sich auf der Versammlung in keiner Weise beschwichtigen. Gegen Mitternacht meinten der stellvertretende Volkskommissar Iwan Grigorjewitsch Jegorow und der Sekretär des Rates, Zwetkow, schließlich, dass es keinen anderen Ausweg gebe: Wir müssten das Kloster eben besetzen. Wozu überhaupt mit 60 fetten Mönchen so viel Federlesens machen?
 

Die Mönche kämpfen

Sie kamen nachts zu mir in die Wohnung. Den Befehl, das Alexander-Newski-Kloster zwecks Unterbringung von Kriegsversehrten zu besetzen, hatten sie schon vorbereitet.

„Besetzen wir es nicht, werden Sie sehen, dass uns die Invaliden Scherereien machen. Sie drohen mit einer Straßendemonstration, sind fuchsteufelswild. Und warum auch zögern? Das läuft alles wie geschmiert. Die Novizen sind für uns.“

Mit diesen Worten verteidigte Genosse Zwetkow den Plan, das Kloster zu besetzen. So unterschrieb ich den Befehl zur Besetzung des Klosters.

Am nächsten Morgen schickten wir eine Kommission ins Kloster. Doch sie wurde nicht mehr hineingelassen. Die Mönche hatten sich eingeschlossen, hatten sich im Kloster wie hinter einer Festungsmauer verschanzt.

Was war da zu tun?

Unsere Hitzköpfe von der staatlichen Fürsorge meinten: „Dann nehmen wir das Kloster eben mit Gewalt ein!“ Solche Entscheidungen wurden dazumal ohne jegliche Bedenken getroffen. Keiner dachte daran, die Dinge „abzustimmen“ oder „zu koordinieren“. Man war sich nicht darüber im klaren, dass Einzelaktionen, Aktionen, die jeder nach Gutdünken durchführte, dem gemeinsamen Plan schadeten, Desorganisation in den ohnehin noch unfertigen staatlichen Organismus hinein trugen und die Macht des Sowjetstaates untergruben.

Wir beschlossen also, mit Gewalt vorzugehen, und riefen den Genossen Dybenko im Volkskommissariat für Marine an.

„Hör mal, Dybenko! Schick uns doch einen Trupp kräftiger Matrosen her. Wir wollen das Kloster besetzen.“

Das Kloster besetzen? Den vollgefressenen Mönchen auf die Pelle rücken? Da findet sich im Handumdrehen ein Trupp zusammen!

So zogen unsere Genossen denn zum Kloster, ein Trupp ausgesuchter, breitschultriger, baumstarker Matrosen mit Musik vornweg.

Doch auch die Mönche hatten sich vorbereitet. Sowie sie die Matrosen erblickten, schlugen sie Alarm. Die Glocken des Newski-Klosters läuteten Sturm.

Das Volk geriet in Aufregung. Frauen, Kleinhändler und Handwerker strömten auf die Straße und eilten zum Kloster. Geschrei, Lärm ... „Was? Die heilige Stätte des Volkes wollen sie entweihen?! Die Bolschewiki wollen das Kloster plündern! Das lassen wir nicht zu! Eher sterben wir für unseren Glauben, unsere rechtgläubige Kirche!“ Die Matrosen aber waren in Wut geraten, besonders, als die Mönche in der Menge erschienen. „Warum soviel Aufhebens?! Wenn sie uns nicht ins Kloster lassen, nehmen wir es eben mit Gewalt!“

Wer mit der Schießerei angefangen hatte, ließ sich dann nicht mehr feststellen.

Unter den Toten war auch ein Mönch aus dem Kloster.

Die Kunde von dem Vorgefallenen drang zum Smolny. Der Rat der Volkskommissare schickte umgehend einen Genossen an Ort und Stelle, wo das Handgemenge zwischen den Matrosen und den Verteidigern des Klosters in vollem Gange war. Der Befehl lautete, die „Ausschreitungen“ sofort einzustellen und von der Besetzung des Klosters abzulassen. Genosse Zwetkow wurde aufgefordert, im Smolny „Rede und Antwort zu stehen“. Auch ich musste in den Smolny, um Wladimir Iljitsch eine Erklärung abzugeben.

Als ich berichtete, dass unsere Genossen beschlossen hätten, auch im Kloster Revolution zu machen und dabei die Novizen gegen die Mönche einzusetzen, wobei sie erstere mit der Aussicht auf einen „Sowjet“ der Novizen gewonnen hätten, erschien auf Wladimir Iljitschs Gesicht zunächst das sympathische, kluge Lächeln, doch gleich darauf verfinsterte sich seine Miene.

„Derart eigenmächtiges Vorgehen der Volkskommissariate ist unstatthaft. Eigenmächtigkeit darf es bei so überaus wichtigen Fragen der allgemeinen Politik nicht geben.“

Mit einfachen und plausiblen Worten las mir Wladimir Iljitsch die Leviten. Nachdem er eine Weile überlegt hatte, fügte er hinzu: „Der Vorfall mit dem Kloster hat die praktische Lösung des Problems der Trennung von Kirche und Staat in den Vordergrund gerückt.“

Und tatsächlich wurde schon ein paar Tage darauf im Rat der Volkskommissare das Dekret über die Trennung der Kirche vom Staat [2] verabschiedet.

Das Kloster konnte auf jeden Fall nicht zur Unterkunft für die Invaliden gemacht werden. Schließlich wurde ein anderes Gebäude für sie gefunden. Die Popen und Mönche beruhigten sich indes nicht. Sie organisierten eine feierliche Prozession mit Ikonen auf dem Newski-Prospekt und riefen das Volk auf, „die heiligen Stätten der Kirche vor der Schändung durch die Bolschewiki zu bewahren“. Mehrere Tage lang zogen sie so durch die aufgeweichten, schmutzigen Straßen von Petrograd, die Spießer in ihrem Gefolge.

Mich und den Genossen Zwetkow aber, die „Haupträdelsführer“ bei dem ersten Versuch, das Kloster zu einer Stätte sozialer Fürsorge werden zu lassen, belegten Popen und orthodoxe Kirche feierlich mit dem Bannfluch.

Wladimir Iljitsch sagte daraufhin gutmütig und mit spöttischem Lächeln zu mir: „Jetzt sind Sie zwar mit dem Bannfluch belegt, aber keineswegs in schlechter Gesellschaft; sie werden in einem Atemzug mit Stenka Rasin und Lew Tolstoi erwähnt.“

*

Anmerkungen

1. Alexander-Newski-Kloster – Kloster in Petersburg, das 1710 zu Ehren Alexander Newskis gegründet wurde; seit 1797 Lawra (Großkloster). Im Alexander-Newski-Kloster sind Suworow, Lomonossow, Glinka, Fonwisin, Mussorgski, Tschaikowski, Rimski-Korsakow, Dostojewski und andere beigesetzt. Heute steht das Alexander-Newski-Kloster unter staatlichem Denkmalschutz und beherbergt das Leningrader Museum für städtische Kultur.

2. Das Dekret des Rats der Volkskommissare der RSFSR über die Gewissensfreiheit und über Kirchen- und Religionsgemeinschaften, das später als Dekret über die Trennung der Kirche vom Staat sowie der Schule von der Kirche weithin bekannt wurde, wurde am 20. Januar (2. Februar) 1918 beschlossen.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2020