Die Erinnerungen an die Sitzung des Zentralkomitees der SDAPR(B), auf der Kurs auf den bewaffneten Aufstand genommen wurde, erschienen 1927 und 1937 unter verschiedenen Überschriften (Der Arm der Geschichte, Die Tage des Oktober, Der Kurs auf den bewaffneten Aufstand und Der bewaffnete Aufstand) in verschiedenen Publikationen (Krasnoarmejez, Iswestija, Ny Dag).
Der vorliegenden Publikation liegt der Text aus dem Buch Iljitsch. Erinnerungen Petrograder Bürger (Leningrad 1970, russ.) zugrunde.
Einiges wurde aus dem in der Iswestija vom 24. Oktober 1937 erschienenen Artikel eingefügt.
Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 414–418.
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10. Oktober 1917. [1] Das Zentralkomitee der Partei hat die Bolschewiki zu einer Sondersitzung zusammengerufen. Der Ort der Zusammenkunft wurde unter strengster Geheimhaltung bekanntgegeben. Ungewöhnlich auch der Zeitpunkt – die Sitzung findet am späten Abend, nach zehn, statt.
Das Zentralkomitee kommt irgendwo weit draußen auf der Petrograder Seite zu seiner Sitzung zusammen. Die Straßenbahnen sind überfüllt. Der Kamennoostrowski-Prospekt nimmt kein Ende. Ich biege ab. Unbekannte Straßen, große, neue Häuser. Seltsam still ist alles, menschenleer, als hätte sich die revolutionäre Stadt verkrochen. Sie wartet ab, sammelt Kraft für einen neuen Ansturm, für eine neuerliche Explosion. In gleichmäßigem Rhythmus hallen die Schritte von Soldaten. Undeutlich zeichnen sich die grauen Uniformmäntel ab. Sie gehen in verstreuten Gruppen, unterhalten sich:
„Er hat auch noch Dummköpfe gefunden, die für die Imperialisten sterben wollen! Die Dardanellen will er! Schöner ‚Oberzuredner‘ ...“
„Bolschewik! Halt’s Maul, sonst bekommst du eins drauf!“
Eine einmütige, an den „paktiererischen Verräter“ gerichtete Drohung ist die Antwort. Schon sind die Schatten vorüber, die Schritte verhallt.Vor mir zwei Arbeiter. Sie unterhalten sich leise, nachdenklich. Wortfetzen fliegen herüber: „Sozialverräter. Liber, Dan.“ [2] Und: „Recht haben die Bolschewiki, ohne die Macht der Sowjets nimmt der Krieg kein Ende.“ Alle reden über dasselbe, über das, was unter den Nägeln brennt – Krieg und Paktierertum, Macht der Sowjets und Frieden. Der Krieg macht böses Blut, die Leute haben ihn satt. Der Krieg ist etwas Fremdes, etwas, das das Volk nicht braucht, ein verhasster blutiger Alptraum.
Junge Mädchen mit Kopftüchern, Arbeiterinnen, kommen mir entgegen.
„Wie kann denn Lenin ein deutscher Spion sein, wenn er gegen die Paktierer ist? Du hättest besser hören sollen, was gestern im ‚Modern‘ gesagt wurde ...“
Auch die Frauen stehen auf unserer Seite! Der Bolschewismus hat weite Kreise gezogen! Die revolutionäre Welle lässt sich nicht mehr aufhalten, sie kann die Paktierer jeden Augenblick überrollen.Mit Mühe mache ich den Ort der konspirativen Sitzung des Zentralkomitees ausfindig. Es ist die Wohnung eines Schriftstellers. Nicht von uns, ein „Sympathisant“.
Die Sitzung hat schon begonnen ...
Um den Esstisch, über dem eine Hängelampe brennt, die Mitglieder des Zentralkomitees. Doch neben mir sitzt ein älterer, schon etwas ergrauter Mann, den ich nicht kenne. Ich rücke ein wenig zurück und schaue ihn mir von der Seite an. Da blitzt in den Augen des Unbekannten plötzlich das unvergessliche, kluge, halb verschmitzte, halb spöttische Lächeln auf.
„Sie haben mich nicht erkannt? Ausgezeichnet!“
„Wladimir Iljitsch?!“
Mein Herz empfindet maßlose Freude. Lenin ist bei uns. Er, der notgedrungen in die Illegalität gehen, sich vor Kerenskis Spürhunden verstecken musste und lange nicht an den Sitzungen des Zentralkomitees teilnehmen konnte, weilt wieder unter uns.Die historische Beratung am 10. (23.) Oktober! Wer kennt sie nicht! Eine Beratung voller Leidenschaft und Anspannung. Auf ihr entscheidet sich das Schicksal der proletarischen Revolution, das Schicksal der werktätigen Menschen. Der bewaffnete Aufstand steht auf der Tagesordnung. Lenin stellt die Frage mit aller Entschiedenheit. Der Kurs auf den „B.A.“, wie wir damals der Kürze halber sagten, das heißt bereits die praktische Vorbereitung des Aufstandes, müsse beschlossen werden. Der Augenblick sei gekommen.
Die Berichte der Genossen über die in den Massen herrschende Stimmung und die Verschärfung des revolutionären Kampfes gegen die Regierung Kerenski erhärten die Richtigkeit von Lenins Vorschlag nur noch mehr.
Im Nordgebiet sind die Soldaten und Matrosen in Bewegung geraten und fordern Aktionen. Die Moskauer bekräftigen die Bereitschaft des Proletariats in Moskau, für die Macht der Sowjets zu kämpfen. Das der Provisorischen Regierung so verhasste Zentralkomitee der Baltischen Flotte hat aus Helsingfors eine Delegation ins Zentralkomitee entsandt und verlangt Weisungen, um sich in den „erbarmungslosen Kampf“ für die Macht der Sowjets stürzen zu können. Die 3. Armee ist für die Bolschewiki. Auch die Eisenbahner und Postangestellten sind in Konflikt mit Kerenskis Macht.
Lenin hört sich die Berichte der Genossen aufmerksam an, fädelt sie gewissermaßen entsprechend dem von der Partei ausgearbeiteten Plan auf.
In einfachen, klaren Worten spricht Lenin davon, dass die „Krise herangereift“ sei, dass die Bauernaufstände zeigten, welche Rolle die Bauernschaft in der sozialistischen Revolution spielen wird.
Sinowjew und Kamenew widersprechen Lenin und dem Zentralkomitee, haben niederträchtige, feige Einwände, sträflich auf Desorganisation abzielende Argumente. Was wollen sie eigentlich, diese Feiglinge? Die Konstituierende Versammlung abwarten, um dann mit Hilfe einer opportunistischen Politik „auf parlamentarischem Wege“ die Macht zu ergreifen.
„Purer Unsinn!“ entfährt es Lenin ärgerlich und entrüstet. Nur mit Mühe hört er die Verräter bis zu Ende an.
„Ihre Argumente sind völlig untauglich. Sie bringen nicht die Stimmung der Massen zum Ausdruck, sondern nur Ihre eigene Verwirrung und Feigheit, sie bedeuten Abweichen von allen Grundprinzipien des Bolschewismus und des revolutionären proletarischen Internationalismus.“
Das waren die wesentlichen Gedanken, mit denen Lenin die Verräter entlarvte und schlug.Gegen sie, diese Feiglinge und Verräter, hatte Lenin schon gekämpft, als er aus der Illegalität Briefe an die Genossen schrieb und ihnen erläuterte, weshalb die Dinge nicht verschleppt werden dürften. „... aussichtslos ist die Stellung jener, die ... ihre persönliche Charakterlosigkeit auf die Massen abwälzen wollen ... die Massen der Unterdrückten und der Hungernden sind nicht charakterlos“, hatte Lenin geschrieben. [3]
Die Beratung am 10. Oktober hat sich hingezogen. Die Nacht ist fast vorüber. Dann der entscheidende Augenblick – die Abstimmung über die Resolution des Zentralkomitees, wie sie von Lenin vorgeschlagen worden ist.
Zehn Hände heben sich für, zwei gegen die Resolution.
Letztere sind die beiden Verräter, die gegen die Partei und die Revolution, also auch gegen den Kommunismus und seinen Sieg sind.
Die Resolution des Zentralkomitees [4] nimmt Kurs auf den „B.A.“: „... der bewaffnete Aufstand (ist) unumgänglich und völlig herangereift ...“ Das Zentralkomitee gibt Weisung an alle Organisationen, sich vorzubereiten.
Die Sitzung ist geschlossen. Durch die Fenster blickt schon der neue Tag ...
Die Spannkraft lässt sogleich nach. Hunger macht sich bemerkbar. Ein Samowar mit kochendem Wasser, Käse und Wurst werden gebracht. Es wird noch debattiert, aber schon im Scherz oder um sich über den anderen lustig zu machen.
Die historische Beratung ist vorbei. Dem Beschluss aber, der auf ihr gefasst wurde, ist es beschieden, das Schicksal der Welt zu wenden.
Es wird hell. Wiederum der unendlich lange Kamennoostrowski-Prospekt. Lange und einschläfernd zuckelt die Droschke dahin. Mir aber ist feierlich ernst, beinahe andächtig zumute, als spürte ich, dass eine große Stunde bevorsteht. Sobald sie schlägt, wird es mit der alten Welt vorbei sein. Feierlichen Ernst und ein bisschen Nervosität empfinde ich bei diesem Gedanken. Innere Kälte lässt mich zusammenschauern, wie vor einer verantwortungsvollen Rede.
1. Die Sitzung des Zentralkomitees vom 10. (23.) Oktober 1917 war die erste Sitzung des Zentralkomitees der Partei, an der Lenin nach seiner Rückkehr von Wiborg nach Petrograd teilnahm. Auf der Grundlage von Lenins Referat über die gegenwärtige Lage nahm das Zentralkomitee gegen den Willen von Sinowjew und Kamenew die Leninsche Resolution über die unverzügliche Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes an. Zur politischen Leitung des Aufstandes wurde ein politisches Büro unter der Führung Lenins gebildet.
2. Gemeint sind die Führer des menschewistisch-sozialrevolutionären Blocks M.I. Liber (Bundist) und Th. Dan (Menschewik); beide waren nach der Oktoberrevolution erbitterte Feinde der Sowjetmacht.
3. W. I. Lenin: Brief an die Genossen.
4. W. I. Lenin: Sitzung des Zentralkomitees der SDAPR am 23. (10.) Oktober.
Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2020