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Heute wollen wir die Frauenarbeit unter der Diktatur des Proletariats analysieren. Wir können uns aufgrund der anschaulichen Erfahrungen der großen russischen Revolution davon überzeugen, dass jeder Schritt in Richtung Kommunismus die Frauen tatsächlich der völligen und allseitigen Befreiung näher bringt Bevor wir uns jedoch über die Stellung der Frau in der proletarischen Räterepublik unterhalten, müssen wir noch kurz die Periode des imperialistischen Weltkrieges untersuchen, jene Periode also, die den Boden für die Diktatur des Proletariats vorbereitete.
Der Weltkrieg von 1914 bis 1918 war der bisher blutigste Krieg in der Geschichte der Menschheit. Sämtliche größeren Staaten in Europa und in Amerika nahmen an diesem Weltkrieg teil. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft wurde in ihren Grundpfeilern erschüttert, und die kapitalistische Produktion wurde völlig aus ihrem Gleichgewicht gebracht. Millionen von Arbeitern wurden von ihren Arbeitsplätzen weg auf die Schlachtfelder geworfen. Dennoch durfte auf gar keinen Fall eine Produktionseinschränkung eintreten. Im Gegenteil. Der Charakter der Produktion veränderte sich jetzt wesentlich. An Stelle von Konsumgütern produzierte die Industrie jetzt Zerstörungs- und Todesmaschinen. Jedes Land brauchte für den Sieg eine ständig expandierende Rüstungsindustrie, die die Herstellung von Sprengstoffen, Kanonen usw. garantierte. Ein günstiger Kriegsausgang war nur dann denkbar, wenn zwischen der Front und dem Hinterland eine organische Verbindung kontinuierlich existierte. Denn das Schicksal der eigenen Armeen wurde nicht nur auf dem Schlachtfeld entschieden. Mindestens genauso wichtig war der Wettlauf zwischen den verschiedenen nationalen Rüstungsindustrien. Die Grundlage Im Erweiterung der Produktion war jedoch ein genügend großes Potential an Arbeitskräften. Da die Kriegsindustrie ein Produktionszweig der kapitalistischen Großindustrie war, beschäftigte sie auch unqualifizierte Arbeitskräfte. Es war deshalb an der Tagesordnung, dass die Frauen, Töchter, Schwestern und Mütter der Soldaten nach der allgemeinen Mobilmachung die verwaisten Arbeitsplätze in den Werkstätten besetzten. Von ihren Versorgern im Stich gelassen, mussten sich die Frauen beeilen, ein eigenes Arbeitseinkommen zu sichern. Die Unternehmer empfingen diese billigen Arbeitskräfte mit offenen Armen, da diese Frauen einerseits ein ausgezeichneter Ersatz für die Arbeiter waren, die jetzt in den Schützengräben saßen, und weil sie andererseits die Profite erhöhten. Wir registrieren in der Periode seit Kriegsausbruch bis zur Demobilisierung ein ständiges Anwachsen der Frauenarbeit. Dies gilt auch für die neutralen Länder, für deren Unternehmer der 1. Weltkrieg ein Riesengeschäft war. Deshalb zwangen sie natürlich alle vorhandenen Arbeitskräfte, Männer und Frauen, in die Produktion.
Die Stellung der Frau in der Gesellschaft veränderte sich während des 1. Weltkrieges gewaltig. Die bürgerliche Gesellschaft, die bisher darauf beharrt hatte, dass der richtige Platz der Frau der am häuslichen Herd sei, rühmte nun den „Patriotismus“ der Frauen, die bereit waren, „Soldaten hinter der Front“ zu werden und eine Arbeit im Interesse von Wirtschaft und Staat ausführten. Es gab Gelehrte, Politiker und schlaue Journalisten, die im gemeinsamen Chor mit den Mitgliedern der herrschenden Klasse denselben Ton anschlugen, um die Frau zur „Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten“ aufzufordern und sie eifrig zu ermahnen, dass sie ihre Pflichten in der „Küche“ und „gegenüber ihren Kindern“ jetzt lieber etwas vernachlässigen sollten, um dem Vaterland desto besser dienen zu können; das hieß aber, dass sie ihre Arbeitskraft billig an die Rüstungskonzerne verkaufen sollten. Die Zahl der in der Produktion beschäftigten Frauen wuchs rasch. Es gab keine Branche mehr, in der sich die Frauenarbeit nicht durchsetzte. Am stärksten war die Frauenarbeit während des Krieges in der Metallindustrie, in der Sprengstoffherstellung, in der Uniformfabrikation und in den Konservenfabriken verbreitet. Diese Branchen arbeiteten alle direkt für die Front. Aber auch in den anderen Branchen setzte sich die Frauenarbeit durch, sogar in solchen Sektoren, die bisher der Frau völlig versperrt waren. Wir können uns noch sehr gut daran erinnern, wie während des Krieges überall weibliche Straßenbahn- und Zugschaffner, Taxifahrer, Portiers, Pförtner, Hafenarbeiter und Gepäckträger auftauchten. Viele Frauen arbeiteten im Bergbau oder in der Bauindustrie und verrichteten auch Schwerarbeiten, die für den weiblichen Organismus schädlich waren. Die Anzahl der weiblichen Angestellten im öffentlichen Verkehr, in den Telefonämtern, Telegraphenstationen und bei der Post wuchs bis ins Unendliche. Die Frauen versuchten mit der Gewissenhaftigkeit einer frischgebackenen Angestellten oder Arbeiterin ihre Aufgabe nach bestem Gewissen zu erfüllen. Man sah überall bekümmerte Frauengesichter. In der Periode zwischen 1914 bis 1918 nahm die Frauenarbeit in den verschiedenen Branchen zwischen 70 und 400 % zu. In der deutschen Metallindustrie sogar um 408 %. In Frankreich verdoppelte sich die Anzahl der Arbeiterinnen in denselben Branchen. Auch in Russland kam es immer häufiger vor, dass in zahlreichen Berufsgruppen die weibliche Belegschaft die Majorität stellte. Sogar bei den russischen Eisenbahngesellschaften, wo die Frauen vordem Kriege nur als Putzfrauen oder Bahnwärterinnen geduldet worden waren, belief sich die Anzahl der Frauen auf 35 % des Personals. Auch in Frankreich mussten Millionen von Frauen in der Produktion arbeiten. In England wuchs die Anzahl der Arbeiterinnen um 1,5 Millionen und in Deutschland um 2 Millionen. Insgesamt nahm die Anzahl der Arbeiterinnen in Europa und in Amerika um nahezu 10 Millionen zu. Die Gründe für diese Entwicklung sind klar: einerseits Mangel an Arbeitskräften und andererseits die geringen Kosten der Arbeitskräfte. Die künstlich in die Höhe getriebenen Preise für Konsumartikel und die Teilnahme der „Familienversorger“ am Kriege trieben die Frauen auf den Arbeitsmarkt. Der Sold des Mannes reichte für den Unterhalt der Familien nicht aus. Nicht nur die alleinstehenden Frauen – Kriegerwitwen, die Frauen der einberufenen Soldaten und die unverheirateten Frauen –, sondern auch die Frauen, deren Männer noch in der Heimat arbeiteten, suchten sich einen Nebenverdienst, weil sonst das Haushaltsgeld nicht ausreichte. Aber in allen Ländern und in allen Industriebranchen waren die Löhne der Frauen niedriger als die der Männer. Es lässt sich im Allgemeinen sagen, dass sich die Gehälter der Frauen während der vier Kriegsjahre auf ein Drittel oder die Hälfte der Männergehälter beliefen. Die nackte Not jagte die Frauen in die Fabriken, in die Werkstätten, in die Büros und auch in die öffentlichen Verkehrsbetriebe. Um ihren eigenen Profit zu vergrößern, hatten die Unternehmer keinerlei Hemmungen, die Arbeiterinnen rücksichtslos auszubeuten. Die „heilige Pflicht der Frau“, die Mutterschaft und all die anderen schönen Worte, nämlich dass die Frau schwächer sei als der Mann und dass es deshalb unzulässig sei, dass die Frau in Männerberufen arbeite, all dies Gerede war jetzt gründlich vergessen. Falls die Unternehmer je solche Vorstellungen über die besonderen Eigenschaften des „schwachen Geschlechts“ gehabt hatten, so wurden sie durch ihre Profitgier sehr schnell davon befreit. An die Stelle dieser Vorstellungen trat jetzt die feste Entschlossenheit, aus den Vertreterinnen dieses „schwachen Geschlechtes“ möglichst den größten Profit herauszupressen.
Die Frauen waren schlechter als die Männer darauf vorbereitet, ihre Klasseninteressen zu verteidigen. Sie waren weniger selbstbewusst und unerfahren. Während in Wirklichkeit die Unternehmer ihre privaten Taschen füllten, waren die Frauen davon überzeugt, dass sie für ihr „Vaterland“ arbeiteten. Die Unternehmer nutzten diese Illusionen aus und bezahlten ihren Arbeiterinnen nur einen Bruchteil dessen, was ein Arbeiter für die entsprechende Arbeit erhalten hätte. Wenn zum Beispiel ein Arbeiter einen Wochenlohn von 42 Mark erhielt, dann bekam die Arbeiterin nur 8 Mark. Wenn die Frauen im Akkord arbeiteten, dann verdienten sie nur selten mehr als ein Drittel ihrer männlichen Arbeitskollegen. Vielleicht waren die Frauen weniger fleißig oder arbeiteten nicht gewissenhaft? Keineswegs. Die Unternehmer und auch ihre Ideologen erklärten ja selber, dass die Produktivität keinesfalls darunter gelitten habe, dass man die Arbeiter durch Arbeiterinnen ersetzte. Eine niedrigere Produktivität der weiblichen Arbeitskräfte in vereinzelten Branchen wurde durch eine höhere in anderen ohne weiteres ausgeglichen. Diese Tatsache lässt sich statistisch belegen. In bestimmten Ländern, wie zum Beispiel in Italien, sahen die Unternehmer die Frauen nicht nur deshalb gerne in ihren Fabriken, weil für die Produktion nicht genügend Arbeiter zur Verfügung standen, sondern auch ganz einfach deshalb, weil die Frauen angeblich „nachgiebiger und fügsamer als die Männer“ seien und weil die Unternehmer sie deshalb für solche Arbeiten, die Gewissenhaftigkeit, Fleiß und Ausdauer erforderten, für äußerst geeignet hielten. Der Kanonenkönig in Deutschland, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, erklärte unverblümt, dass „die Frauenarbeit die Zukunftsmelodie“ sei. Vielerorts organisierten die Unternehmer Werkstätten, in denen nur Frauen arbeiteten und in denen Produkte hergestellt wurden, die besondere Fingerfertigkeit erforderten. In den bürgerlichen Zeitschriften für Techniker erschienen zahllose Lobgesänge auf die weibliche Arbeitskraft. Es wurde immerzu betont, dass die Frauen wesentlich lernfähiger als die Männer seien.
So schrieb zum Beispiel ein Ingenieur mit dem Namen Stern: „Die weiblichen Arbeiter sind wesentlich gehorsamer, bescheidener und lernbegieriger als ihre männlichen Kollegen.“ Die bürgerliche Presse forderte sogar für die Kriegszeit eine Arbeitsdienstpflicht für Frauen, eine Art organisierter Mobilmachung der „Soldaten hinter der Front“ und eine besondere kriegstechnische Ausbildung für die entsprechenden Berufszweige. Aber nicht nur die Unternehmer schlugen diesen Ton an, leider fielen auch bürgerliche Frauenrechtlerinnen und Sozialpatriotinnen in diesen Chor ein, allen voran Lilly Braun, die die Einführung eines Kriegshilfsdienstes für Frauen (in der Etappe) forderte. In Kreisen der bürgerlichen Frauenorganisationen erklärte man damals zum Beispiel: „Es ist absolut notwendig, unmittelbar, wie auf ein gemeinsames Kommando, die Einberufung der gesamten männlichen und weiblichen Bevölkerung verwirklichen zu können“. Die Sozialpatriotinnen in Deutschland und Frankreich unterstützten die Bemühungen der Kapitalisten, an den billigen weiblichen Arbeitskräften zu verdienen, ohne Vorbehalte. Der französische Sozialpatriot Albert Thomas schlug selbst vor, weibliche Arbeitskraft mehr als bisher auszunützen. Genau das Gleiche geschah in Russland und allen anderen Ländern, die von dem blutigen Krieg gepackt worden waren. Dass Frauen nun in das wirtschaftliche Leben einbezogen wurden, war natürlich an sich weder schädlich noch reaktionär. Im Gegenteil, hierdurch wurden die Ausgangsbedingungen für die künftige Befreiung der Frau verbessert. Nicht die Frauenarbeit an sich, sondern die Art und Weise, wie sie ausgebeutet wurde, waren schädlich. Die Unternehmer verdienten nicht nur an den niedrigen Frauengehältern, sie verstanden es auch, die Frauenarbeit geschickt gegen die organisierte und besser bezahlte männliche Arbeit auszuspielen. Außerdem versuchten sie ihre Profite auf Kosten der Frauen dadurch zu erhöhen, dass sie die weiblichen Arbeitskräfte bis an die Grenzen des Möglichen ausnützten. Nachtarbeit und Überstunden waren die Regel. Fast alle Gesetze zum Schutze der Frauenarbeit wurden für die Kriegszeit außer Kraft gesetzt. Ohne die geringste Scham ließen die Unternehmer die Frauen unter schädlichen Arbeitsbedingungen Schwerarbeiten ausführen. Jetzt trat der wahre, schlimme Charakter des Kapitalismus offen, ungeniert und abstoßend hervor. Der Kapitalismus in seiner unersättlichen Profitgier versuchte gar nicht mehr, sich hinter einem Feigenblatt humanitärer Absichten zu verstecken. In England waren Überstunden für Frauen obligatorisch. Dies führte zu 12- bis 15-stündigen Arbeitstagen. Nachtarbeit war jetzt Gang und Gäbe. Die ganze heuchlerische Empörung des Bürgertums über die schädlichen Folgen der Nachtarbeit, die angeblich einen „Zerfall der Familiensitten“ mit sich bringe, brach jetzt in sich zusammen. Selbst die von der Arbeiterklasse hart erkämpfte unzureichende Gesetzgebung zum Schutze der Arbeiterinnen wurde jetzt außer Kraft gesetzt.
Bei ihrem Versuch, diese Gesetze außer Kraft zu setzen, gingen die Unternehmer im zaristischen Russland besonders frech vor, obwohl diese Gesetze sowieso den enormen Appetit dieser Herren nicht zügeln konnten. Der Kongress der Kriegskomitees forderte ganz offen eine verstärkte Rekrutierung weiblicher Arbeitskräfte und das hauptsächlich nicht etwa wegen eines allgemeinen Arbeitsmangels, sondern weil das Komitee den billigeren weiblichen Arbeitskräften den Vorzug gab. Die Herren Gutschkow, Konowalow und Rjabuschinskij forderten erst mal für die „Dauer des Krieges“ eine schnelle Aufhebung der bestehenden gesetzlichen Kontrolle der Kinder- und Frauenarbeit. In zahlreichen Fabriken in Russland arbeiteten 12- und 13-jährige Mädchen. Die ausländischen Unternehmer in Russland folgten dem Beispiel ihrer russischen Kollegen. Es gab nur einen Unterschied. Unser einheimischer Tit Titytscher (russischer Spitzname für profitgierige Kaufleute) schwang keine großen Reden und gab ohne weiteres zu, dass er die Arbeiterin als billiges „Arbeitstier“ brauchte und nicht etwa, weil ein Mangel an männlichen Arbeitskräften bestand.
In anderen Ländern dagegen versteckten die Industriemagnaten ihre „Berechnungen“ hinter einer Nebelfront patriotischer Phrasen. Die Frau solle auf den Spuren von Jeanne d’Arc das Vaterland retten und an der Heimatfront als Soldat dienen. Zwar nicht mit einem Vorderlader bewaffnet, hoch zu Pferd, sondern hinter einer Maschine, und die „Besitzer“ kassierten derweil ihre Profite. Die Frauenarbeit wurde jetzt überall als absolut unentbehrlich bezeichnet. An und für sich ein Neuling auf dem Arbeitsmarkt, wurden die Frauen während des Krieges in allen Produktionsbereichen eingesetzt und fassten überall festen Fuß.
Was sprang jedoch bei der ganzen Sache für die Arbeiterin selbst dabei heraus? Veränderte sich etwa ihre soziale Lage? Ging es ihr jetzt besser? Wir wissen, dass die Rolle der Frau in der Gesellschaft durch ihre Mitarbeit in der Produktion bestimmt wird. Wurde nun diese These durch das Schicksal der Frau im 1. Weltkrieg bestätigt? Es muss für uns ein für allemal klar sein, dass unter der Vorherrschaft des Kapitalismus nicht die Lohnarbeit zählt, sondern nur die Arbeit des „Organisators“, also des Unternehmers, gewürdigt wird. Erst dann begreifen wir auch, dass sich trotz der wachsenden Anzahl der Lohnarbeiterinnen die Situation der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft noch lange nicht verbessert. Im Gegenteil, die Lage der arbeitenden Frauen war im Krieg unerträglich. Die äußerst anstrengende und durch kein Gesetz mehr zeitlich eingegrenzte Arbeitszeit führte überall zu einer Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes der Frauen und zu einer erhöhten Frauensterblichkeit. Auch dies lässt sich ebenfalls ohne weiteres statistisch belegen. Die bürgerliche Gesellschaft war zwar über die Verbreitung der Tuberkulose und einer Reihe anderer Krankheiten, die eine Folge der allgemeinen Erschöpfung waren, beunruhigt, die Bourgeoisie jedoch berauschte sich an ihren Kriegsprofiten, sie wies diese unangenehmen Fakten von sich und bezeichnete sie als den „notwendigen Preis, den wir für den Krieg bezahlen müssen“. Die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen verschlechterten sich von Tag zu Tag. Die hohe Arbeitsintensität, die ständige Akkordhetzerei, die endlosen Arbeitstage und dann vor allem noch die ewige Inflation verschlechterten den Lebensstandard der Arbeiterklasse. Aber die bisherige bürgerliche Lebensweise veränderte sich deshalb noch lange nicht. Wie seit eh und je existierte der Einfamilienhaushalt weiter, und die Frauen mussten auch diese Arbeit verrichten. Wenn nach einem langen und ermüdenden Arbeitstag die Arbeiterin, die Büroangestellte, die Telefonistin oder Schaffnerin endlich nach Hause kamen, dann mussten sie sofort wieder los rennen und ich in verschiedene Schlangen einreihen, um erst einmal Lebensmittel, Brennholz und Petroleum einzukaufen. Überhaupt wurde damals überall Schlange gestanden. In London, Paris, Berlin, Moskau und Petersburg. Die „Warteschlangen“ waren gleichmäßig über die gesamte Welt verteilt. Dies bedeutete für die Menschen sinnlose und langweilige Stunden. Viele Frauen erkrankten oder verloren die Nerven. Neurosen und Geisteskrankheiten nahmen immer mehr zu, und die Inflation verursachte eine systematische Unterernährung. Neugeborene Kinder hatten keine Haut,oder sie waren blind und rachitisch. Sie starben noch, bevor sie gelernt hatten, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Ihre Mütter waren zu erschöpft gewesen. Zusätzlich zu all diesen körperlichen Entbehrungen lauerte im Hintergrund wie eine Gewitterwolke die ständige Sorge um die Angehörigen an der Front. Die Herzen krampften sich zusammen aus Angst über das Schicksal des geliebten Ehemannes, Sohnes oder Bruders. Blut und Jammer an der Front, Entbehrung und Tränen zu Hause. Was unternahm aber das Bürgertum, nachdem es die „patriotischen Frauen“ in der Öffentlichkeit mit seinen Lobhudeleien überschüttet hatte? Versuchte etwa die bürgerliche Gesellschaft, die Situation der Arbeiterinnen während dieser schweren Kriegsjahre zu erleichtern? Schließlich hatte die Frauenarbeit hinter der Front entscheidend zu den Kriegserfolgen beigetragen. Wenn sich die Bourgeoisie schon weigerte, die Frauenrechte anzuerkennen, dann hätte doch zumindest ihr einfacher Menschenverstand sie dazu bringen müssen, die Arbeiterinnen vor ihrer Doppelbelastung zu schützen. Den besitzenden Klassen wurde dieses Problem aber nicht einmal bewusst. Während der gesamten Kriegszeit unternahm die Bourgeoisie so gut wie nichts, um das Leben der Frauen zu erleichtern und sie von ihren hauswirtschaftlichen Pflichten zu befreien. (Für die Arbeiterkinder war die private Wohltätigkeit dann auch die einzige Fürsorge). „Zuerst kommt der Krieg. Nach dem Kriege werden wir dann alles wieder in Ordnung bringen“.
Die bürgerlichen Regierungen regelten z. B. mit der Kriegshinterbliebenenfürsorge in gewisser Hinsicht die Lebensverhältnisse der Soldatenfrauen. Sie unternahmen also ausnahmsweise einmal etwas, was im Interesse der Frauen lag. Soldatenfrauen, Kriegerwitwen und Waisen erhielten vom Staat eine feste Unterstützung und gewisse Rechte, zum Beispiel zahlten sie keine Miete für die Wohnung. Diese Regelung hatte man aber nicht den Frauen zuliebe angeordnet, sondern um „die Kampfmoral der Soldaten zu erhöhen“. Trotz der Rente war die Situation der Soldatenfrauen nach wie vor entsetzlich schlecht. In Russland erhielten sie als Unterstützung nur ein paar Pfennige. Im April 1917 – während der Übergangsregierung Kerenskis – als das Existenzminimum bei mehreren hundert Rubeln lag, bekamen die Frauen der Soldaten nach wie vor 79 Rubel im Monat.
Die zunehmende Säuglingssterblichkeit zwang die Regierungen in England, in Frankreich und in Deutschland dazu, den unverheirateten Müttern eine gewisse Beihilfe zu gewähren. Doch auch dieser Beschluss war nur unzureichend und halbherzig. Denn in Wirklichkeit lebten auch diejenigen Mütter und Säuglinge unter wesentlich schlechteren Verhältnissen als früher, deren „Familienversorger“ an der Front kämpften. Die Bourgeoisie sorgte sich nicht um die Mütter und Kleinkinder. Deshalb war es auch völlig natürlich, dass während der gesamten Kriegsperiode die Frauen ganz besonders unruhig waren. Bereits im Frühjahr 1915 organisierten die Arbeiterinnen von Berlin eine gewaltige Demonstration zum Reichstag, wo sie Karl Liebknecht feierten und Philipp Scheidemann auspfiffen. In den meisten Ländern kam es zu Protesten gegen Krieg und Inflation. In Paris stürmten die Frauen im Jahre 1916 die Geschäfte und plünderten die Kohlelager. Österreich erlebte im Juni 1916 einen „dreitägigen Aufstand“, als die Frauen gegen Krieg und Inflation protestierten. Nach der Kriegserklärung und während der Mobilmachung verbarrikadierten in Italien die Frauen die Eisenbahnlinien, indem sie sich auf die Schienen legten, um so wenigstens für einige Stunden die Fahrt der Soldaten in die Hölle und den Tod zu verzögern.
In Russland initiierten die Frauen im Jahre 1915 Unruhen, die wie eine Sturmflut sich von Petersburg und Moskau aus über das gesamte Land ausbreiteten. Zur selben Zeit, als die profitgierigen Unternehmer noch den „weiblichen Patriotismus“ besangen, die Frauen in ihre Fabriken einluden und sich aus Vorfreude über die zukünftige Gewinnspanne die Hände rieben, nahmen die Arbeiterinnen aktiv an den Streikkämpfen teil. Der Krieg brachte den Frauen nur neuen Kummer, dies ist auch die Ursache für die „Frauenunruhen“. Am 23. Februar 1917 (8. März des neuen [1] Kalenders) trat das Frauenproletariat, besonders die Textilarbeiterinnen in Petersburg, auf die historische Bühne und artikulierte den wachsenden Missmut der arbeitenden Klassen. Dieser Aufstand war das Startsignal für die große russische Revolution.
In Bern trafen sich bereits am 26. März 1915 mehrere Sozialistinnen – ich spreche jetzt über den Internationalismus und nicht über den Sozialchauvinismus – zu einer Internationalen Frauenkonferenz, um dort gemeinsam den Protest der Arbeiterinnen gegen den Krieg zu artikulieren und die gemeinsamen Richtlinien für den Kampf der Arbeiterinnen gegen den Weltkrieg festzulegen. Dies war überhaupt der erste internationale Kongress seit Kriegsbeginn. Es gab auf diesem Kongress zwei politische Grundlinien. Die Majoritätsfraktion verurteilte zwar den Krieg, ohne aber von den Sozialchauvinisten Abstand zu nehmen. Die Minoritätsfraktion, unsere russischen Bolschewistinnen, forderten eine Verurteilung der Verräter an der internationalen Solidarität des Proletariats und eine unmissverständliche Antwort auf den imperialistischen Krieg, die Ausrufung des Bürgerkrieges.
Dass dieser erste Internationale Kongress von Sozialistinnen einberufen wurde, war kein Zufall, wir brauchen nur an die unerträgliche und sich ständig verschärfende soziale Lage der Arbeiterinnen während des Weltkrieges denken.
Zwar nahm die Frauenarbeit während des Krieges ständig zu, aber unter Bedingungen, die gleichzeitig verhinderten, dass sich die Lage der Arbeiterinnen verbesserte. Im Gegenteil, sie verschlechterte sich. Der Krieg war nur für die Frauen der Spekulanten, der Kriegsfabrikanten und der vermögenden Schichten ein vorteilhaftes Geschäft. Kurz und gut, es sind jene parasitäre Schichten der Gesellschaft, die nur konsumieren und nicht produzieren, die das Nationaleinkommen verschleudern und verprassen, also dieser Ballast jeder Volkswirtschaft.
Der Krieg brachte dem arbeitenden Volke Leiden und Kummer von bisher unbekanntem Ausmaß. Gleichzeitig jedoch führte die Kriegskonjunktur zu einer raschen Umgruppierung von Industriezweigen und zur Entstehung und Etablierung gigantischer Unternehmen, in denen die Mechanisierung der Produktion sehr hoch entwickelt war. Dieser Prozess erleichterte den Zustrom von unqualifizierten Arbeitskräften in die Produktion. Die Frauenarbeit wurde jetzt ein wichtiger Faktor in der Volkswirtschaft, sie wurde zur Produktionsreserve gerechnet, und die wirtschaftlichen Organisationen (Unternehmerverbände und Gewerkschaften) erkannten die Wichtigkeit der Frauenarbeit uneingeschränkt an. Die Frauenarbeit erhielt einen neuen Stellenwert. Man hörte nirgends mehr das alte Geschwätz über die Pflichten der Frau als „Gattin und Hausfrau“.
Mit der Demobilisierung und dem Übergang zur Friedensökonomie zeigten sich in den kapitalistischen Ländern eindeutige Tendenzen, dass die Frauen wieder aus der Produktion heraus gedrängt werden sollten. Die weibliche Arbeitslosigkeit wuchs wieder rasch an. Die Ursache dafür ist, dass alle am Weltkrieg beteiligten Länder in den Jahren 1918 und 1919 von einer schweren wirtschaftlichen Krise getroffen wurden. Die Demobilisierung der Armeen und der Übergang von Rüstungs- zur Friedensproduktion führte notwendigerweise zu sämtlichen krankhaften Erscheinungen, die einen wirtschaftlichen Zusammenbruch begleiten. Dieser wirtschaftliche Kollaps wurde durch den finanziellen Ruin der Großmächte, die gegenseitige Verschuldung, den Mangel an Rohstoffen und die schreiende Armut der Bevölkerung natürlich noch wesentlich verstärkt. Die Krise, die England, Frankreich, Deutschland und die übrigen europäischen Länder in den Jahren 1918–1919 erlebten, hatte zur Folge, dass die Produktion in zahlreichen Industriezweigen ins Stocken geriet und zur Schließung von Fabriken und Entlassungen von Arbeitern führte. Die Frauen verloren massenweise ihre Arbeitsplätze. Es war aber nicht nur diese ernste Krise, diese allgemeine Aussperrung der Arbeiter, die die zunehmende Arbeitslosigkeit der Arbeiterinnen verursachten, tatsächlich gingen die Unternehmer auch in völlig normal funktionierenden Branchen der Industrie dazu über, die Frauen wieder auf die Straße zu setzen. Hatte ein Unternehmer auf dem Arbeitsmarkt die Wahl zwischen einem Heimkehrer von der Front und einer Arbeiterin, so entschied er sich für gewöhnlich für den Mann. Das mag paradox erscheinen, schließlich waren die Arbeiter damals wenig kooperationsbereit, forderten höhere Löhne und wurden auch im allgemeinen höher bezahlt. Unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen hätten die Unternehmer selbstverständlich die billigeren weiblichen Arbeitskräfte vorgezogen. Wir dürfen aber heute nicht vergessen, dass die Demobilisierung zu einem Zeitpunkt durchgeführt wurde, als sich die Bevölkerung in einer revolutionären Stimmung befand. Seitdem die russische Arbeiterklasse in der Oktoberrevolution die Richtung aufgezeigt hatte, befanden sich die arbeitenden Massen in den anderen Ländern in einem Zustand der angespannten Unruhe. Die Heimkehrer aus dem Kriege waren nervös und gereizt, sie konnten mit dem Gewehr umgehen und waren daran gewöhnt, dem Tod ins Auge zu sehen. Wenn es die Unternehmer gewagt hätten, diesen unruhigen und verbitterten Menschen keinen Arbeitsplatz zu geben, dann wäre für das bürgerliche System eine tödliche Gefahr entstanden. Die Unternehmer zogen aus dieser Situation die Konsequenzen und sahen selber ein, dass es nun günstiger war, auf jenen Teil des Profits zu verzichten, den sie bisher aus der billigen Frauenarbeit gezogen hatten. Sie mussten ihre Vorherrschaft gegenüber der lauernden roten Gefahr verteidigen. Politische Rücksichten hatten nun also den Vortritt gegenüber wirtschaftlichen Überlegungen. In Deutschland, England, Frankreich und Italien mussten jetzt die bisher so beliebten patriotischen Frauen, diese „Heldinnen der Arbeit“ von gestern, diese „Soldaten hinter der Front“, ihre Arbeitsplätze für die heimkehrenden Soldaten räumen. Mit der langsamen Normalisierung der völlig verzerrten Produktion und dem Abflachen der Nachkriegskrise können wir dann auch eine Reduzierung der weiblichen Arbeitslosigkeit feststellen. Doch muss betont werden, dass das Problem der Frauenarbeit noch lange nicht gelöst ist. Im Gegenteil, aufgrund des jetzigen Entwicklungsstadiums der kapitalistischen Weltproduktion, die durch den Konzentrationsprozess in der technisch hochentwickelten Großindustrie gekennzeichnet ist, bleibt dieses Problem weiter bestehen. Natürlich kann von einem erneuten Rückzug der Frau in die vier Wände ihres Einfamilienhauses überhaupt nicht die Rede sein. Zwar sind die Produktionskapazitäten durch die Rüstung ungleichmäßig entwickelt worden, doch sind in den vergangenen Friedensjahren die Branchen der Verbrauchsgüterindustrien inzwischen wieder in Gang gekommen. Deshalb stieg auch der Bedarf an Arbeitskräften, und wie schon in der Vergangenheit sucht sich das Kapital die billigsten Arbeitskräfte aus. Jetzt sehen wir erneut, dass sich die Frauenarbeit in den Fabriken ausbreitet. Der wirtschaftliche Aufschwung in den kapitalistischen Staaten stößt jedoch heute auf gewisse Schwierigkeiten: Auf die immer noch bestehende Lohnarbeit; auf die Tatsache, dass der größte Teil des erwirtschafteten Mehrwertes nach wie vor in die Taschen der Unternehmer fließt; das Fehlen einer gesamtwirtschaftlichen Planung, (z. B. ein statistischer Überblick und eine rationelle Einsetzung aller vorhandenen Arbeitskräfte), und das Missverhältnis zwischen Produktion und Konsumtion. Diese Faktoren setzen der Entfaltung der Produktivkräfte im Rahmen des kapitalistischen Systems unüberwindbare Grenzen. Das kapitalistische Produktionssystem hat ganz einfach ein Stadium erreicht, in dem kein Spielraum mehr vorhanden ist für eine unbegrenzte Entfaltung der Produktivkräfte. Der Kapitalismus hat den Höhepunkt seiner Entwicklung überschritten. Die krisenhafte Entwicklung der kapitalistischen Weltwirtschaft auf der einen Seite und der Sieg der sozialistischen Revolution in Russland haben das Fundament des kapitalistischen Systems erschüttert und noch krisenanfälliger gemacht. Jetzt können sich in den kapitalistischen Ländern die Produktivkräfte nur noch krampfartig und in spastischen Intervallen entwickeln. Die Konjunkturkurve wird ohne Zweifel immer häufiger fallen und steigen. Der für den Kapitalismus typische Wechsel zwischen Hochkonjunktur, stagnierender Wirtschaft und der Krise wird das kapitalistische Produktionssystem immer brutaler in Frage stellen. Es besteht nicht die geringste Hoffnung, dass die Entwicklung der Produktivkräfte unter dem Kapitalismus krisenfrei verlaufen kann, d. h., wir müssen auch in Zukunft mit schweren Wirtschaftskrisen und damit zusammenhängenden Massenentlassungen von Arbeitern rechnen. Von der weiter bestehenden Kriegsgefahr wollen wir gar nicht erst reden, denn diese ist, solange die imperialistische Politik noch nicht zu einem abgeschlossenen Kapitel der Geschichte gehört, immer gegenwärtig. Wie sah nun aber die Perspektive für die Frauenarbeit in jenen Ländern aus, in denen es der Arbeiterklasse nicht gelungen war, dem kapitalistischen System den Garaus zu machen und die jetzt eine ständig sprunghafte Entwicklung durchmachten?
Jeder konjunkturelle Aufschwung, sowohl in den einzelnen Betrieben, wie auch in der Gesamtwirtschaft, hat eine wachsende Anzahl von Frauen in der Produktion zur Folge. Die Zunahme der Frauenarbeit hängt einerseits mit den billigen Frauenlöhnen und andererseits mit der erhöhten Nachfrage nach Arbeitskräften in den expandierenden Industriezweigen zusammen. Jeder Hochkonjunktur folgt unmittelbar eine Stagnation der Wirtschaft. Das Resultat: ein geringeres Angebot an Arbeitsplätzen und Entlassungen. Die Unternehmer werden aus politischen Überlegungen heraus versuchen, die männliche Belegschaft so lange wie möglich zu beschäftigen und deshalb zuerst die Arbeiterinnen rausschmeißen, denn sie machen erfahrungsgemäß als „Freigestellte“ weniger Ärger. Der von mir eben beschriebene Zusammenhang ist im Allgemeinen für den Kapitalismus typisch. In der augenblicklichen Weltlage tritt jedoch diese Dialektik (also der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Aneignung) in einer besonders zugespitzten Form in Erscheinung. Jede neue Krise führt zu immer heftigeren Erschütterungen in der gesamten Volkswirtschaft, zieht immer größere Kreise und erfasst immer breitere Bevölkerungsschichten. Solange der Kapitalismus noch nicht abgeschafft ist, bleibt das Problem der Frauenarbeit, das ja ein Bestandteil der gesamten Problematik ist, die mit dem Verhältnis von Arbeit und Kapital zusammenhängt, ungelöst. Die Arbeiterinnen, als Bestandteil der Arbeiterklasse, können in den kapitalistischen Ländern nicht mit einer Verbesserung ihrer Lage rechnen, solange das Kapital noch über die Arbeit herrscht und das Privateigentum noch einer Produktions-, Konsumtions- und Exportplanung im Wege steht.
Genossinnen, ihr müsst euch darüber im Klaren sein, dass das Problem der Frauenarbeit sich solange nicht lösen lässt, solange das Gespenst der Arbeitslosigkeit die werktätigen Frauen verfolgt. Solange dies der Fall ist, kann überhaupt nicht die Rede davon sein, dass die so schwierige Frauenfrage in ihrer Gesamtheit irgendwie gelöst werden kann.
Zwar waren einige bürgerliche Staaten seit dem Kriegsende gezwungen, eine Reihe von Reformen durchzuführen, die auch etwas mit der Lage der Frau zu tun haben, aber diese Kompromisse, für die die militanten Suffragetten im vorigen Jahrhundert in England mit der Bombe in der Hand gekämpft hatten und die wesentlich friedlicheren bürgerlichen Frauenrechtlerinnen in unzähligen Bittschriften erfolglos gebettelt hatten, diese Kompromisse sind der Bourgeoisie nur aus zwei Gründen abgerungen worden: Zum einen durch das für die Bourgeoisie so abschreckende Beispiel der Revolution in Russland und zum anderen durch die in den Massen weitverbreitete Stimmung für eine Demokratisierung der Gesellschaft. Um diese weitverbreitete revolutionäre Stimmung zu dämpfen und um den Arbeitern zu beweisen, dass eine „soziale Revolution“ überflüssig sei, weil es auch andere erfolgreiche Möglichkeiten gäbe, an die Macht zu kommen, verteilte die Bourgeoisie Almosen, wie etwa die Wahlrechtsreform (das Frauenstimmrecht eingeschlossen). Figuren wie David Lloyd George, Hjalmar Karl Branting, Philipp Scheidemann und Gustav Noske „kümmerten sich um das Wohlergehen der Arbeiter“ und behaupteten, dass sie für die Arbeiter zwar noch nicht die ganze Staatsmacht, aber immerhin einen „gerechten Anteil“ erkämpft hätten.
In England, Deutschland, Schweden und Österreich erhielten die Frauen nach dem Kriege das Stimmrecht aufgrund bestimmter politischer Erwägungen und nicht als Belohnung für ihre „patriotischen Leistungen“.
Dieses formale Recht veränderte aber nicht die tatsächliche Stellung der Frau in der bürgerlichen Klassengesellschaft. Auch nach dem Kriege befand sich die Frau noch immer in der gleichen gesellschaftlichen Rolle wie vor dem Kriege. Sie ist in sämtlichen bürgerlichen Ländern noch immer die Dienstmagd der Familie und der Gesellschaft. Die Reform der bürgerlichen Gesetzgebung zugunsten der Frau und auch die einzelnen Gesetzesinitiativen, die die Gleichstellung der Ehegatten zum Ziel hatten, haben im Großen und Ganzen nur zu unbedeutenden Verbesserungen geführt. Im Grunde genommen haben sich die alten Verhältnisse, die alte Diskriminierung und die alte Packerei nicht geändert.
In den bürgerlichen Ländern ist die Frauenfrage bestimmt nicht gelöst. Im Gegenteil, die Frauenfrage spitzt sich vor dem Hintergrund der sozialen Situation der Frauen immer mehr zu. Wie sollen die Frauen ihre Berufsarbeit mit ihrem Familien- und Eheleben vereinbaren? Wie werden die Frauen die ewige Hausarbeit los, die nur unnötige Energien verbraucht? Diese Energien könnten die Frauen wirklich vernünftiger verwenden, z. B. für wissenschaftliche Arbeiten oder im Dienste einer Idee.
Die ungelösten Probleme, die die Frauenfrage aufwirft: Die Mutterschaft, die Abtreibung, der Gesundheitsschutz und die Kindererziehung, werden im Kapitalismus zementiert. Es ist für die Frauen unmöglich, aus diesem Labyrinth auszubrechen. Die Unantastbarkeit des Privateigentums, das Fortbestehen des privaten Einfamilienhaushaltes, das zähe Überleben der individualistischen Gewohnheiten und Traditionen und die mangelnde Erfahrung mit kollektiven Gesellschaftsformen haben die Frauenfrage im Kapitalismus zu einem komplizierten und unlösbaren Knoten verschlungen. Auch jene Männer, die an und für sich den Frauen freundschaftlich gesinnt sind, werden zur Lösung der Frauenfrage wenig beitragen können, solange die Macht des Kapitals ungebrochen ist.
Erst wenn das Proletariat sich erhebt, wird es auch imstande sein, diesen Knoten zu zerschlagen. Die Erfahrung in Russland während der ersten vier Revolutionsjahre zeigen uns, dem Weltproletariat und ganz besonders den Proletarierinnen, wie wir aus dieser Sackgasse herauskommen können. Welcher Weg bringt den Frauen nicht nur eine formale und oberflächliche Gleichberechtigung, sondern eine wirkliche und inhaltliche Befreiung?
Wie wir dieses Ziel erreichen können, dies werden wir in der nächsten Vorlesung untersuchen.
1. In der Vorlage fälschlich „alten“.
Zuletzt aktualisiert am 27. Juni 2020