Alexandra Kollontai

Die Situation der Frau in der
gesellschaftlichen Entwicklung

* * *

12. Vorlesung

Die Diktatur des Proletariats:
Die revolutionäre Veränderung
des Alltags


In des letzten beiden Vorlesungen haben wir uns mit den objektiven Ausgangsbedingungen für das neue Wirtschaftssystem vertraut gemacht, das das Proletariat in Russland seit seiner Machtergreifung errichtet hat. Die allgemeine Arbeitspflicht ist ein sehr wichtiger Teil dieser neuen Produktionsweise, und wir haben auch gezeigt, wie sich durch diese allgemeine Arbeitspflicht die gesellschaftliche Situation der Frau von Grund auf geändert hat. Heute wollen wir untersuchen, ob und wie dieses neue Wirtschaftssystem den Alltag der Menschen, ihre Gewohnheiten, ihr Bewusstsein und ihre Erwartungen verändert hat. Wir werden außerdem die Anschauungen untersuchen, die diesem neuen Wirtschaftssystem zugrunde liegen, das das Fundament der kommunistischen Gesellschaft sein soll.

Jeder logisch denkende Mensch muss zugeben, dass sich das tagtägliche Leben gewaltig verändert hat. Während der letzten vier Jahre haben wir z. B. in unserer Arbeiterrepublik mit den Ursachen der seit Jahrhunderten währenden Rechtlosigkeit der Frau gründlich aufgeräumt. Unsere Sowjetregierung mobilisiert die Frauen für die Produktion, und der Alltag der Frauen wird nach völlig neuen Prinzipien umgestaltet. Es entstehen überall kollektive Verhaltensweisen, Traditionen, Vorstellungen und Begriffe, welche schon heute auf die künftige kommunistische Gesellschaft hinweisen. Eine der notwendigen Voraussetzungen für die kommunistische Wirtschaft ist die Umorganisierung des Konsums. Die Reorganisierung des Konsumsektors muss aufgrund kommunistischer Prinzipien erfolgen und darf sich keineswegs nur auf die möglichst genaue Berechnung der zukünftigen Nachfrage oder die gerechte Verteilung der vorhandenen Waren beschränken. Seit Herbst 1918 verwirklichen wir in sämtlichen Städten das Prinzip der öffentlichen Volkskantinen, der Einfamilienhaushalt wird durch die öffentlichen Kantinen der örtlichen Sowjets und das kostenlose Mittagessen für Kinder und Jugendliche verdrängt. Ein weiterer Ausbau der öffentlichen Volkskantinen und eine Verwirklichung dieses Prinzips für die gesamte Gesellschaft wird durch unsere Armut und den Mangel an Waren verhindert. Im Prinzip aber praktizieren wir bereits dieses kollektive Versorgungssystem und richten die notwendigen Verteilerstellen ein. Leider fehlen uns aber die Nahrungsmittel für eine planmäßige und zentrale Versorgung.

Die imperialistischen Staaten haben über unser verarmtes Land eine wirkungsvolle und hinterhältige Blockade verhängt. Sie verhindern, dass andere Völker uns Produkte liefern, die wir zentral an die Bevölkerung verteilen könnten, solange wir noch unter einem allgemeinen Mangel an Waren leiden. Trotzdem haben wir es erreicht, dass die öffentlichen Volkskantinen ein fester Bestandteil im Alltag der Stadtbevölkerung geworden sind und dass diese Einrichtung allgemein akzeptiert wird, obwohl die Versorgung unzureichend und das Essen schlecht ist. Es fehlen aber nicht nur Nahrungsmittel, sondern die vorhandenen werden auch oft falsch verwendet. Dennoch wurden in den Jahren 1919–20 fast 90 % der gesamten Bevölkerung in Petersburg und 60 % der Bevölkerung in Moskau durch unsere öffentlichen Volkskantinen versorgt. Im Jahre 1920 wurden zwölf Millionen Menschen in den Städten, einschließlich der Kinder, durch öffentliche Volkskantinen verköstigt. Es ist einleuchtend, dass allein schon diese Veränderung den „Alltag“ der Frauen beeinflusst. Der Küchendienst hatte, noch stärker als die Mutterschaft, die Frau in Fesseln gelegt. Heute ist die Küche nicht länger eine der Säulen, auf der die Existenz der Familie beruht. Natürlich spielt der Einfamilienhaushalt in den Übergangsperiode noch eine wichtige Rolle; daran wird sich auch nicht sehr viel ändern, solange der Kommunismus noch ein Fernziel ist, die bürgerlichen Verhaltensnormen noch nicht überlebt sind und die Volkswirtschaft noch nicht von Grund auf neu organisiert ist. Der häusliche Herd hat aber bereits in der Übergangsperiode seinen Ehrenplatz verloren. Sobald wir unsere Armut und unseren Hunger gebannt haben werden und den allgemeinen Zerfall der Produktivkräfte gestoppt haben, werden wir die Qualität der öffentlichen Volkskantinen erheblich verbessern und die Familienküche wird zur gelegentlichen Aushilfsküche degradiert werden. Denn die Arbeiterin sieht ja schon heute selbst ein, dass sie mit Hilfe von Fertigmahlzeiten enorm viel Zeit sparen könnte. Warum aber schimpft die Arbeiterin heute noch über die öffentlichen Volkskantinen? Die Mahlzeiten, die heute ausgegeben werden, sind nicht nahrhaft genug und sättigen kaum. Deshalb sind die Arbeiterinnen nach wie vor gezwungen, in ihrer eigenen Küche eine Zusatzmahlzeit herzurichten, obwohl sie dazu eigentlich überhaupt keine Lust mehr haben. Wenn die Qualität des Essens in den Volkskantinen besser wäre, würden nur noch sehr wenige Frauen daheim kochen. In der bürgerlichen Gesellschaft war die Frau sehr eifrig bemüht, mit Hilfe ihrer Kochkünste ihren Ehemann und Ernährer bei guter Laune zu halten, denn der Mann war der Versorger der Familie. In einem Arbeiterstaat ist aber die Frau ein selbständiger Mensch und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, dass es bei uns sehr viele Frauen geben soll, die aus reinem Zeitvertreib am häuslichen Herd stehen wollen, nur um ihren Mann zu beglücken. Wir müssen eben die Männer so umerziehen, dass sie die menschliche Anziehungskraft und Persönlichkeit ihrer Frau und nicht deren Kochkunst schätzen. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Frau ist die „Trennung von Küche und Ehe“ tatsächlich eine sehr wichtige Reform; für die Frau nicht weniger wichtig, als die Trennung von Staat und Kirche. In der Praxis ist jedoch die Trennung von Küche und Ehe noch nicht überall verwirklicht, obwohl in unserer Arbeiterrepublik schon in den ersten Monaten nach der Revolution mit der Einrichtung von öffentlichen Volkskantinen begonnen wurde. Die Volkskantinen sind im Gegensatz zum Einfamilienhaushalt eine sinnvolle und gewinnbringende Einrichtung, denn wir sparen Arbeitskräfte, Energie und Nahrungsmittel. Diese praktischen Erfahrungen sind für uns sehr wichtig, weil die Richtlinien für unsere zukünftige Wirtschaftspolitik auf den bisherigen Erfahrungen aufbauen sollen. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage hat außerdem zu einem verstärkten Ausbau der öffentlichen Volkskantinen geführt.

Die Lebensbedingungen und das Bewusstsein unserer Frauen werden natürlich auch durch die neuen Wohnverhältnisse beeinflusst. In keinem anderen Land gibt es so viele kollektive Wohnformen wie in unserer Arbeiterrepublik. Kollektive Wohnkommunen, Familienheime und besonders auch die Wohnungen für allein stehende Frauen sind bei uns weit verbreitet. Ihr müsst auch beachten, dass sich sehr viele Menschen um einen Platz in diesen Wohnkommunen bemühen; und zwar tun sie dies nicht aufgrund von irgendwelchen frommen „Prinzipien“ oder aus Überzeugung, wie z. B. die Fourieristen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die damals unter dem Einfluss der sozialistischen Ideen von Charles Fourier durch und durch künstliche und dementsprechend ungemütliche „Phalansterien“ errichteten.

Nein, in unseren Wohnkommunen suchen die Menschen deshalb einen Platz, weil man dort besser und auch bequemer wohnt als in einer Privatwohnung. Die Wohnkommunen werden ausreichend mit Brennholz und Elektrizität versorgt, in den meisten Wohnkommunen gibt es außerdem eine gemeinsame Küche und einen Heißwasserspeicher. Die notwendigen Reinigungsarbeiten werden von bezahlten Putzfrauen erledigt, in einigen Wohnkommunen gibt es eine zentrale Wäscherei, eine Kinderkrippe oder einen Kindergarten. Je stärker sich die allgemeine Krise der Volkswirtschaft bemerkbar machte, Brennholz und Petroleum zu Mangelware wurden und niemand mehr die veralteten Wasserleitungen instand hielt, desto mehr Menschen suchten angestrengt nach einem Wohnplatz in einer Hauskommune. Die Wartelisten für kollektive Hauskommunen werden länger und länger, und die Bewohner unserer Kommunen werden von den Bewohnern der Privatwohnungen beneidet.

Natürlich hat die Hauskommune noch lange nicht das Mietshaus verdrängt und die meisten Stadtbewohner müssen nach wie vor im traditionellen Privathaushalt und in einer abgekapselten Familie leben. Der große Fortschritt besteht jedoch darin, dass wir heute dabei sind, die Sozialnormen des traditionellen Familienlebens zu überwinden. Nun gut, heute mag es ja noch so sein, dass viele alleinstehende Männer und Frauen, aber auch Familien, sich nur aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation, in der sie sich befinden, um einen Platz in einer Hauskommune bemühen. Trotzdem ist für uns die Tatsache äußerst interessant, dass unsere Hauskommunen, die ja auch unter ungünstigen Bedingungen entstehen, von vielen Stadtbewohnern in mehrfacher Hinsicht den privaten Mietwohnungen vorgezogen werden. Natürlich werden die kollektiven Wohnformen, sobald ein wirtschaftlicher Aufschwung auch auf dem Wohnungssektor zusätzliche Investitionen ermöglicht, den unwirtschaftlichen Einfamilienhaushalt, in dem die Arbeitskräfte unserer Frauen vergeudet werden, endgültig aus der Konkurrenz werfen. Mehr und mehr Frauen nämlich wird schon heute klar, welche Vorteile das Leben in den Wohngemeinschaften gerade denjenigen Frauen bietet, die unter der Doppelbelastung von Beruf und Familie leiden. Gerade für die werktätigen Frauen bedeutet ein Leben in einer Wohngemeinschaft eine ungeheure Erleichterung; die gemeinsame Küche, die zentrale Wäscherei, die gesicherte Versorgung mit Brennholz, heißem Wasser und Elektrizität und die Arbeit von Putzfrauen ersparen ihr zahlreiche Arbeiten. Jede berufstätige Frau müsste sich deshalb besonders eines wünschen: dass es bald wesentlich mehr Hauskommunen gibt, um der in jeder Hinsicht unproduktiven und kräfteverschleißenden Hausarbeit für immer ein Ende zu machen.

Natürlich gibt es auch noch solche Frauen, die sich verbissen an vergangene Zeiten klammern; bei diesem Durchschnittstypus einer „Ehefrau“ dreht sich das ganze Leben ausschließlich um den häuslichen Herd. Diese legalen Mätressen – häufig auch die Gattinnen von Arbeitern – finden sogar noch innerhalb einer kollektiven Wohngemeinschaft einen Weg, ihr Leben im Dienste des eigenen Kochtopfes zu verbringen. Wenn sich die kommunistische Produktionsweise in unserer Gesellschaft immer mehr durchsetzt, werden diese ausgebeuteten Geschöpfe eines Tages einfach historisch überholt sein. Die Erfahrungen der letzten Revolutionsjahre haben uns bewiesen, dass die kollektiven Hauskommunen nicht nur aus verwaltungstechnischen Gründen eine zweckmäßige Antwort auf die Wohnungsfrage geben, sondern dass diese Wohnform auch den Alltag der berufstätigen Frauen erleichtert. Sogar in der augenblicklichen Übergangsphase bleibt den Frauen, die in Wohngemeinschaften leben, schon jetzt mehr Zeit für ihre Familie und ihren Beruf. Der Einfamilienhaushalt wird deshalb mit der beschleunigten Einrichtung von Hauskommunen mit individuellen Wohneinheiten – die sich selbstverständlich den Bedürfnissen und dem individuellen Geschmack entsprechend unterscheiden werden – endgültig verschwinden. Zugleich wird damit aber auch eine der Säulen der heutigen bürgerlichen Familie fallen. Wenn die Familie aufhört, eine ökonomische Einheit der kapitalistischen Gesellschaft zu sein, kann sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr länger existieren. Ich bin jedoch sicher, dass diese Erklärung bei den Anhängern der bürgerlichen Familie und des egoistisch abgekapselten Einfamilienhaushaltes heute noch kein allzu großes Erschrecken auslösen wird. In der jetzigen Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus, also in der Phase der Diktatur des Proletariats, tobt ununterbrochen ein äußerst erbitterter Kampf zwischen den kollektiven Lebens- und Konsumformen und den traditionellen Lebensformen des privaten Einfamilienhaushaltes. Leider gibt es auf diesem Gebiet noch sehr viel zu tun.

Nur durch ein entschlossenes Auftreten jenes Teils der Bevölkerung, der am meisten an einer konsequenten Veränderung der bürgerlichen Familienformen interessiert sein müsste – unsere berufstätigen Frauen also – kann die Entwicklung in die Richtung beschleunigt werden.

Die statistischen Materialien über das Wohnungswesen sind in unserer Republik noch äußerst mangelhaft; dennoch reichen die uns zugänglichen Informationen aus Moskau aus, um die bedeutende soziale Rolle der Hauskommunen zumindest in den größeren Städten aufzuzeigen. Nach diesen Angaben gab es im Jahre 1920 in Moskau insgesamt 23.000 Häuser. In nahezu 40 % dieser Häuser, d. h. in ca. 9.000, gab es entweder kollektive Wohngemeinschaften oder Hauskommunen mit individuellen Wohneinheiten. Wir haben also in unserer Arbeiterrepublik bereits in den ersten Jahren Mittel und Wege gefunden, um die Frauen langsam aber sicher von der unproduktiven Hausarbeit zu befreien.

Dies ist jedoch nur ein weiterer Aspekt der Gesamtproblematik, denn schließlich ist die Frau auch für die Erziehung und den Unterhalt ihrer Kinder verantwortlich. Diese anstrengende Aufgabe fesselt die Frauen besonders fest an ihr Heim und ihre Familie. Durch ihre Politik aber schützt die Sowjetregierung nicht nur die soziale Funktion der Mutterschaft, sondern entlastet die Mütter, indem sie die soziale Verantwortung für die Kinder auf die Gesamtgesellschaft überträgt. Wir konnten eine Reihe von Fehlern bei der Suche nach neuen proletarischen Lebensformen nicht vermeiden und mussten deshalb die allgemeinen Verordnungen mehrfach verändern und verbessern. Trotzdem haben wir in unserer Arbeiterrepublik folgende Probleme richtig angefasst und gelöst: die Fragen des Mutterschutzes und des Arbeitsschutzes für Mütter. Wir erleben auf diesem Gebiet deshalb im Moment eine sehr tiefgreifende und umfassende Revolutionierung der bisherigen Traditionen und Denkweisen, weil wir einerseits bei uns das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft haben und andererseits, weil wir unsere Familienpolitik vor dem Hintergrund der beabsichtigten Industrialisierungspolitik entwickeln. Das wichtigste Problem der kapitalistischen Gesellschaft haben wir auf jeden Fall gelöst.

So haben wir z. B. in unserer Sowjetrepublik die Frage des Mutterschutzes in voller Übereinstimmung mit den wichtigsten ökonomischen Aufgaben gelöst. Um die Produktion wieder in Gang zu setzen und um die Produktivkräfte in unserem Lande zu entwickeln, müssen wir alle potentiellen Arbeitskräfte von ihrer bisherigen unproduktiven Arbeit befreien und diese noch vorhandenen Arbeitskräftereserven für den Wiederaufbau der Volkswirtschaft nützen. Aber gerade deshalb müssen wir auch besonders darauf achten, dass kommende Arbeitergenerationen die Existenz unserer Arbeiterrepublik garantieren. Unsere Arbeiterregierung entwickelt jedenfalls zur Zeit völlig neue Perspektiven. Wenn man diese Perspektiven für richtig hält, dann muss man auch einsehen, dass sich das Problem der Frauenbefreiung und der Mutterschaft bei uns von allein löst. Die Unterhaltspflicht für die kommende Generation ist jetzt nicht länger Aufgabe der Familie, sondern Aufgabe des Staates und der Gesellschaft, und die besondere Fürsorge für unsere Mütter geschieht nicht nur aus Rücksicht auf diese Frauen, sondern weil unser Arbeiterstaat in dieser Übergangsperiode wichtige ökonomische Aufgaben lösen muss: Wir müssen die Frauen von der unproduktiven Arbeit im Dienste der Familie befreien, damit sie endlich auf eine vernünftige Art und Weise – auch im Interesse der Familie – arbeiten können. Die Gesundheit der Frauen muss besonders geschützt werden, weil nur so eine positive Entwicklung des Bevölkerungswachstums in unserer Arbeiterrepublik garantiert werden kann. In der bürgerlichen Gesellschaft verhindert der Klassenantagonismus, die Aufsplitterung der Gesellschaft in Einfamilienhaushalte und natürlich auch die kapitalistische Produktionsweise eine Diskussion über die Frage des Mutterschutzes. Dagegen wird in unserer Arbeiterrepublik in der der Einfamilienhaushalt der kollektiven Volkswirtschaft untergeordnet ist und wo die Gesellschaftsklassen sich auflösen und verschwinden werden, die oben dargestellte Lösung der Frage des Mutterschutzes von der gesellschaftlichen Dynamik selbst gelöst werden. Die augenblickliche Notsituation diktiert diese Lösung geradezu; und außerdem werden die Frauen bei uns als potentieller oder aktueller Teil der Arbeiterklasse behandelt. Die Mutterschaft ist bei uns keine private und familienrechtliche Angelegenheit mehr, sondern eine wichtige soziale und zusätzliche Funktion der Frau. Genossin Wera P. Lebedjewa, erklärte: „Der Mutterschutz und die Fürsorge für die Kleinkinder“ ist ein „Faktor“ innerhalb unserer Politik für die Eingliederung der „Frau in den Arbeitsprozess“.

Wenn wir den Frauen die Mitarbeit in der Produktion ermöglichen wollen, dann muss das Kollektiv den Frauen sämtliche Bürden der Mutterschaft abnehmen, weil sonst die natürliche Funktion der Frauen von der Gesellschaft ausgenutzt wird. Arbeit und Mutterschaft sind dann miteinander vereinbar, wenn die Erziehung der Kinder nicht mehr länger eine private Aufgabe der Familien, sondern eine soziale Aufgabe des Arbeiterstaates ist. Unsere Sowjetregierung hat die Betreuung und Erziehung der Kleinkinder und Kinder zu ihrem Anliegen gemacht. Verantwortlich für diese Aufgabe ist die Abteilung für Mütter und Säuglingsschutz, die unter der Leitung der Genossin Wera P. Lebedjewa steht, und die Abteilung für Sozialpädagogik beim Volkskommissariat für das Bildungswesen. Die Mutter soll prinzipiell von allen Belastungen der Mutterschaft befreit werden, und sie soll das Zusammensein mit dem Kind voll genießen können. Tatsächlich haben wir dieses Ziel noch lange nicht erreicht. Wir stoßen beim Aufbau dieser neuen proletarischen Lebensformen, die die berufstätigen Frauen von ihren Familienpflichten befreien sollen, immer und immer wieder auf dasselbe Hindernis: die wirtschaftliche Not. Doch die wesentlichen Vorarbeiten haben wir bereits geleistet und die richtige Methode für die Lösung der Mutterschaftsfrage entwickelt. Jetzt müssen wir entschlossen auf dem bereits eingeschlagenen Weg weitergehen. In der letzten Vorlesung habe ich die sozialpolitischen Maßnahmen für die Mütter dargestellt. Wir geben uns aber in unserer Arbeiterrepublik nicht damit zufrieden, die Mutterschaft finanziell und materiell abzusichern, sondern versuchen vor allem, die Existenzbedingungen und die Lebensweise der Frauen so zu verändern, dass die Frauen unter den günstigsten Voraussetzungen ihre Kinder zur Welt bringen, und dass die Kinder außerdem die notwendige Fürsorge und Pflege erhalten, die ihre Gesundheit und Entwicklung garantieren. Deshalb hat unser Arbeiter- und Bauernstaat seit der Revolution versucht, ein engmaschiges Netz von sozialen Einrichtungen für die Mütter und die Kleinkinder im ganzen Lande zu errichten. Als ich Volkskommissarin für soziale Fürsorge war, habe ich als erstes die Verordnung über den Frauenschutz ausgearbeitet.

Damals wurde beim Volkskommissariat für das Gesundheitswesen eine Abteilung für Mütter- und Säuglingsschutz, sowie ein „Mutterschutzpalais“ eingerichtet. Seitdem hat sich das System des staatlichen Mutterschutzes natürlich weiterentwickelt und unter der entschlossenen Anleitung unserer mutigen Genossin Wera P. Lebedjewa fest etabliert. Im zaristischen Russland gab es insgesamt nicht mehr als sechs Beratungsstellen für schwangere und stillende Frauen. Heute gibt es dagegen mehr als 200 solcher Beratungsstellen und darüber hinaus noch 138 Milchküchen.

Die Funktion der Mutter muss nicht notwendigerweise darin bestehen, um jeden Preis die Windeln ihres Kindes selbst zu waschen, ihr Baby selbst zu baden und an seiner Wiege zu sitzen. Es ist deshalb unsere Hauptaufgabe, die berufstätige Frau bei der unproduktiven Pflegearbeit für ihr Kind zu entlasten, denn die soziale Funktion der Mutter besteht ja schließlich darin, gesunde und lebensfähige Kinder zur Welt zu bringen. Dies ist auch der Grund, warum unsere proletarische Gesellschaftsordnung die bestmöglichsten Bedingungen für die Schwangerschaft garantiert und warum die Frau ihrerseits sich an die notwendigen hygienischen Vorschriften halten muss. Die Frau muss einsehen, dass sie während der Schwangerschaftsmonate eben nicht ganz und gar ihre eigene Herrin ist. Denn die Frau steht sozusagen im Dienste der Gesellschaft und „produziert“ mit ihrem Körper ein neues Mitglied der Arbeiterrepublik. Es ist außerdem eine weitere Aufgabe der Frau, die sich aus der sozialen Funktion der Mutterschaft ergibt, dass sie ihr Kind mit Ammenmilch ernährt. Nur wenn sie dies tut, hat sie ihre soziale Pflicht gegenüber ihrem Kind erfüllt. Die weitere Fürsorge für die kommende Generation kann nämlich dann vom Kollektiv übernommen werden. Der starke Mutterinstinkt darf natürlich nicht unterdrückt werden, aber warum sollten sich Fürsorge und Liebe der Mutter auf das eigene Kind beschränken? Ist es nicht menschlicher, wenn die Mütter ihren wertvollen Instinkt auf eine sinnvollere Weise verwenden und zwar für die Fürsorge aller schutzbedürftigen Kinder? Denn nicht nur das eigene Kind braucht Liebe und Zärtlichkeit. Deshalb wird in unserer Arbeiterrepublik bei den Frauen folgende Parole propagiert: Du bist nicht ausschließlich die Mutter für deine eigenen Kinder, sondern Mutter für alle Arbeiter- und Bauernkinder. Hinter dieser Losung steht die Absicht, die mütterlichen Gefühle unserer berufstätigen Frauen dauernd wachzuhalten, denn wir können es z. B. nicht zulassen, dass eine Mutter, vielleicht sogar eine Kommunistin, einem fremden Kinde ihre Muttermilch verweigert. Einem Kinde, das aufgrund von Unterernährung sehr geschwächt ist, darf man nicht die Hilfe verweigern, weil es nicht das eigene Kind ist. Aufgrund seiner kommunistischen Gefühle und Gedanken wird der zukünftige Mensch einem solch egoistischen und unsozialen Verhalten gegenüber ungefähr so befremdet sein, wie etwa wir heute den Kopf über Erzählungen schütteln, in denen uns von Frauen primitiver Stämme berichtet wird, die einerseits ihr eigenes Kind zärtlich lieben und andererseits ein zu einem fremden Stamm zugehöriges Kind mit gutem Appetit verspeisen.

Noch so ein Irrsinn: Dürfen wir es etwa einer Mutter gestatten, ihrem eigenen Kind die Brust zu verweigern, nur weil ihr die Mutterpflicht zu beschwerlich ist? Es ist in der Sowjetrepublik heute eine traurige Tatsache, dass die Anzahl der Kinder zunimmt, die von ihren eigenen Eltern verlassen wurden. Solche Erscheinungen zwingen uns unter anderem dazu, das Problem der Mutterschaft richtig zu lösen. Dies ist uns jedoch noch nicht zufriedenstellend gelungen. In der jetzigen schwierigen Übergangsperiode leiden Hunderttausende von Frauen unter einer doppelten Last: Unter der Lohnarbeit und unter der Mutterschaft. Es gibt viel zu wenig Kinderkrippen, Kindergärten und Mütterheime, und auch die finanzielle Unterstützung für die Mütter hält mit der Verteuerung der Waren auf dem freien Markt nicht Schritt. Dieser Prozess führt dazu, dass die Arbeiterin vor der Bürde der Mutterschaft entsetzt zurückschreckt. Einerseits zwingen diese Verhältnisse die Frauen dazu, ihr Kind an den Staat zu „übergeben“, andererseits aber zeigt die Anzahl der ausgesetzten Kinder uns auch, dass die Frauen in unserer Arbeiterrepublik noch nicht voll und ganz begriffen haben, dass die Mutterschaft eben eine soziale Pflicht und nicht eine Privatsache ist. Ihr werdet mit Frauen zusammenarbeiten. Deshalb müsst ihr dieses Problem besonders genau durchdenken, um unseren Industriearbeiterinnen, Bäuerinnen und Landarbeiterinnen eingehend erklären zu können, welche besonderen Pflichten in unserer Arbeiterrepublik eine Mutter hat. Gleichzeitig müssen wir aber auch den gesetzlichen Mutterschutz und das Schulsystem verbessern. Je weniger Komplikationen unseren Frauen aus der Kombination von Berufsleben und Mutterschaft entstehen, desto geringer wird auch die Anzahl der von ihren eigenen Eltern verlassenen Kinder sein.

Wir haben bereits darüber diskutiert, dass die Funktion der Mutterschaft nicht darin besteht, dass die Kinder ständig in der unmittelbaren Nähe ihrer Mutter sind und dass auch nicht ausgerechnet die Mutter einzig und allein für das körperliche Wohlergehen und die geistige Erziehung ihres Kindes verantwortlich sein muss. Andererseits ist es aber die Pflicht jeder Mutter, ihr Kind in einem Milieu aufwachsen zu lassen, das für die Entwicklung des Kindes tatsächlich auch günstig ist.

Schaut euch doch die bürgerliche Gesellschaft an. In welcher Klasse dieser Gesellschaft findet man die aufgewecktesten und gesündesten Kinder? Natürlich bei den wohlhabenden Schichten. Bei den armen Leuten könnt ihr lange suchen und erfolglos. Und warum ist dies so? Etwa deshalb, weil sich die bürgerliche Mutter ausschließlich der Erziehung ihres Kindes widmet? Davon kann gar nicht die Rede sein. Gerade die bürgerlichen Frauen überlassen nämlich mit Vorliebe bezahlten Hilfskräften die Fürsorge für ihr Kind: Kinderfrauen, Ammen und Erzieherinnen. Nur bei den armen Leuten müssen ausschließlich die Mütter selbst die ganze Bürde der Mutterschaft tragen. Meistens sind deren Kinder dann auch sich völlig selbst überlassen und werden von der Straße und vom Zufall erzogen. In den kapitalistischen Ländern sterben die Arbeiterkinder und die Kinder aus den anderen armen Bevölkerungsschichten trotz der Fürsorge ihrer Mütter wie die Fliegen. Von einer Erziehung im ursprünglichen Sinne des Wortes kann überhaupt keine Rede sein. Deshalb versucht natürlich auch in der bürgerlichen Gesellschaft jede vernünftige Mutter, wenigstens einen Teil der Fürsorgepflicht für das eigene Kind an die Gesellschaft abzugeben. Sie versucht, ihre Kinder in den Kindergarten, in die Schule oder in ein Ferienheim zu schicken. Denn jede vernünftige Mutter sieht natürlich von selbst ein, dass die gesellschaftliche Erziehung ihrem Kinde etwas bieten kann, was durch Mutterliebe allein nicht ersetzt werden kann. Wer es sich in der bürgerlichen Gesellschaft wirtschaftlich leisten kann, legt den allergrößten Wert darauf, dass sein Kind durch beruflich qualifizierte Kinderschwestern, Kindergärtnerinnen, Ärzte und Lehrer betreut wird. Die körperliche Fürsorge und geistige Erziehung des Kindes wird weitgehend durch bezahlte Kräfte und nicht von der Mutter wahrgenommen. Diesen Müttern bleibt tatsächlich nur noch die biologische Aufgabe, die ihnen niemand abnehmen kann, nämlich ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Natürlich nimmt in unserer Arbeiterrepublik niemand den Müttern ihre Kinder mit Gewalt weg, wie dies in der bürgerlichen Propaganda gern behauptet wird, wenn dort die Schrecken der „Bolschewistenherrschaft“ in grellen Farben geschildert werden. Wir bemühen uns aber darum, staatliche Einrichtungen aufzubauen, die allen, nicht nur den wohlhabenden Müttern die Möglichkeit bieten, ihre Kinder in einer normalen und gesunden Umwelt aufwachsen zu lassen. Während die bürgerlichen Frauen die Fürsorge für ihre Kinder bezahlten Hilfskräften überlassen, ist es das Ziel der Sowjetregierung, dass alle Arbeiterinnen und Bäuerinnen mit gutem Gewissen zur Arbeit gehen können, weil sie wissen, dass ihr Kind in einem Säuglingsheim, Kindergarten oder in einem Tagesheim gut versorgt wird. Diese sozialen Einrichtungen, die für alle Kinder unter 16 Jahren offen stehen, sind die notwendige Voraussetzung für das Entstehen eines neuen Menschen. In dieser Umgebung stehen die Kinder tagtäglich unter der fachlichen Aufsicht von Pädagogen und Ärzten und natürlich auch unter der Kontrolle der Mütter selbst, denn diese müssen im Kindergarten auch regelmäßig selbst mitarbeiten. Schon in frühester Kindheit werden diese Kinder durch ihre Umwelt im Säuglingsheim, im Kindergarten so beeinflusst, dass bei ihnen gerade jene Eigenschaften entwickelt werden, die für die Entfaltung des Kommunismus notwendig sind. Die Kinder, die in diesen Einrichtungen unserer Arbeiterrepublik herangewachsen sind, werden sich später wesentlich besser in ein Arbeitskollektiv einleben können als die Kinder, die in der abgeschlossenen Sphäre egoistischer Kleinfamilien aufgewachsen sind.

Schaut euch doch selbst unsere kleinen Kinder an, die bereits in den allerersten Jahren nach der Revolution in unseren Säuglings- und Kinderheimen gelebt haben. Das sind Kinder, die bereits die liebevolle und individuelle Erziehung ihrer eigenen Klasse erhalten haben. Diese Kinder haben bereits gemeinsame Verhaltensweisen entwickelt. Sie denken und handeln im Kollektiv. Das folgende Beispiel ist typisch für das Leben in unseren Kinderheimen: Ein neu aufgenommenes Mädchen weigert sich, an den Aktivitäten ihrer Gruppe teilzunehmen. Die Gruppenmitglieder versammeln sich um die,,Neue“ und versuchen, sie zu überzeugen. Die Stimmung ist äußerst erregt. Ist es wirklich unmöglich für dich, beim Reinemachen unseres Heimes mitzuhelfen, wenn „unsere“ Gruppe dran ist? Kannst du nicht an einem Spaziergang teilnehmen, den „unsere“ Gruppe plant? Musst du wirklich einen solchen Lärm veranstalten, wenn „unsere“ Gruppe Arbeitsruhe hat? Dieses Kind entwickelt kein Besitzdenken, im Gegenteil, es baut es ab: „Bei uns gibt es nicht Dein und Mein, bei uns gehört allen alles.“ Ein vierjähriger Knirps erklärt dem Mädchen eifrig die Hauptregeln im Dasein dieser Kinder. In diesem Kinderheim passen die Kinder schon selbst sehr genau darauf auf, wer da „unsere“ Sachen kaputt macht. Die Kinder schützen das Eigentum des Kinderheimes selbst.

Doch wir wollen jetzt noch einmal über die Rolle der Mütter sprechen. Unsere Arbeiterrepublik errichtet überall dort Mütterheime, wo ein Bedarf besteht. Denn nur so können wir die Mütter der kommenden Generationen wirklich gesundheitlich schützen. Im Jahre 1921 gab es 135 Mütterheime, die nicht nur den ledigen Müttern einen Zufluchtsort für die schwierigste Periode ihres Lebens bieten. Diese Heime ermöglichen es auch verheirateten Frauen, während der letzten Schwangerschaftsmonate und während der ersten Monate nach der Geburt, sich zeitweilig vom eigenen Heim, der Familie und dem ganzen anderen Kleinkram und Kummer zu befreien. Während der ersten kritischen Wochen nach der Geburt kann sich die Mutter so ausschließlich um die Pflege des Kindes kümmern und sich auch selbst ausruhen. Danach ist die ständige Anwesenheit der Mutter ja nicht mehr so wichtig. Während der ersten Wochen nach der Geburt existiert jedoch ein sehr enges physisches Band zwischen Mutter und Kind, und während dieser Periode ist es deshalb auch schädlich, wenn man Mutter und Kind voneinander trennt.

Ihr wisst ja selbst, Genossinnen, wie gerne ledige und auch verheiratete Arbeiterinnen diese Mütterheime aufsuchen; denn dort werden sie gepflegt und können sich richtig ausruhen. Deshalb besteht auch überhaupt kein Grund, bei den Frauen für diese Mütterheime zu agitieren. Unsere materielle Armut und das augenblickliche Chaos in Russland machen es uns jetzt leider unmöglich, zusätzliche Mütterheime einzurichten und unsere gesamte Arbeiterrepublik mit einem engen Netz von derartigen „Rettungsstationen“ für berufstätige Frauen zu überziehen. Auf dem Lande gibt es leider noch überhaupt keine Mütterheime. Ganz allgemein ist unsere Hilfe für die Bäuerinnen noch sehr unterentwickelt. Bisher konnten wir auf dem Lande nur „Sommerkindergärten“ organisieren. Diese Einrichtungen erleichtern es den Bäuerinnen, bei der Ernte mitzuarbeiten, ohne dass darunter die Kinder zu leiden haben. Im Jahre 1921 gab es 689 Sommerkindergärten für 32.180 Kinder.

In den Städten stehen den Arbeiterinnen und Angestellten entweder Betriebskindergärten oder entsprechende Einrichtungen in ihrem Stadtteil zur Verfügung. Es steht außerhalb jeder Diskussion, dass diese Kindergärten eine wesentliche Erleichterung für die berufstätigen Frauen bedeuten. Es ist deshalb unser großer Kummer, dass es immer noch nicht genügend Kindergärten gibt. Zur Zeit können wir nicht einmal 10 Prozent des tatsächlichen Bedarfs befriedigen. Zu einem wirklichen Netz von solchen sozialen Einrichtungen, die die Mütter von der zermürbenden Kinderpflege freistellen, gehören weitere Kindergärten, Säuglingskrippen und Spielschulen für die Kinder zwischen dem dritten und siebten Lebensjahr. Und für die Schulkinder brauchen wir weitere Kinderclubs, Gemeindehäuser und Kinderkolonien. In diesen Einrichtungen erhalten die Kinder auch kostenlose Mahlzeiten. Die Genossin Wera Weletschkina war eine besonders energische Pionierin auf diesem Gebiet, und sie starb auf ihrem revolutionären Posten. Durch ihren mutigen Einsatz hat sie uns während der Bürgerkriegsjahre sehr geholfen,und sie hat viele Arbeiterkinder vor einem kläglichen Hungertod gerettet. Diese Arbeiterkinder bekamen zusätzliche kostenlose Milchrationen, und die ärmsten von ihnen wurden außerdem mit Kleidung und Schuhen versorgt. Nach wie vor sind diese sozialen Einrichtungen natürlich noch unterentwickelt, und bis jetzt waren wir nur in der Lage, einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung zu versorgen. Niemand kann uns jedoch den Vorwurf machen, dass wir einen falschen Weg eingeschlagen haben, denn es ist richtig, dass wir die Eltern von ihrer Erziehungspflicht entlasten. Es ist vielmehr unser Hauptproblem, dass wir aufgrund unserer großen Armut einfach noch nicht in der Lage sind, alle Pläne der Sowjetregierung in die Tat umzusetzen. Aber die Richtung der Politik in der Mutterschaftsfrage ist völlig korrekt, und nur die mangelhaften Hilfsquellen verzögern die Lösung des Problems. Bisher handelt es sich um nichts anderes als um einen äußerst bescheidenen Versuch, und trotzdem haben wir bereits jetzt schon erfreuliche Resultate erzielt, die das Familienleben revolutionieren und die Beziehung zwischen Frau und Mann gründlich verändern. Doch über dieses Thema wollen wir in der nächsten Vorlesung sprechen.

Es ist die Aufgabe der Sowjetrepublik, dafür zu sorgen, dass die Arbeitskraft der Frau nicht für unproduktive Hausarbeit oder Kinderbetreuung verschwendet wird, sondern sinnvoll für die Produktion neuer gesellschaftlicher Reichtümer eingesetzt wird. Außerdem muss die Gesellschaft die Interessen und die Gesundheit der Mütter und Kleinkinder schützen, weil die Frau nur so Berufsleben und Mutterschaft miteinander vereinbaren kann. Deshalb bemüht sich auch unsere Sowjetregierung darum, für die Frauen solche Lebensbedingungen zu schaffen, die sicherstellen, dass eine Frau mit einem schwierigen Ehemann nicht mehr deshalb weiter zusammenleben muss, weil sie sonst einfach nicht weiß, wo sie mit den Kindern unterkommen kann. Wir wollen es nicht irgendwelchen Menschenfreunden überlassen, diesen Frauen mit ihrer demütigenden Wohltätigkeit zu Hilfe zu kommen, wenn sie in Not geraten sind. Nein, die eigenen Klassengenossen beim Aufbau des Sozialismus, die Arbeiter und Bauern streben danach, der Frau die Bürde der Mutterschaft zu erleichtern. Die Frauen, die Seite an Seite mit ihrem Mann schwere Arbeit beim Wiederaufbau unserer Volkswirtschaft leisten, fordern deshalb mit gutem Recht von.ihrer Arbeiterrepublik, dass das gesamte Kollektiv die Verantwortung für sie übernimmt, wenn der Augenblick kommt, in dem sie der Gesellschaft ein neues Mitglied schenken. In der jetzigen Übergangsperiode befindet sich die Frau wirklich in einer sehr schwierigen Situation, denn es gibt in Sowjetrussland insgesamt nur 524 Mutterschutzeinrichtungen. Diese sozialen Einrichtungen reichen natürlich überhaupt nicht aus, denn das alte Fundament der Familie ist zerstört worden, und das neue befindet sich erst im Aufbaustadium. Deshalb müssen sich die Partei und Sowjetregierung ganz besonders und in wesentlich stärkerem Umfang als bisher mit dem Problem der Mutterschaft beschäftigen. Eine konkrete Lösung dieser Frage kommt unseren Frauen, unserer Produktion und der gesamten Volkswirtschaft zugute. Am Ende dieser Vorlesung noch einige Worte zu einer Frage, die aufs Engste mit dem Problem der Mutterschaft zusammenhängt. Ich spreche jetzt von der Stellung der Sowjetregierung zur Abtreibung. Wir haben in unserer Arbeiterrepublik eine Verordnung vom 18. November 1920, die die Unterbrechung der Schwangerschaft legalisiert. Natürlich leiden wir in Russland heute eher unter Arbeitskräftemangel als an Arbeitskräfteüberschuss. Unser Land ist nicht dicht, sondern schwach besiedelt; und wir sind unter diesen Umständen bemüht, alle Arbeitskräfte zu erfassen. Warum konnten wir in einer solchen Situation die Abtreibung legalisieren? Weil das Proletariat keine Politik der Heuchelei und der Scheinheiligkeit duldet. Solange die Existenzbedingungen der Frau nicht gesichert sind, werden auch Abtreibungen durchgeführt. Wir sprechen hier nicht über die Frauen der bürgerlichen Klasse, die für den Abort gewöhnlich ganz andere Motive haben: z. B. den Wunsch, eine Aufteilung des „Erbes“ zu vermeiden, oder das Bedürfnis, ein vergnügliches und arbeitsfreies Leben zu führen, die Entsagungen der Mutterschaft zu vermeiden, ihre Figur zu retten oder sogar die Befürchtung, dass man für einige Monate die „Unterhaltungssaison“ verpasst, etc.

Es wird heute in allen Ländern abgetrieben, und daran ändern irgendwelche Strafgesetze überhaupt nichts, Für die Frauen gibt es immer einen Ausweg, aber diese „heimliche Hilfe“ zerstört die Gesundheit unserer Frauen und verwandelt sie zumindest zeitweilig zu einer Belastung des gesamten Arbeiterstaates und verringert das Arbeitskräftereservoir. Eine Abtreibung durch einen Chirurgen unter normalen Bedingungen ist für die Gesundheit der Frau weitaus ungefährlicher, und außerdem können die Frauen dann auch wieder viel schneller in die Produktion zurückkehren. Die Sowjetregierung ist sich völlig darüber im Klaren, dass die Abtreibungen erst dann aufhören werden, wenn wir in Russland ein weitverzweigtes Netz von Mutterschutzeinrichtungen und anderen sozialen Einrichtungen errichtet haben. Die Sowjetregierung ist sich aber auch darüber im Klaren, dass die Mutterschaft eine soziale Pflicht ist. Vor diesem Hintergrund haben wir die Abtreibung in hygienisch einwandfreien Kliniken legalisiert. Andererseits ist es aber gleichzeitig unsere Aufgabe, den natürlichen Mutterinstinkt der Frauen zu stärken und zwar einerseits durch den Ausbau der Mutterschutzeinrichtungen und andererseits, indem wir die Funktion der Mutterschaft und der Frauenarbeit fürs Kollektiv in Übereinstimmung bringen. Nur so können wir dafür sorgen, dass die Abtreibungen überflüssig werden. Wir haben auf diese Frage, die für die Frauen in allen bürgerlichen Staaten nach wie vor unbeantwortet ist, eine Antwort gefunden.

In den bürgerlichen Staaten kämpfen die Frauen erbittert gegen ihre doppelte Ausbeutung in dieser furchtbaren Nachkriegsperiode: Lohnarbeit im Dienste des Kapitals und Mutterschaft. Im Gegensatz dazu haben in unserem Arbeiterstaat die Arbeiterinnen und Bäuerinnen die traditionellen Lebensbedingungen abgeschafft, die die Frau in eine Sklavin verwandelt hatten. Erst die Mitarbeit der Frauen in der „Kommunistischen Partei Russlands“ hat das Fundament für die Errichtung eines völlig neuen Lebens ermöglichst. Die im Leben aller Frauen so entscheidende Frage kann aber erst dann endgültig gelöst werden, wenn die Frauenarbeit vollständig in unsere Volkswirtschaft integriert ist. In der bürgerlichen Gesellschaft gibt es dagegen für die Frauen keinen Ausweg aus diesem Dilemma, denn die Arbeit im abgeschlossenen Einfamilienhaushalt ergänzt das kapitalistische Wirtschaftssystem.

Die Befreiung der Frau kann erst nach einer grundsätzlichen Revolutionierung der traditionellen Verhaltensnormen verwirklicht werden. Dieser Prozess setzt aber eine tiefgreifende Veränderung der Produktionsweise, also die Errichtung einer kommunistischen Wirtschaft, voraus. Wir sind heute selbst Zeugen dieses umfassenden Revolutionierungsprozesses der Verhaltensnormen. Deshalb ist auch in unserem Alltag die praktische Befreiung der Frau ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juni 2020