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Während der letzten Vorlesung haben wir die neue Produktionsweise, die unter der Diktatur der Arbeiterklasse entsteht, nur in ihren groben Umrissen skizzieren können. Wir haben aber bereits herausgearbeitet, welchen Stellenwert die allgemeine Arbeitspflicht für die Befreiung der Frau in unserer Arbeiterrepublik hat und werden uns heute mit der Frauenarbeit noch genauer beschäftigen. Wir werden außerdem untersuchen, wie sich die Lebensbedingungen im Detail verändern werden, wenn der private Einfamilienhaushalt durch öffentliche Speiseanstalten, durch ein staatliches Erziehungswesen und den gesetzlichen Mutterschutz ersetzt worden ist. In Russland lebten vor der Revolution ungefähr 5 Millionen berufstätige Frauen. Zahlenmäßig waren diese arbeitenden Frauen also eine große Gruppe; dennoch machten sie nicht mehr als 8 % der gesamten weiblichen Bevölkerung Russlands aus. Während des Weltkrieges wuchs die Zahl der arbeitenden Frauen rasch an. Bereits im Jahre 1914 stieg der Anteil der Frauenarbeit in der Industrie auf 32 % und im Januar 1918 auf 40 % an. 40 % aller Arbeiter und Angestellten waren laut einer Berufszählung aus dem Jahre 1918 Frauen. Eine äußerst unvollständige Statistik des „Gesamtrussischen Zentralrates der Gewerkschaften“ lässt vermuten, dass zum Jahresende 1921 in der Industrie und im Transportwesen mehr als zwei Millionen Frauen beschäftigt waren. (In dieser Statistik sind auch die Landarbeiterinnen erfasst, während die selbständigen Bäuerinnen unberücksichtigt bleiben.) In sechs Berufszweigen und den dazugehörigen Berufsgewerkschaften stellen die Frauen die Majorität. In den öffentlichen Volkskantinen sind 74,5 % der Gesamtbelegschaft Frauen, in den Schneiderwerkstätten 74,2 %, in der Tabakindustrie 73,5 %, in der Berufsgewerkschaft „Kunst“ 71,4 %, im Gesundheitswesen 62,6 %, und in der Textilindustrie sind es 58,8 %. In den Privathaushalten stellen die Frauen außerdem 53,2 % aller Dienstboten. Die meisten Frauen arbeiten also in der Textilindustrie, im Gesundheits- und Transportwesen, in den Schneiderwerkstätten, in der öffentlichen Verwaltung, in der Metallindustrie, in künstlerischen Berufen, in den Schulen und Propagandakomitees.
In sechs Produktionszweigen arbeiten heute mehr Frauen als Männer, und in zehn weiteren Produktionszweigen liegt der Anteil der Frauenarbeit zwischen 25 und 50 Prozent der Gesamtbelegschaft. Die Frauenarbeit ist also nicht mehr die Ausnahme, aber ungeachtet dessen müssen wir leider feststellen, dass die aktive Mitarbeit der Frauen in der Wirtschaftsverwaltung, in den Betriebskomitees und in den Volkswirtschaftsräten außerordentlich gering ist. Das Bewusstsein und die traditionellen Sitten können offenbar nicht Schritt halten mit den gewaltigen Veränderungen im Produktionssektor, deren Zeugen wir heute alle sind. Die Frauenarbeit ist heute ein fester Bestandteil der Volkswirtschaft. Nur durch die Mitarbeit der Frauen können wir eine Produktionssteigerung erreichen. Es darf keine Parasiten mehr geben, dies ist das Prinzip, auf dem wir unser gesamtes gesellschaftliches System aufbauen. Zu diesen Parasiten rechnen wir auch die berufsmäßigen Bettgespielinnen, und es spielt überhaupt keine Rolle, ob sie diese Funktion als Ehefrauen oder Prostituierte ausüben. Trotz alledem ist das Vorurteil über die Minderwertigkeit der Frau in den Köpfen so fest verankert, dass auch in der Sowjetunion, wo die juristische Gleichstellung von Mann und Frau verwirklicht worden ist, wo die Frauen in allen gesellschaftlichen Sektoren mitarbeiten, wo die Frauen aktiv in den Reihen der Roten Armee mitkämpfen, dieses Vorurteil noch so stark ist, dass es dem Selbstbewusstsein der Frau häufig einen bösen Streich spielt. Ich möchte dies nun anhand einiger typischer Zahlenangaben illustrieren:
Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder und Anteil der Frauen in den Betriebskomitees
Gewerkschaft der |
Frauen in % der |
|
Frauen in % der |
Arbeiter der Volksernährung |
73,5 % |
30,9 % |
|
Schneider |
69,1 % |
25,7 % |
|
Tabakarbeiter |
67,8 % |
36,6 % |
|
Lehrer (Volksaufklärung) |
65,2 % |
37,7 % |
|
Textilarbeiter |
60,2 % |
9,3 % |
|
Medizin- und Sanitätsarbeiter |
52,7 % |
20,2 % |
|
Künstler |
39,3 % |
9,2 % |
|
Chemiearbeiter |
35,6 % |
8,6 % |
|
Arbeiter in der Papierindustrie |
34,3 % |
10,1 % |
|
Arbeiter in den Sowjets |
34,3 % |
11,4 % |
|
Druckereiarbeiter |
33,3 % |
9,6 % |
|
Journalisten |
32,5 % |
13,2 % |
|
Arbeiter in den Kolchosen |
22,5 % |
8,1 % |
|
Land- und Forstarbeiter |
19,8 % |
6,2 % |
|
Arbeiter in der Lebensmittelindustrie |
18,3 % |
4,3 % |
|
Metallarbeiter |
16,6 % |
1,8 % |
|
Holzarbeiter |
16,4 % |
5,5 % |
|
Transportarbeiter |
14,5 % |
5,0 % |
|
Arbeiter in der Lederindustrie |
13,8 % |
2,7 % |
|
Bauarbeiter |
11,8 % |
2,9 % |
In der Textilindustrie z. B. ist der absolute und relative Anteil der Frauenarbeit sehr groß. Von den 194 Mitgliedern der leitenden Organe der Textilarbeiter in 38 Gouvernements in Russland sind aber nur 10 Arbeiterinnen. In den Betriebskomitees der Textilfabriken ist die Mitarbeit von Frauen immer noch eine Ausnahme.
Dies gilt besonders seit der Einsetzung von verantwortlichen Betriebsinspektoren. Es ist außergewöhnlich selten, dass eine Frau in einer Haupt- oder Zentralverwaltung (Glawki oder Zentren) mitarbeitet. Auf dem VIII. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands im März 1919 fasste die Frauenabteilung des Zentralkomitees aufgrund dieser Entwicklung einen Beschluss, in dem gefordert wurde, dass die Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Arbeit sämtlicher Volkswirtschaftsräte und zwar in allen Produktionssektoren beteiligt werden. Dieser Beschluss stieß bei den Parteitagsdelegierten übrigens auf starken Widerstand und wurde erst angenommen, nachdem der Genosse Samoilow und ich uns geduldig, aber auch äußerst energisch und zäh für diese Resolution eingesetzt hatten. Wir sollten uns selber nichts vormachen, denn es war teilweise unser eigener Fehler, wenn wir Frauen auch heute kaum in den Haupt-und Zentralverwaltungen vertreten sind. In der ersten Zeit nach der Revolution konzentrierten die Frauenabteilungen ihre Arbeit hauptsächlich darauf, die Frauen für die Mitarbeit in den örtlichen Räten zu gewinnen. Vor allem jene Arbeitsbereiche der Räte waren damals für uns attraktiv, die die Bedingungen für die Befreiung der Frau schufen und ihr tägliches Leben erleichterten. Es waren dies die Bereiche der Erziehung, Öffentliche Volkskantinen und Mutterschutz. Seit dem Herbst 1920 hat sich der Schwerpunkt unserer Agitation verlagert. Wir sind optimistisch und wir haben alle Gründe dazu, denn unsere Frauenabteilungen propagieren eine verstärkte Mitarbeit der Frauen beim Wiederaufbau der Industrie, und wir sind davon überzeugt, dass der Anteil der Arbeiterinnen und Bäuerinnen, die sich aktiv am Aufbau der neuen Produktionsweise beteiligen, rasch zunehmen wird. Wir wollen nun jedoch zu den Problemen zurückkehren, die durch die Frauenarbeit in der Sowjetunion entstanden sind. Wie sind eigentlich die Arbeitsbedingungen in dieser ersten Arbeiterrepublik in der Menschheitsgeschichte, in diesem Experimentierfeld, auf dem die Saat zukünftiger kommunistischer Gesellschaften zu keimen beginnt?
Obwohl die Frau seit dem Mittelalter Seite an Seite mit dem Manne ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anbieten musste, wurde die Frau für dieselbe Arbeit schlechter bezahlt als der Mann. Deshalb ist es für uns besonders wichtig, dass wir uns mit der Frage des Arbeitslohns für Frauen beschäftigen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts vertreten nicht nur die bürgerlichen Feministinnen Forderung „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, sondern so lautete auch eine Forderung des klassenbewussten Proletariats, die aber in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nie durchgesetzt werden konnte.
Der Grund für diese Entwicklung war folgender: die organisierte Arbeiterklasse war zwar durchaus in der Lage, diese Forderung in einzelnen Produktionszweigen durchzusetzen und auch zu verteidigen, zur selben Zeit strömten aber ununterbrochen neue und gewerkschaftlich unorganisierte weibliche Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt. Natürlich führte dies in der Regel zu einer Senkung der relativen Arbeitslöhne für die Frauen im gesamten Lande. Dieses Missverhältnis, das im Kapitalismus nicht zu beseitigen ist, wurde in der Räterepublik nach der Revolution sofort aufgehoben. Die Geschlechtszugehörigkeit bestimmt nicht länger die Höhe des Arbeitslohnes. In allen Produktionszweigen, im Verkehrswesen, in der Landwirtschaft und im öffentlichen Dienst werden die Tarifverträge zwischen der jeweiligen Gewerkschaft und dem „Gesamtrussischen Zentralrat der Gewerkschaften“ vereinbart. Die Höhe des Arbeitslohnes ist also vom Typ der geleisteten Arbeit abhängig, und die Bewertungskriterien für die verschiedenen Lohnkategorien sind z. B.: Notwendige vorherige Ausbildung, eventuelle Gefahrenmomente, besonderer Schwierigkeitsgrad usw. Angebot und Nachfrage bestimmen nicht mehr länger die Höhe des Arbeitslohnes. Der Arbeitslohn ist auch nicht länger das Resultat von Lohnkämpfen der Gewerkschaften gegen die Unternehmer. Heute ist der Arbeitslohn kein Glückstreffer mehr, sondern er wird von den Arbeitern selbst festgelegt. Die vom „Gesamtrussischen Zentralrat der Gewerkschaften“ akzeptierten Tarife sind für alle Betriebe der betreffenden Branche verbindlich und zwar in der gesamten Arbeiterrepublik. Eine Umfrage unter den Arbeitern in Moskau zeigt uns, dass das Durchschnittseinkommen der jugendlichen Arbeiterinnen unter 18 Jahren in mehreren Branchen dem Durchschnittseinkommen der jugendlichen Arbeiter unter 18 Jahren entspricht oder dieses sogar übertrifft. Die folgende Tabelle zeigt den durch Tarifverträge geregelten Durchschnittslohn für einige Produktionszweige auf:
Produktionszweig |
Arbeiter |
|
Arbeiterinnen |
Chemische Industrie |
6,2 |
7,1 |
|
Tabakindustrie |
4,3 |
5,7 |
|
Kolchos |
6,3 |
5,0 |
|
Gesundheitswesen |
2,8 |
5,1 |
|
Textilindustrie |
3,7 |
4,1 |
|
öffentliche Volkskantinen |
3,5 |
3,2 |
Wenn wir diese durchschnittlichen Tariflöhne für Arbeiter und Arbeiterinnen miteinander vergleichen, dann entsteht der Eindruck, dass die Arbeiterinnen unter 18 Jahren im Vorteil sind. Dieselbe Umfrage zeigt aber auch, dass der Durchschnittslohn aller Frauen halb so groß ist wie der Durchschnittslohn aller männlichen Arbeiter. Diese Ungleichheit der Arbeitslöhne erklärt sich durch die Tatsache, dass auch in unserer Räterepublik die Quote der unqualifizierten Arbeiterinnen größer ist als die der unqualifizierten Arbeiter. Solange die Berufsausbildung für Frauen nicht stärker gefördert wird, bleibt das von unserer Arbeiterrepublik feierlich verkündigte edle Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nichts als leeres Wortgeklingel.
Nach der Oktoberrevolution bemühte sich der „Oberste Volkswirtschaftsrat“ den Arbeitslohn nicht nur durch Lohn, sondern auch in Form von Naturalien zu vergüten. Neben dem Hauptteil des Lohnes als Geldlohn erhält der Arbeiter nicht nur die obligatorische Brotration, auf die jeder Sowjetbürger mit einem Arbeitsbuch ein Anrecht hat, sondern auch Naturalzuweisungen in Form von Brennholz, Petroleum, Arbeitskleidung, Kantinenessen und Wohnung. Für diese Zuweisungen brauchten die Arbeiter entweder gar nichts zu bezahlen oder einen durch den örtlichen Sowjet festgelegten Preis.
Nachdem der „Rat für Arbeit und Verteidigung“ erneut eine Kursänderung in der Wirtschaftsordnung vorgenommen hat, werden wir auch zu einem neuen Lohnsystem übergehen. Ich wollte Euch heute jedoch vor allem auf die Entlohnung in Form von Naturalien aufmerksam machen, wie sie in den ersten Jahren nach der Revolution in unserem Lande praktiziert worden ist. Diese Naturalwirtschaft ist ein wichtiger Versuch gewesen, den Produktionssektor organisch mit dem Konsumsektor zu verbinden, um die tiefe Kluft zu überbrücken, die durch das kapitalistische System zwischen beiden Sektoren geschaffen worden ist. Durch eine Weiterentwicklung der Naturalwirtschaft würde natürlich der Handel überflüssig. Diese Errungenschaft des Kapitalismus wäre dann dem Untergang geweiht. Leider können wir jedoch dieses kühne und historisch wichtige Experiment nicht fortsetzen. Unsere große Armut, die Krise unserer Industrie und die völlige Isolierung vom Weltmarkt machen es uns im Moment unmöglich, das Fundament unserer gesamten Volkswirtschaft zu reorganisieren. Sowohl die Bezahlung in Form von Naturalien als auch die Einrichtung von Kantinen sind Entlohnungsformen, die im Prinzip auch in einer kapitalistischen Wirtschaft möglich sind. Diese Formen des Entgeltes können zwar zeitweilig zu einer höheren Arbeitsproduktivität führen, für sich allein genommen führen sie aber nicht zum Aufbau einer neuen Produktionsweise.
Sind die im Augenblick für die Arbeiterinnen geltenden Lohnkategorien zufriedenstellend? Nein. Natürlich nicht. Die Versorgung der Bevölkerung im heutigen Sowjetrussland lässt noch einiges zu wünschen übrig. Es kommt immer noch vor, dass die Naturalzuweisungen unvollständig oder verspätet eintreffen. Andererseits herrscht kein Mangel an Textilartikeln, und Brennholz und Petroleum erreicht den Einzelverbraucher oft schneller als die Betriebe. Nach wie vor müssen die Arbeiterinnen aber immer noch Waren auf dem freien Markt kaufen. Die ständig steigenden Preise für diese Waren bringen die Arbeiterin in eine schwierige Situation. Die großartigen Errungenschaften der Revolution werden in den Augen der Arbeiterinnen durch die gegenwärtig noch bestehenden Schwierigkeiten in den Schatten gestellt. Andererseits werden diese Errungenschaften von der Arbeiterklasse aber auch nicht in Frage gestellt. Wenn heute irgend jemand den Arbeitern den Vorschlag machen würde, das Rad der Geschichte in die Periode des Kapitalismus zurückzudrehen, dann wären ganz bestimmt nur sehr wenige Arbeiter dazu bereit, diesen Schritt aus dem Reich der Zukunft in das Reich der bürgerlichen Vergangenheit mitzugehen.
Um eine umfassende Vorstellung über die Situation der Frauen unter der Diktatur des Proletariats zu erhalten, werden wir jetzt untersuchen, wie die allgemeinen Regeln über den Arbeitsschutz in der Arbeitsgesetzgebung in Sowjetrussland aussehen. Die wichtigste Errungenschaft der Revolution ist für die Arbeiter und Arbeiterinnen natürlich der Achtstundentag. Falls der Entwicklungsstand der Produktivkräfte die Einführung des Dreischichtenbetriebes nicht ermöglicht, darf die durchschnittliche Beschäftigungszeit für alle erwachsenen Arbeiter die Achtundvierzigstundenwoche nicht überschreiten. In besonders gesundheitsschädlichen Betrieben – z. B. in der Tabakindustrie und in einigen Fabriken der chemischen Industrie – ist die tägliche Arbeitszeit auf sechs beziehungsweise sieben Stunden herabgesetzt worden. Es gibt ein generelles Verbot der Nachtarbeit für Frauen und für männliche Arbeiter wurde die Nachtarbeit auf sieben Stunden begrenzt. Die Büroarbeitszeit für Angestellte und Intellektuelle ist auf sechs Stunden verkürzt worden. Die Mittagspause muss mindestens eine halbe bis zwei Stunden lang sein. Jeder Arbeiter hat einen Anspruch auf eine wöchentliche Ruhepause, die 42 Stunden ohne Unterbrechung dauern muss. Der Jahresurlaub beträgt vier Wochen beziehungsweise zwei Wochen innerhalb eines halben Jahres. Die Beschäftigung von Jugendlichen unter 16 Jahren ist generell verboten und Jugendliche zwischen dem 16. und dem 18. Lebensjahr dürfen höchstens sechs Stunden am Tag arbeiten.
Diese Vorschriften werden in der Praxis leider nicht überall eingehalten. In den hektischen Jahren des-Bürgerkrieges war man häufig gezwungen, gegen diese Vorschriften zu verstoßen. Oft mussten direkt hinter der Front notwendige Arbeiten intensiv durchgeführt werden. Die Urlaubszeit für männliche Arbeiter wurde von vier auf zwei Wochen reduziert, die Anzahl der Überstunden und die Nachtarbeit nahmen ständig zu, und für die 14- bis 16jährigen wurde eine Arbeitszeit von vier Stunden täglich erlaubt. Das Volkskommissariat für Arbeit ordnete am 4. Oktober 1919 eine Sonderregelung an, die Nachtarbeit für Frauen nach einer vorherigen Absprache zwischen der örtlichen Gewerkschaft und der lokalen Kommission für Arbeitsschutz in bestimmten Industriezweigen zeitweilig zulässt. Für werdende Mütter und stillende Frauen ist die Nachtarbeit nach wie vor verboten.
Die sowjetischen Arbeitsgesetze schützen die Frauen. Überstunden, Nachtarbeit und Frauenarbeit im Untertagebetrieb sind verboten. Aufgrund des großen Arbeitskräftemangels und der Notwendigkeit, alle verfügbaren Arbeitskräfte in den Produktionsprozess einzugliedern, werden im allgemeinen Durcheinander diese Vorschriften jedoch nicht befolgt.
Aufgrund besonderer Verordnungen dürfen Frauen nur zu solchen Arbeiten herangezogen werden, die ihre „Kräfte nicht überanspruchen“ und die Beschäftigung von weiblichen Arbeitern in gesundheitsschädlichen Produktionszweigen ist generell verboten. Z. B. verbietet eine der erwähnten Verordnungen den Einsatz von Arbeiterinnen in allen Arbeitsverrichtungen, bei denen Gegenstände angehoben werden müssen, die mehr als 10 Pfund wiegen. Aber alle diese Arbeitsschutzvorschriften für unsere Männer und Frauen werden in der Praxis weitgehend ignoriert. Ursprünglich gingen unsere Arbeiter- und Bauerndeputierten davon aus, dass diese Vorschriften genau eingehalten werden. Der augenblicklich chaotische Zustand unserer Volkswirtschaft und teilweise auch der Mangel an Arbeitskräften machten dies aber unmöglich. Während in den kapitalistischen Staaten eine ständige Arbeitslosigkeit existiert, leidet unsere Arbeiterrepublik permanent unter einem Arbeitskräftemangel. Ein zweckmäßiger, aber auch funktionierender Arbeitsschutz in unseren Betrieben und Werkstätten setzt die Installierung der entsprechenden hygienischen Einrichtungen voraus, erst dann können die sanitären Vorschriften auch tatsächlich eingehalten werden. Z. B. braucht man für den Einbau von notwendigen Entlüftungsanlagen, Zentralheizungen und Kanalisationen entsprechende Arbeitskräfte, Baumaterialien und technisches Wissen, aber in unserer armen Arbeiterrepublik fehlen eben diese Voraussetzungen. Es ist ein äußerst schwieriges Problem, die Arbeitsintensität unter unerträglichen sanitären und hygienischen Bedingungen zu erhöhen und die Gesundheit und das Leben unseres Proletariats zumindest zeitweilig ernsthaft zu schützen. Unsere Arbeiterrepublik kann also auf dem Sektor des allgemeinen Arbeitsschutzes noch keine rühmlichen Leistungen vorweisen, andererseits kann sie dennoch mit Recht auf unsere Sozialgesetzgebung auf dem Gebiet des Mutterschutzes und der Säuglingsfürsorge stolz sein.
Auf diesem Sektor haben wir nicht nur weitgehend die bisher fortschrittlichsten Länder überholt, sondern sogar die radikalsten Forderungen der Sozialistinnen übertroffen. Den Gesetzen zum Schutze der Mutter liegt eine ausführliche und programmatisch gegliederte Resolution zugrunde, die auf dem 1. allrussischen Arbeiterinnen-Kongress im November 1919 angenommen wurde. Der Grundgedanke dieser Gesetze ist folgender: Nur die berufstätigen Frauen haben ein Anrecht auf den staatlichen Mutterschutz, jene Frauen also, die nicht von der Ausbeutung der Arbeitskraft anderer leben. Der Staat garantiert allen Frauen, die physische Arbeit verrichten, 16 Wochen Schwangerschaftsurlaub. Berufstätige Frauen, die Kontor- oder geistige Arbeit verrichten, erhalten 12 Wochen Schwangerschaftsurlaub. Die Höhe des staatlichen Urlaubsgeldes entspricht dem bisherigen durchschnittlichen Arbeitsverdienst, eventuelle Lohnprämien und bezahlte Überstunden eingeschlossen. Natürlich erhalten auch die Ehefrauen von Arbeitern eine staatliche Unterstützung, die aufgrund des örtlichen Durchschnittseinkommens berechnet wird. Das Volkskommissariat für Arbeit erließ darüber hinaus im November 1920 eine Verordnung, die auch Angestellte, die eine besonders anstrengende Arbeit verrichten, mit der Gruppe der Industriearbeiterinnen gleichstellt. Telefonistinnen, Stenotypistinnen, Ärztinnen, Krankenschwestern usw. haben ebenfalls ein Anrecht auf einen bezahlten 16wöchigen Schwangerschaftsurlaub. Eine weitere Verordnung vom November 1920 garantiert den schwangeren Frauen und Müttern auch während dieser Urlaubszeit die bisherige Lebensmittel- und Brennholzration.
Stillende Mütter erhalten während der ersten neun Monate nach der Geburt zusätzlich noch eine finanzielle Unterstützung. Dieses Stillgeld entspricht der Hälfte des tariflich festgelegten Mindestmonatsgehaltes am Wohnort. Zusätzlich hat jede Mutter einen Anspruch auf eine Ration Babyausstattungsartikel und auf 15 Arschin Stoff Trotz des großen Mangels sorgt die Arbeiterrepublik für die Mütter und Kleinkinder. Die Säuglings- und Mutterschutzabteilung ist in letzter Zeit dazu übergegangen, Babykleidung an die Mütter zu verteilen. Aufgrund des Arbeitsschutzgesetzes dürfen stillende Mütter nicht gezwungen werden, in Orten zu arbeiten,die mehr als 2 Werst von ihrem Wohnort entfernt liegen.
Wir haben eine einheitliche Ration für alle berufstätigen Menschen eingeführt. Dies bedeutet, dass bewaffnete Abteilungen von Arbeitern alle zugänglichen Nahrungsvorräte auf dem Lande requirieren und dass diese Lebensmittel anhand eines Kartensystems an die Werktätigen verteilt werden.
Diese Mutterschutzversorgung kostete unserer Arbeiterrepublik im Jahre 1920 mehr als 34 Milliarden Rubel. Genosse Lebedjew hat mit Recht darauf hingewiesen, dass eine solche Verteilung von staatlichen Mitteln nur unter der Diktatur des Proletariats möglich ist. Denn die Arbeiterklasse ist selbstverständlich am Wohlergehen der kommenden Generationen ernsthaft interessiert und zwar ganz einfach schon deshalb, weil diese Generationen die zukünftige kommunistischen Gesellschaft aufbauen werden.
Der Schutz und die Verteidigung der Mutterschaft ist auf dem sozialen Sektor die größte Errungenschaft unserer Revolution. Diese Initiative erleichtert nicht nur die Eingliederung der Frauen in das Kollektiv, sondern auch die natürliche Aufgabe der Frau in der Gesellschaft, die der Mutterschaft. Unsere Arbeiterrepublik kann auf diesen Mutterschutz wahrhaftig stolz sein.
Hiermit schließe ich meinen Bericht über die allgemeinen Gesetze über den Arbeitsschutz für Frauen in unserer heutigen Arbeiterrepublik ab. Lasst uns nochmal zusammenfassen. Durch die Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht hat die Frauenarbeit in unserer Arbeiterrepublik auch auf lange Sicht ihren Stellenwert gesichert. In der Industrie spielt die Frauenarbeit schon heute eine wichtige Rolle. Von den sechs Millionen Arbeitern sind zwei Millionen Frauen. Sie machen also ein Drittel aller Beschäftigten in der Industrie, im Transportwesen, in den landwirtschaftlichen Genossenschaften und Kolchosen und im öffentlichen Dienst (Dienststellen der örtlichen Sowjets) aus. Die Sowjetregierung hat das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ in die Tat umgesetzt, aber die mangelhaften Berufskenntnisse der Arbeiterinnen haben leider zu der Konsequenz geführt, dass die meisten Frauen in unserer Arbeiterrepublik zumindest in den ersten Jahren nach der Revolution unqualifizierte und schlecht bezahlte Arbeiten ausführten. Diese Erfahrung muss jetzt natürlich von den kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Staaten verwertet werden, besonders aber von deren Jugendorganisationen.
Die Frage der Berufsqualifizierung der männlichen und weiblichen Arbeiterjugend muss von ihnen aufmerksam beobachtet werden. Denn eine qualifizierte Berufsausbildung kommt in der Periode der Diktatur des Proletariats nicht nur den Arbeiterinnen selbst zugute, sondern auch der sozialistischen Volkswirtschaft. In Sowjetrussland ist der gesetzliche Arbeitsschutz nach wie vor nicht zufriedenstellend, aber wir verteidigen konsequent den Schutz der Frauenarbeit und der Mutterschaft. Der Versuch, den Arbeitslohn durch Naturalienzuteilung zu begleichen, war revolutionär; wir mussten allerdings zeitweilig dieses Experiment abbrechen. Dennoch haben uns die Erfahrungen in den ersten Jahren nach der Revolution davon überzeugt, dass eine derartige gesellschaftliche Initiative unter veränderten ökonomischen und politischen Bedingungen durchaus verwirklicht werden kann.
Damit wollen wir für heute abschließen.
Zuletzt aktualisiert am 27. Juni 2020