Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


28. Der Magdeburger Parteitag


Die Antwort der Genossin Luxemburg gab Veranlassung zu einer sehr ausführlichen Diskussion, die aber über den politischen Massenstreik keine neuen Gesichtspunkte brachte. Genossin Luxemburg verfocht den Standpunkt, den sie schon in ihrer Broschüre über den Massenstreik eingenommen hatte, nur nicht so prononziert.

Daß die Auffassung, die ich vertreten hatte, sich mit der der großen Mehrheit der Partei deckte, bezeugte deutlich der Parteitag von Magdeburg. Von keiner Seite, auch nicht von der Genossin Luxemburg, wurde dort den verantwortlichen Genossen ein Vorwurf daraus gemacht, daß sie es unterlassen hatten, der Masse „die nötige Parole“ zu geben, um die „einmal entfachte Massenaktion“ zu „steigern und zuzuspitzen“.

Bei der Beratung der Wahlrechtsfrage brachte die Genossin Luxemburg eine Resolution ein, die sagte:

„Der Parteitag erklärt in völliger Uebereinstimmung mit dem jüngsten preußischen Parteitag, dessen Auffassung durch die Lehren der Wahlrechtskämpfe dieses Frühjahres vollauf bestätigt worden sind, daß der Wahlrechtskampf in Preußen nur durch eine große entschlossene Massenaktion des arbeitenden Volkes zum Siege geführt werden kann, wobei alle Mittel, darunter auch der politische Massenstreik, nötigenfalls zur Anwendung gebracht werden müssen.

Angesichts dessen erklärt es der Parteitag für notwendig, im Hinblick auf die künftige Wiederaufnahme der Wahlrechtskampagne die Erörterung und Propagierung des Massenstreiks in der Parteipresse und in Versammlungen in die Wege zu leiten und so in den breitesten Schichten des Proletariats das Gefühl der eigenen Macht sowie das politische Bewußtsein zu schärfen, damit die Massen den großen Aufgaben gewachsen sind, wenn die Situation es erfordert.“

Der Referent zu diesem Punkt, Genosse Borgmann, akzeptierte den ersten Absatz, den zweiten lehnte er ab. Genossin Luxemburg begann dann ihre Rede mit der Mitteilung, sie sei bereit, das Wort Propagierung streichen zu lassen. Damit war der Resolution bereits das Rückgrat gebrochen. Aber die Massenstreikideen der Genossin Luxemburg hatten so lebhaften Widerspruch erweckt, daß selbst die bloße Forderung einer „Erörterung“ des Massenstreiks auf Ablehnung stieß. So zog sie schließlich den ganzen zweiten Absatz zurück und stimmte noch zu, daß im ersten Absatz statt „eine große, entschlossene Massenaktion“, „große, entschlossene Massenaktionen“ gesagt wurde. In dieser Form war die Resolution ganz unverbindlich und wurde dem Antrag des Referenten entsprechend akzeptiert, Man darf aber nicht etwa meinen, der Magdeburger Parteitag sei dem Revisionismus besonders hold gewesen. Im Gegenteil, er nahm aufs schroffste Stellung gegen ihn, namentlich bei der Beratung der Budgetbewilligung. Er sprach den badischen Budgetbewilligern seine schärfste Mißbilligung aus. In namentlicher Abstimmung wurden dafür 301 Stimmen gegen 70 abgegeben. Ein Antrag Zubeil, der jede Zuwiderhandlung gegen das Verbot der Budgetbewilligung mit Ausschluß aus der Partei bedrohte, wurde in namentlicher Abstimmung mit 228 gegen 64 Summen angenommen.

Ein solcher Parteitag war alles andere als revisionistisch. und doch seine entschiedene Ablehnung der Luxemburgschen Massenstreikideen!

Auf dem Magdeburger Parteitag, 1910, ist zum erstenmal das in die Erscheinung getreten, was man „marxistisches Zentrum“ nennt. Seit dem Parteitag von Hannover, 1899, hatte die Mehrheit des Parteitags sich stets nur gegen die staatsmännische Ungeduld zu wenden gehabt. Seit 1910 wendet sich die Mehrheit eines jeden Parteitags auch gegen die rebellische Ungeduld, gegen eine äußerste Linke. Das wird jetzt zur Regel. Dagegen kommt es von da an zu Parteitagen, die keine Veranlassung haben, sich gegen die Rechte zu wenden. So die beiden letzten Jenaer Parteitage von 1911 und 1913.

Auf dem Parteitag von 1911 warf Rosa Luxemburg Bebel vor, daß er bei dem Kampfe gegen sie den Beifall der Revisionisten gewinne.

Die den tatsächlichen Verhältnissen entspringenden Antriebe zu staatsmännischer Ungeduld werden immer schwächer und die zu rebellischer Ungeduld immer stärker. Und das wird nicht aufhören, sondern in wachsendem Maße so weitergehen.

Das ist die Signatur der neuen Situation, der rasch zunehmenden Verschärfung der inneren und äußeren Gegensätze, und vor allem der steigenden Notlage der Massen.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011