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Nicht überall verhielt man sich so reserviert gegen den Massenstreik. Trotz seines Mißerfolges regte der belgische Streik sehr zur Nachahmung an.
Im April 1903 kam es in Holland zu einem großen Streik als Protest gegen Zwangsgesetze, die die Regierung einbrachte, um Eisenbahnern und anderen Arbeitern in öffentlichen Diensten das Streiken unmöglich zu machen – die Antwort auf einen gewonnenen Streik der Eisenbahner und Hafenarbeiter. Dieser Massenstreik schlug gänzlich fehl.
Besser gelang ein anderer, der unmittelbar nach jenem ausbrach. In Schweden entbehrte die Arbeiterschaft noch des Wahlrechts – und stand um die Jahrhundertwende in lebhaftestem Kampfe für dessen Erringung. Als der Reichstag im Mai 1903 an die Beratung des Entwurfs eines neuen Wahlrechts ging, sollte ein Druck auf ihn durch einen Massenstreik geübt werden.
Es war dies ein Massenstreik ganz neuer Art. Beginn und Dauer des Streiks waren von vornherein festgestellt. Er sollte vom 15. bis einschließlich 17. Mai dauern. Sein Zweck war nicht der, das Parlament direkt zu einem Beschluß zu zwingen, sondern nur der, eine moralische Wirkung zu üben. Von vornherein wurde er als Demonstrationsstreik und nicht als Zwangsstreik verkündet.
Den Uebergang zu dieser neuen Art Massenstreik bildete der belgische Streik von 1902. In Wirklichkeit hatte ja auch dieser nur eine machtvolle Demonstration dargestellt, kein Zwangsmittel. Aber was in Belgien nicht beabsichtigt sondern ein ungewolltes Ergebnis war, wurde jetzt in Schweden von Anfang an planmäßig in Szene gesetzt.
Da nicht eine sofortige Wirkung angestrebt war, konnte auch von einem Mißlingen nicht die Rede sein, sobald die Demonstration selbst gelang. und das war in großartiger Weise der Fall. Namentlich in Stockholm standen Produktion und Verkehr an den drei Tagen ganz still.
Auch Aussperrungen nach dem Streik kam nur in geringem Maße vor. Das Selbstbewußtsein der Arbeiterschaft war gehoben und der Eindruck auf die Bourgeoisie ein bedeutender. Immerhin dauerte es noch Jahre, bis Schweden ein erweitertes Wahlrecht bekam. Man ging aber nicht daran, den Massenstreik zu wiederholen.
Wie in Schweden, hatte auch in Oesterreich durch den belgischen Streik die Wahlrechtsbewegung einen erneuten Anstoß erhalten. Zwei Jahre nach dem Wiener Kongreß, über den wir oben berichtet, hatte der österreichische Wahlrechtskampf seinen ersten Sieg errungen; eine Abschlagszahlung war dem Proletariat gegeben worden in der Gestalt einer fünften Kurie des allgemeinen Wahlrechts, die den anderen Wahlkörpern der Großglundbesitzer, der Handelskammern, der Besitzenden in den Städten und den Landgemeinden angehängt wurde und die eine Anzahl Abgeordneter zu wählen hatte. Zunächst hatte unsere Partei versucht, das neue Wahlrecht zu benutzen, aber bald zeigte sichs, wie gänzlich, ungenügend es war, und so begann nach einigen Jahren der Wahlrechtskampf von neuem. Nun war es wieder ein Wiener Kongresß (im November 1903), der über den Massenstreik als Mittel zurr Eroberung des gleichen Wahlrechts handelte. Niemand war diesmal so unklug, zu fordern, die Partei solle sofort in eine Agitation für den Massenstreik eintreten. Wohl aber gab es Genossen, die es für unzweckmäßig hielten, daß man vom Massenstreik redete, der ja in nächster Zeit doch aussichtslos sei. Ihnen trat Viktor Adler entgegen. Es ist von Interesse, seine Rede von 1894 mit der von 1903 zu vergleichen. Adler sagte diesmal:
„Unser politischer Kampf ist wesentlich ein Kampf ums Wahlrecht: aber Sie können nicht erwarten, irgendeine Bewegung ,auf längere Zeit in einer Höhe zu erhalten, die die Leidenschaften in gleicher Weise zu entfalten vermag. Das ist psychologisch, massenpsychologisch unmöglich. Wir müssen das Bewußtsein von der Elendigkeit unseres Wahlrechts immer lebendig erhalten bei uns, bei den bürgerlichen Parteien, bei der Regierung, aber wir können unmöglich fortwährend den Kampf in jener Siedehitze, auf jener Höhe halten, zu der er nur zu gewissen Zeiten, bei günstigen Gelegenheiten hinaufgetrieben werden kann. Wenn ich also glaube, daß wir für den Wahlrechtskampf tun, was wir können, möchte ich doch jenen Rednern entgegentreten, die in dem Hinweis der Resolution darauf, daß das Proletariat schließlich auch noch andere, äußerste Mittel zur Verfügung hat, einen nicht opportunen, unerwünschten Hinweis auf den Generalstreik sehen. Wir wissen nicht, ob das österreichische Proletariat zum Generalstreik kommen wird, aber wir wissen ebensowenig, ob er uns erspart so wird. So gewissenlos es wäre, für die nächste Zeit einen Geueralstreik zu politischen Zwecken anzukündigen, ebenso unklug, ja unverantwortlich wäre es, den Generalstreik abzuschwören. Die Erfahrungen des Auslandes geben dazu keinen Anlaß. Der Generalstreik in Belgien war für mich – im Gegensatz zu vielen anderen Genossen – ein Beweis, daß es bei einer tüchtigen Organisation möglich ist, den Generalstreik eintreten zu lassen, und, was ich früher für unmöglich hielt, auch zu beendigen. Ich habe den glorreichen Rückzug der belgischen Genossen für einen der größten Erfolge der Organisation gehalten, der je da war! Wir wissen alle: Was wir unternehmen, jede Aktion wird erst dann von großer Bedentung, wenn wir unsere Handlungen bewußt beginnen und auch bewußt beenden können. Das schien vom Generalstreik unmöglich; nun zeigt es sich: er ist in einer vernünftigen, besonnenen, klaren Weise zu Ende zu führen. Darum bin ich nicht dafür, unserr Gegner zu beruhigen, daß sie davor sicher sind. Wir würden in ihnen damit eine gefährliche Illusion nähren. Abschwören wollen mir den Generalstreik nicht. Wann, wie, ob, steht dahin.“
Man sieht, diesmal hatte Adler es nicht notwendig, mit aller Macht den Stürmern entgegenzutreten. Er hielt es sogar für notwendig, vor Flaumacherei zu warnen. Er gehört eben nicht zu jenen „absolut metaphysischen“ Leuten, die entweder unter allen Umständen bremsen, oder unter allen Umständen das Bremsen für eine Todsünde erklären.
Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011