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Gedruckt im Jahre 1917 in der Broschüre K. Kautskys: Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution, Verlag „Nowaja Epocha“.
Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 314–320.
Kopiert mit Dank von Sozialistische Klassiker 2.0.
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O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die Vorhut der russischen Arbeiterschaft kennt K. Kautsky seit langem als ihren Schriftsteller, der die theoretische Lehre des revolutionären Marxismus nicht nur zu begründen und zu erklären, sondern sie auch mit Sachkenntnis und ernster Analyse der Tatsachen auf die komplizierten und verworrenen Fragen der russischen Revolution anzuwenden versteht. Und jetzt, wo die Aufmerksamkeit der Sozialdemokraten manchmal fast vollständig von dem geistlosen Geschwätz der liberalen Kasperle und ihrer freiwilligen und unfreiwilligen Nachbeter in Anspruch genommen wird, wo die grundsätzlichen Fragen des proletarischen Klassenkampfes für viele durch die Kleinlichkeiten der „Parlaments“-Technik verdeckt werden, wo eine niedergedrückte Stimmung sogar zahlreiche anständige Leute ergreift und ihre geistigen und politischen Fähigkeiten schwächt – jetzt ist es für alle Sozialdemokraten Russlands ganz besonders wichtig, auf Kautskys Meinung über die Grundfragen der russischen Revolution aufmerksam zu hören. Und sogar nicht so sehr Kautskys Meinung zu hören, als sich vielmehr in seine Fragestellung hineinzudenken – denn Kautsky ist nicht so leichtsinnig, um über ihm wenig bekannte konkrete Fragen der russischen Taktik zu schwatzen, nicht so unerfahren in russischen Angelegenheiten, um sich mit Gemeinplätzen oder kritikloser Wiederholung des letzten Wortes der Mode zu begnügen.
Kautsky beantwortet Fragen, die Plechanow einer Reihe von ausländischen Sozialisten vorgelegt hat. Und indem er diese Fragen beantwortet oder, richtiger gesagt, aus diesen unklug gestellten Fragen das herausschält, worüber sich Sozialisten aller Länder mit Nutzen für die Sache unterhalten können, – macht Kautsky einen bescheidenen Vorbehalt:
„... so fühle ich mich doch den russischen Genossen gegenüber in der Stellung des Lernenden, wenn es sich um russische Dinge handelt.“ [1]
Diese Bescheidenheit ist nicht das verlogene Bescheidenseinwollen eines „Generals“ der Sozialdemokratie, der sich zuerst wie ein Spießbürger ziert, um sich schließlich wie ein Bourbone zu gebärden. Nein, Kautsky hat sich in der Tat nur darauf beschränkt, solche Fragen zu beantworten, mit deren Untersuchung er denkenden Sozialdemokraten Russlands dabei behilflich sein kann, die konkreten Aufgaben und Losungen des Tages selbständig zu untersuchen. Kautsky hat darauf verzichtet, den General zu spielen, der kommandiert: rechts um oder links um! Er hat es vorgezogen, in der Lage eines fern stehenden, dafür aber nachdenklichen Genossen zu verharren, der zeigt, auf welche Art und Weise wir uns selbst eine Antwort suchen müssen.
Plechanow hat Kautsky erstens über den „allgemeinen Charakter“ der russischen Revolution befragt: ist sie eine bürgerliche oder eine sozialistische? Die zweite Frage betrifft das Verhältnis der Sozialdemokratie zur bürgerlichen Demokratie. Die dritte die Unterstützung oppositioneller Parteien durch die sozialdemokratische Partei bei den Dumawahlen.
Auf den ersten Blick scheinen diese Fragen sehr „fein“ gewählt zu sein. Aber nicht umsonst lautet das Sprichwort: Wo der Faden fein ist, da reißt er. Der Witz ist der, dass jeder einigermaßen mit den Tatsachen vertraute und aufmerksame Mensch in diesen Fragen sofort einen feinen Trick erkennt. Erstens ist es ein Trick in dem Sinne, dass wir es hier mit einem Musterbeispiel von Metaphysik zu tun haben, gegen die Plechanow üppige Phrasen zu deklamieren liebt, ohne es zu verstehen, sie aus seinen eigenen konkreten geschichtlichen Betrachtungen auszumerzen. Zweitens ist es ein Trick in dem Sinne, dass der Befragte künstlich in eine kleine und geradezu armselig enge Umzäunung hinein manövriert wird. Nur bei völliger, man kann wohl sagen jungfräulicher Unschuld in den Fragen der Politik kann man übersehen, dass Plechanow absichtlich weit ausholt, um den Antwortgeber ganz sachte zu einer Rechtfertigung ... der Blocks mit den Kadetten zu treiben!
Einen naiven Gesprächspartner in eine Rechtfertigung von Blocks mit einer bestimmten Partei hinein jagen, ohne diese Partei zu nennen; von der revolutionären Bewegung reden, ohne zu unterscheiden zwischen der revolutionären und der oppositionellen bürgerlichen Demokratie; andeuten, dass die Bourgeoisie auf ihre Weise, d. h. anders als das Proletariat, „kämpft“, ohne klar und deutlich zu sagen, worin in Wirklichkeit hierbei der Unterschied besteht; mit Hilfe der Amsterdamer Resolution, die dazu dienen soll, dem Ausländer den wirklichen Inhalt der Streitfragen der russischen Sozialdemokratie zu verbergen, den Gesprächspartner wie eine junge Dohle einfangen; eine konkrete These über eine bestimmte Taktik in einem bestimmten Fall, über das Verhältnis zu den verschiedenen Parteien der bürgerlichen Demokratie, aus der allgemeinen Phrase vom „allgemeinen Charakter der Revolution“ ableiten, anstatt diesen „allgemeinen Charakter der russischen Revolution“ aus der genauen Analyse der konkreten Interessen und der Lage der verschiedenen Klassen in der russischen Revolution abzuleiten – ist das nicht ein Trick? Ist das nicht ein offener Hohn auf den dialektischen Materialismus von Marx?
Ja, ja, nein, nein, was darüber ist, ist vom Übel! Entweder bürgerliche oder sozialistische Revolution, den Rest kann man aus der grundsätzlichen „Lösung“ mittels einfacher Syllogismen „ableiten“!
Es ist das ungeheure Verdienst Kautskys, dass er bei der Beantwortung solcher Fragen sofort begriffen hat, worum es sich handelt und welchen Fehler schon die Formulierung der Fragen selbst in sich birgt. Kautsky hat eigentlich die Plechanowschen Fragen dadurch beantwortet, dass er die Plechanowsche Fragestellung beiseite geschoben hat! Kautsky hat Plechanow dadurch geantwortet, dass er die Plechanowsche Fragestellung korrigiert hat. Kautskys Kritik an der Plechanowschen Fragestellung ist um so vernichtender gewesen, je weicher und vorsichtiger er den Initiator der Enquete korrigiert hat.
„Wir tun gut, uns mit dem Gedanken vertraut zu machen“ – schreibt Kautsky –, „dass wir da völlig neuen Situationen und Problemen entgegengehen, auf die keine bisherige Schablone passt.“ [2]
Das trifft den Kern der Plechanowschen Frage: Haben wir es, nach dem allgemeinen Charakter der Revolution zu urteilen, mit einer bürgerlichen oder einer sozialistischen Revolution zu tun? Das ist eine alte Schablone, sagt Kautsky. Man darf die Frage nicht so stellen. Das ist nicht marxistisch. Die Revolution in Russland ist keine bürgerliche, denn die Bourgeoisie gehört nicht zu den Triebkräften der jetzigen revolutionären Bewegung Russlands. Die Revolution in Russland ist aber auch keine sozialistische Revolution, denn sie kann das Proletariat keinesfalls zur Alleinherrschaft oder zur Diktatur führen. Die Sozialdemokratie kann in der russischen Revolution siegen und muss nach diesem Sieg streben. Der Sieg der jetzigen Revolution aber kann nicht der Sieg nur des Proletariats ohne Hilfe anderer Klassen sein. Welche Klasse ist nun kraft der objektiven Bedingungen der jetzigen Revolution der Bundesgenosse des Proletariats? Die Bauernschaft:
„Eine solide Interessengemeinschaft für die ganze Zeit des revolutionären Kampfes besteht aber nur zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft.“ [3]
Alle diese Thesen Kautskys bestätigen aufs Glänzendste die Richtigkeit der Taktik des revolutionären Flügels der russischen Sozialdemokratie, d. h. der Taktik der Bolschewiki. Diese Bestätigung ist um so wertvoller, als Kautsky alle konkreten und praktischen Fragen beiseite schiebt und seine ganze Aufmerksamkeit auf eine systematische Darstellung der allgemeinen Grundlagen der sozialistischen Taktik in unserer Revolution konzentriert. Er zeigt, dass Plechanows fadenscheiniges Argument: „die Revolution ist eine bürgerliche Revolution – wir müssen die Bourgeoisie unterstützen“, mit dem Marxismus nichts gemein hat. Er hat somit den Grundfehler unseres sozialdemokratischen Opportunismus, d. h. des Menschewismus, als solchen anerkannt, den die Bolschewiki bereits seit Anfang 1905 bekämpft haben.
Ferner hat die Analyse Kautskys, der nicht von allgemeinen Phrasen, sondern von einer Untersuchung der Lage und der Interessen bestimmter Klassen ausgeht, den Schluss bestätigt, den unsere Kadettennachbeter als „taktlos“ empfunden haben: die Bourgeoisie fürchtet in Russland die Revolution mehr als die Reaktion, sie hasst den Absolutismus, weil er die Revolution erzeugt hat, sie will die politische Freiheit, um der Revolution Einhalt zu gebieten.
Man vergleiche das mit dem naiven Glauben an die Kadetten bei unserm Plechanow, der in seinen Fragen den Kampf der Opposition gegen die alte Ordnung und den Kampf gegen die Versuche der Regierung, die revolutionäre Bewegung zu zermalmen, unmerklich einander gleichgesetzt hat! Zum Unterschied von der schablonenhaften Ansicht der Menschewiki über die „bürgerliche Demokratie“ hat Kautsky ihre revolutionären und ihre nicht-revolutionären Elemente aufgezeigt, hat er den Bankrott des Liberalismus, die Unvermeidlichkeit einer Rechtsschwenkung der Liberalen aufgezeigt, die um so rascher erfolgt, je selbständiger und bewusster die Bauernschaft wird. Die bürgerliche Revolution, die vom Proletariat und der Bauernschaft trotz der Unbeständigkeit der Bourgeoisie vollbracht wird, – diese Grundthese der bolschewistischen Taktik ist von Kautsky restlos bestätigt worden.
Kautsky zeigt, dass der Sieg im Verlauf der Revolution sehr wohl der sozialdemokratischen Partei zufallen kann, und dass diese Partei ihren Anhängern Siegeszuversicht einflößen muss. Die menschewistische Furcht vor dem Sieg der Sozialdemokratie in der gegenwärtigen Revolution wird wiederum durch Kautskys Schlussfolgerung vollständig widerlegt. Die lächerlichen Bemühungen Plechanows, die Aufgaben unserer Revolution „der Amsterdamer Resolution“ anzupassen, wirken gegenüber Kautskys einfachem und klarem Satz: „Man kann nicht erfolgreich kämpfen, wenn man von vornherein auf den Sieg verzichtet“ [4], ganz besonders komisch.
Noch deutlicher tritt der grundlegende Unterschied zwischen den Methoden Kautskys und den Methoden des Führers unserer heutigen Opportunisten, Plechanows, hervor, wenn wir bei ersterem lesen: annehmen, dass „alle jene Klassen und Parteien, die die politische Freiheit anstreben, einfach zusammenzuwirken hätten, um sie zu erringen“, heißt „nur die politische Oberfläche in Betracht ziehen“. [5] Das klingt so, als ob Kautsky gerade die ehrenwerte Gesellschaft von Sozialdemokraten gemeint habe, die zu den Liberalen übergelaufen sind, die Herren Portugalow, Prokopowitsch, Kuskowa, Bogutscharski, Isgojew, Struve u. a., die nämlich gerade den Fehler machen, auf den Kautsky hinweist (wobei sich Plechanow in ihrem Schlepptau befindet). Der Umstand, dass Kautsky die Schriften dieser Herren nicht kennt, verstärkt nur die Bedeutung seiner theoretischen Schlussfolgerung.
Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass Kautsky die Hauptthesen aller russischen Sozialdemokraten von dem nichtsozialistischen Charakter der Bauernbewegung, von der Unmöglichkeit der Entstehung des Sozialismus aus der kleinen bäuerlichen Produktion usw. vollkommen anerkennt. Für die Sozialrevolutionäre, die gerne versichern, dass sie „ebenfalls mit Marx einverstanden sind“, wird es sehr lehrreich sein, über diese Worte Kautskys nachzudenken.
Zum Schluss einige Worte über die „Autoritäten“. Die Marxisten können nicht auf dem üblichen Standpunkt der radikalen Intellektuellen stehen, die scheinrevolutionär abstrakt erklären: „Keine Autoritäten“.
Nein. Die Arbeiterklasse, die in der ganzen Welt einen schwierigen und hartnäckigen Kampf für volle Befreiung führt, braucht Autoritäten, selbstverständlich jedoch nur in dem Sinne, in dem junge Arbeiter die Erfahrung alter Kämpfer gegen Unterdrückung und Ausbeutung benötigen, der Kämpfer, die viele Streiks durchgeführt und an einer Reihe Revolutionen teilgenommen haben, die durch revolutionäre Traditionen und einen breiten politischen Gesichtskreis weise geworden sind. Die Autorität des internationalen Kampfes des Proletariats brauchen die Proletarier jedes Landes. Die Autorität der Theoretiker der internationalen Sozialdemokratie brauchen wir, um uns klar zu werden über Programm und Taktik unserer Partei. Aber diese Autorität hat natürlich nichts mit den offiziellen Autoritäten der bürgerlichen Wissenschaft und der Polizeipolitik gemein. Diese Autorität ist die Autorität eines vielseitigeren Kampfes in denselben Reihen der internationalen sozialistischen Armee. So wichtig diese Autorität für die Erweiterung des Gesichtskreises der Kämpfer ist, so unzulässig wäre es in einer Arbeiterpartei, darauf Anspruch zu erheben, praktische und konkrete Fragen der Politik der nächsten Zeit von außerhalb, von weit her entscheiden zu wollen. Der Kollektivgeist der fortgeschrittenen, klassenbewussten Arbeiter jedes einzelnen Landes, die den unmittelbaren Kampf führen, wird stets in allen diesen Fragen die größte Autorität sein.
Das ist unsere Ansicht darüber, welche Autorität den Meinungen Kautskys und Plechanows zukommt. Die theoretischen Arbeiten des Letzteren, hauptsächlich die Kritik an den Narodniki und den Opportunisten, sind eine bleibende Errungenschaft der Sozialdemokratie ganz Russlands, und kein „Fraktionsgeist“ vermag einen Menschen, wenn er auch nur über ein ganz klein wenig „physische Geisteskraft“ verfügt, so sehr zu verblenden, dass er die Wichtigkeit dieser Errungenschaften vergisst oder leugnet. Aber als politischer Führer der russischen Sozialdemokraten in der bürgerlichen russischen Revolution, als Taktiker hält Plechanow keiner Kritik stand. Er hat auf diesem Gebiet einen Opportunismus bekundet, der den russischen sozialdemokratischen Arbeitern hundertmal mehr geschadet hat als der Opportunismus Bernsteins den deutschen Arbeitern. Und gegen diese kadettenähnliche Politik Plechanows, der in die Arme der Herren Prokopowitsch und Co. zurückgekehrt ist, die er in den Jahren 1899/1900 aus der Sozialdemokratischen Partei hinausgeworfen hat, müssen wir den rücksichtslosesten Kampf führen.
Dass dieser taktische Opportunismus Plechanows die Grundlagen der marxistischen Methode gänzlich missachtet, ersieht man am besten aus dem Gedankengang Kautskys in dem vorliegenden Artikel.
1. Die Neue Zeit, 25. Jahrg., Bd. I, S. 331. Die Red.
2. Ebenda, S. 333. Die Red.
3. Ebenda, S. 332. Die Red.
4. Ebenda, S. 332. Die Red.
5. Ebenda, S. 332. Die Red.
Zuletzt aktualisiert am 24. Oktober 2024