Karl Kautsky

Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution

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5. Das Proletariat und sein Alliierter in der Revolution


Die neue Zeit, 25. Jg., 1906-1907, 1. Bd. (1906), H. 10, S. 331–333, 5. Dezember 1906.
Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.


Es ist hier vielleicht am Platze, als Abschluss dieser Studie mich über eine Umfrage zu äußern, die mein Freund Plechanow bei einer Reihe nichtrussischer Genossen veranstaltet hat über den Charakter der russischen Revolution und die Taktik, die von den russischen Sozialisten zu befolgen ist. Das heißt, ich möchte nur einige Bemerkungen an diese Fragen knüpfen, nicht sie präzis beantworten. Wenn ich glaube, dass meine fast drei Jahrzehnte alte innige Verbindung mit hervorragenden Trägern der revolutionären Bewegung Russlands mich instand setzt, den deutschen Genossen manche Aufschlüsse über diese Bewegung zu geben, so fühle ich mich doch den russischen Genossen gegenüber in der Stellung des Lernenden, wenn es sich um russische Dinge handelt. Aber natürlich ist es für uns westeuropäische Sozialisten dringend notwendig, zu einer bestimmten Auffassung der russischen Revolution zu kommen, denn sie ist kein lokales, sondern ein internationales Ereignis, und von der Art, wie wir sie erkennen, wird die Art aufs Tiefste beeinflusst, wie wir die nächsten taktischen Ausgaben der eigenen Partei auffassen. Ich habe aber auch keinen Grund, mit meiner Meinung hinter dem Berge zu halten, wenn russische Genossen mich darum fragen.

Der Fragebogen umfasst folgende drei Fragen:

    Welches scheint der allgemeine Charakter der russischen Revolution zu sein? Stehen wir da vor einer bürgerlichen oder einer sozialistischen Revolution?
     
    Welche Haltung muss, angesichts der verzweifelten Versuche der russischen Regierung, die revolutionäre Bewegung zu unterdrücken, die sozialdemokratische Partei gegenüber der bürgerlichen Demokratie einnehmen, die in ihrer Weise für die politische Freiheit kämpft?
     
    Welche Taktik soll die sozialdemokratische Partei bei den Dumawahlen befolgen, um ohne Verletzung der Resolution von Amsterdam die Kräfte der bürgerlichen Oppositionsparteien zum Kampfe gegen unser „ancien régime“ auszunutzen?

Die erste dieser Fragen scheint mir nicht einfach in dem einen oder anderen Sinne zu beantworten zu sein. Das Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen, das heißt der Revolutionen, deren Triebkraft die Bourgeoisie bildete, ist abgeschlossen, auch für Russland. Auch dort bildet das Proletariat nicht mehr ein Anhängsel und Werkzeug der Bourgeoisie, wie das in den bürgerlichen Revolutionen der Fall war, sondern eine selbständige Klasse mit selbständigen revolutionären Zielen. Wo aber das Proletariat in dieser Weise auftritt, hört die Bourgeoisie auf, eine revolutionäre Klasse zu sein. Die russische Bourgeoisie, soweit sie überhaupt eine selbständige Klassenpolitik treibt und liberal ist, hasst wohl den Absolutismus, hasst aber noch mehr die Revolution, und sie hasst den Absolutismus vor allem deswegen, weil sie in ihm die Grundursache der Revolution sieht; und soweit sie nach politischer Freiheit verlangt, so geschieht dies vor allem deswegen, weil sie darin das einzige Mittel zu finden glaubt, der Revolution ein Ende zu machen.

Die Bourgeoisie gehört also nicht zu den Triebkräften der heutigen revolutionären Bewegung Russlands, und insofern kann man diese nicht eine bürgerliche nennen.

Deswegen darf man aber doch nicht ohne Weiteres sagen, dass sie eine sozialistische sei. Sie vermag auf keinen Fall das Proletariat zur Alleinherrschaft, zur Diktatur zu bringen. Dazu ist das Proletariat Russlands zu schwach und zu unentwickelt. Allerdings ist es sehr wohl möglich, dass im Fortgange der Revolution der Sieg der sozialdemokratischen Partei zufällt, und die Sozialdemokratie tut sehr wohl daran, ihre Anhänger mit dieser Siegeszuversicht zu erfüllen, denn man kann nicht erfolgreich kämpfen, wenn man von vornherein auf den Sieg verzichtet. Aber es wird der Sozialdemokratie unmöglich sein, den Sieg allein durch das Proletariat ohne die Hilfe einer anderen Klasse zu erringen, sie wird als siegreiche Partei daher bei der Durchführung ihres Programms nicht weiter gehen können, als die Interessen der das Proletariat unterstützenden Klasse gestatten.

Auf welche Klasse darf sich aber das russische Proletariat in seinem revolutionären Kampfe stützen? Wenn man nur die politische Oberfläche in Betracht zieht, dann kann man zur Anschauung kommen, dass alle jene Klassen und Parteien, die die politische Freiheit anstreben, einfach zusammenzuwirken hätten, um sie zu erringen, und ihre Differenzen erst austragen sollten, nachdem die politische Freiheit erobert ist.

Aber jeder politische Kampf ist im Grunde ein Klassenkampf, also auch ein ökonomischer Kampf. Die politischen Interessen sind das Resultat ökonomischer Interessen; um diese letzteren zu wahren, erheben sich die Volksmassen, nicht um abstrakte politische Ideen durchzusetzen. Wer die Volksmassen für den politischen Kampf begeistern will, muss ihnen zeigen, wie eng er verknüpft ist mit ihren ökonomischen Interessen. Diese dürfen für keinen Moment in den Hintergrund treten, soll nicht der Kampf um die politische Freiheit ins Stocken kommen. Die Allianz des Proletariats mit anderen Klassen im revolutionären Kampfe muss vor allem auf ökonomischer Interessengemeinschaft beruhen, soll sie eine dauerhafte und siegreiche sein können. Auf einer derartigen Interessengemeinschaft muss auch die Taktik der russischen Sozialdemokratie aufgebaut sein.

Eine solide Interessengemeinschaft für die ganze Zeit des revolutionären Kampfes besteht aber nur zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft. Sie muss die Grundlage der ganzen revolutionären Taktik der Sozialdemokratie Russlands abgeben. Ein Zusammenwirken mit dem Liberalismus darf nur dort und in einer Weise ins Auge gefasst werden, wo das Zusammenwirken mit der Bauernschaft dadurch nicht gestört wird.

In der Interessengemeinschaft zwischen dem industriellen Proletariat und der Bauernschaft liegt die revolutionäre Kraft der russischen Sozialdemokratie begründet und die Möglichkeit ihres Sieges, zugleich aber auch die Grenze der Möglichkeit seiner Ausbeutung.

Ohne die Bauern können wir in Russland so bald nicht siegen. Dass die Bauern Sozialisten werden, ist jedoch nicht zu erwarten. Der Sozialismus kann nur auf der Grundlage des Großbetriebs aufgebaut werden, er widerspricht zu sehr den Bedingungen des Kleinbetriebs, als dass er inmitten einer überwiegend bäuerlichen Bevölkerung entstehen und sich behaupten könnte. Er vermag vielleicht, wenn er in der Großindustrie und dem landwirtschaftlichen Großbetrieb zur Herrschaft gelangt ist, dann durch die Kraft seines Beispiels kleine Bauern zu überzeugen und zur Nachahmung anzuregen, er kann von diesen nicht ausgehen. Und in Russland fehlen mehr als anderswo die intellektuellen und materiellen Bedingungen dazu. Der Kommunismus des russischen Dorfes liegt gänzlich zu Boden, und er bedeutet keineswegs die Gemeinsamkeit der Produktion. Auch ist es unmöglich, die moderne Warenproduktion auf der Grundlage der Dorfgemeinde in eine höhere Produktionsweise überzuführen. Dazu ist mindestens der Rahmen des Großstaats notwendig, zur Produktion auf nationaler Grundlage sind aber die Produzenten der russischen Landwirtschaft keineswegs befähigt.

Die jetzige Revolution dürfte auf dem Lande nur dahin führen, eine kraftvolle Bauernschaft auf der Grundlage des Privateigentums am Boden zu schaffen und damit die gleiche Kluft zwischen dem Proletariat und dem besitzenden Teile der ländlichen Bevölkerung aufzutun, wie sie in Westeuropa schon besteht. So erscheint es undenkbar, dass die jetzige Revolution Russlands bereits zur Einführung einer sozialistischen Produktionsweise führt, auch wenn sie zeitweilig die Sozialdemokratie aus Ruder bringen sollte.

Aber freilich, wir können manche Überraschungen erleben. Wir wissen nicht, wie lange die russische Revolution noch dauern wird, und nach den Formen, die sie jetzt angenommen hat, scheint sie nicht so rasch zu Ende gehen zu wollen. Wir wissen auch nicht, welchen Einfluss sie auf Westeuropa üben und wie sie dort die proletarische Bewegung befruchten wird. Endlich wissen wir schon gar nicht, wie die daraus erwachsenden Erfolge des westeuropäischen Proletariats auf das russische zurückwirken werden. Wir tun gut, uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass wir da völlig neuen Situationen und Problemen entgegengehen, an die keine bisherige Schablone passt.

Wir dürften der russischen Revolution und den Aufgaben, die sie uns stellt, am ehesten dann gerecht werden, wenn wir sie weder als bürgerliche Revolution im herkömmlichen Sinne, noch auch als sozialistische betrachten, sondern als einen ganz eigenartigen Prozess, der sich an der Grenzscheide zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaft vollzieht, die Auflösung der einen fördert, die Bildung der anderen vorbereitet und auf jeden Fall die ganze Menschheit der kapitalistischen Zivilisation um ein gewaltiges Stück in ihrem Entwicklungsgang vorwärts bringt.


Zuletzt aktualisiert am 24. Oktober 2024