MIA > Deutsch > Marxisten > Kautsky > Erfurter Programm
<< Vorrede zur 5. Auflage | Kapitel II. >>
Das Programm, das sich die deutsche Sozialdemokratie auf dem Parteitag zu Erfurt (14.–20. Oktober 1891) gegeben hat, zerfällt in zwei Teile, einen allgemeinen, theoretischen, der die Grundsätze und Endziele der Sozialdemokratie behandelt, und einen praktischen Teil, der die Forderungen enthält, welche die Sozialdemokratie als praktische Partei an die heutige Gesellschaft und den heutigen Staat stellt, um damit die Erreichung ihrer Endziele anzubahnen.
Uns beschäftigt hier nur der erste, allgemeine Teil. Derselbe zerfällt wieder in drei Unterabteilungen: 1. Eine Kennzeichnung der heutigen Gesellschaft und ihres Entwicklungsganges. Daraus werden gefolgert: 2. die Endziele der Sozialdemokratie und 3. die Mittel, welche zu ihrer Verwirklichung führen können und werden.
Betrachten wir zunächst die erste Unterabteilung. Sie besteht aus vier Absätzen, welche lauten:
„Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden.
Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe, geht die Entwicklung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile dieser Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern monopolisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten – Kleinbürger, Bauern – bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung.
Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist.
Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, daß die Produktivkräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.“
Gleich im ersten Satz unseres Programms stoßen wir auf ein bemerkenswertes Wort: „ökonomische Entwicklung“. Dasselbe führt uns sofort auf den Kernpunkt der sozialdemokratischen Gedankenwelt.
Mancher meint, etwas sehr Weises zu sagen, wenn er uns gegenüber erklärt: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Wie es heute ist, so ist es immer gewesen und wird es immer sein.“ Nichts unrichtiger und törichter als diese Behauptung. Die neuere Wissenschaft zeigt uns, daß nirgends ein Stillstand stattfindet, daß in der Gesellschaft wie in der Natur eine stete Entwicklung wahrnehmbar ist.
Wir wissen heute, daß ursprünglich der Mensch in tierähnlicher Weise nur von der Einsammlung dessen lebte, was die Natur ihm freiwillig bot. Aber er erfand eine Waffe nach der anderen, ein Werkzeug nach dem anderen, eines vollkommener als das andere. Er wurde Fischer, Jäger, Viehzüchter, endlich seßhafter Ackerbauer und Handwerker. Immer rascher war der Gang der Entwicklung, bis diese endlich heute im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität eine so schnelle geworden ist, daß wir sie mit unseren eigenen Augen verfolgen können, ohne Vergleichung mit früheren Zeiten. Und da gibt es noch Leute, die mit überlegener Miene uns belehren wollen darüber, daß es nichts Neues unter der Sonne gibt!
Die Art, wie die Menschen ihren Lebensunterhalt gewinnen, wie sie die dazu nötigen Güter erzeugen (produzieren), hängt ab von der Beschaffenheit ihrer Werkzeuge, ihrer Rohstoffe, mit einem Wort, von den Mitteln, die ihnen zur Gütererzeugung (Produktion) zur Verfügung stehen, von ihren Produktionsmitteln. Die Menschen haben aber nie vereinzelt produziert, sondern stets in größeren oder kleineren Gesellschaften, deren jeweilige Form abhängt von der jeweilig herrschenden Art der Produktion.
Der Entwicklung der Produktion entspricht demnach eine gesellschaftliche Entwicklung.
Die Formen der Gesellschaft und die Verhältnisse ihrer Mitglieder untereinander hängen aber aufs engste zusammen mit den Eigentumsformen, die sie anerkennt und aufrechterhält. Hand in Hand mit der Entwicklung der Produktion geht daher auch eine Entwicklung des Eigentums.
Ein Beispiel wird das klarmachen. Wir wollen dasselbe der bäuerlichen Wirtschaft entnehmen.
Ein ordentlicher bäuerlicher Betrieb umfaßt zwei Wirtschaftsgebiete: die Viehhaltung und den Ackerbau. In der Viehhaltung herrschte bei uns bis ins vorige Jahrhundert hinein allgemein und herrscht vielfach heute noch die Weidewirtschaft. Diese bedingt aber das Gemeineigentum an Grund und Boden. Es wäre ein Unsinn, wollte jeder Bauer sein eigenes Stückchen Weide für sich absondern, es besonders einzäunen, einen eigenen Hirten für seine paar Stück Vieh halten usf. Daher hängt der Bauer, wo die Weidewirtschaft besteht, mit der größten Zähigkeit an der Gemeindeweide und am Gemeindehirten fest.
Anders steht es im Ackerbau, wenn derselbe mit den einfachen Werkzeugen der bäuerlichen Wirtschaft, ohne Maschinen, betrieben wird. Eine gemeinsame Bearbeitung des gesamten Ackerlandes einer Bauerngemeinde durch die Gesamtheit der Gemeindegenossen ist unter diesen Umständen weder notwendig noch förderlich für die Produktion. Die Werkzeuge des bäuerlichen Ackerbaues bedingen es, daß der einzelne allein oder im Verein mit einigen wenigen (einer Gruppe, wie sie die bäuerliche Familie darstellt) ein kleineres Stück Land besonders bebaut. Die Bodenbestellung wird aber unter diesen Umständen um so sorgfältiger sein, sie wird einen um so reicheren Ertrag abwerfen, je freier der Bebauer über sein Grundstück verfügen kann und je voller ihm der Ertrag der Bearbeitung und Verbesserung seines Ackers zuteil wird. Der Ackerbau drängt in seinen Anfängen zum Kleinbetrieb, dieser aber bedarf des Privateigentums an den Produktionsmitteln, soll er sich voll entfalten können.
Wir sehen daher z. B. bei den alten Deutschen das Gemeineigentum an Grund und Boden, das bei ihnen herrschte, solange die Weidewirtschaft (und die Jagd) für sie die vornehmsten Mittel zur Gewinnung des Lebensunterhalts waren, in dem Maße immer mehr und mehr verschwinden und dem Privateigentum an Grund und Boden Platz machen, in dem der kleinbäuerliche Ackerbau in den Vordergrund trat. Die Ersetzung der Weidewirtschaft durch die Stallwirtschaft machte dem ländlichen Gemeineigentum vollends den Garaus.
So ist unter dem Einfluß der wirtschaftlichen (ökonomischen) Entwicklung infolge der Fortschritte in der Landwirtschaft der Bauer aus einem Kommunisten zu einem Fanatiker des Privateigentums geworden.
Was vom Kleinbauern, gilt ebenfalls vom Handwerker. Das Handwerk bedarf keines genossenschaftlichen Zusammenarbei-tens einer größeren Anzahl von Arbeitern. Jeder Arbeiter des Handwerks produziert für sich entweder ganz allein oder mit ein bis zwei Helfern, Gesellen, die zu seiner Familie, seinem Haushalt, gehören. Wie in der bäuerlichen Landwirtschaft hält auch im Handwerk der einzelne Arbeiter oder die einzelne Arbeiterfamilie einen besonderen Wirtschaftsbetrieb in Gang. Und daher bedarf das Handwerk ebenso wie der Kleinbetrieb in der Landwirtschaft des Privateigentums an den Produktionsmitteln, die es verwendet, und an den Produkten, die es erzeugt, um seine Leistungsfähigkeit, seine Produktivkraft voll zu entfalten. Im Kleinbetrieb hängt das Produkt des Arbeiters ab von seiner Persönlichkeit, von seiner Geschicklichkeit, seinem Fleiß, seiner Ausdauer. Er nimmt es daher für sich in Anspruch als sein persönliches Eigentum. Er kann aber seine Persönlichkeit in der Produktion nicht voll entfalten, wenn er nicht persönlich frei ist und frei über seine Produktionsmittel verfügt, das heißt, wenn diese nicht sein Privateigentum sind.
Das hat die Sozialdemokratie erkannt und in ihrem Programm ausdrücklich anerkannt mit den Worten, daß „das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Grundlage des Kleinbetriebs bildet“. Aber sie sagt gleichzeitig, daß „die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebs führt“.
Verfolgen wir nun diese Entwicklung.
Die Ausgangspunkte der bürgerlichen Gesellschaft sind die bäuerliche Landwirtschaft und das Handwerk.
Die Bauernfamilie befriedigte ursprünglich alle ihre Bedürfnisse selbst. Sie erzeugte alle Nahrungs- und Genußmittel, deren sie bedurfte, alle Werkzeuge, alle Kleider für ihre Mitglieder, sie baute selbst ihr Haus usw. Sie produzierte so viel, als sie brauchte, aber auch nicht mehr. Mit der Zeit aber gelangte sie durch den Fortschritt der Landwirtschaft dahin, daß sie einen Überschuß an Produkten erzeugte, den sie nicht unmittelbar selbst brauchte. Sie wurde dadurch in den Stand gesetzt, für diesen Überschuß Produkte einzutauschen, die sie nicht oder nicht genügend zu erzeugen vermochte, die ihr aber willkommen waren, etwa einen Schmudk, eine Waffe oder ein Werkzeug. Durch den Austausch wurden diese Produkte zu Waren.
Eine Ware ist ein Produkt, das nicht zur Verwendung oder zum Verbrauch (Konsum) innerhalb des Wirtschaftsbetriebs, in dem es erzeugt worden, sondern zum Austausch gegen das Produkt eines anderen Wirtschaftsbetriebs bestimmt ist. Der Weizen, den der Bauer zum Selbstgebrauch baut, ist keine Ware, wohl aber derjenige, den er zum Verkauf baut. Verkaufen heißt nichts, als eine bestimmte Ware gegen eine solche austauschen, die jedermann willkommen ist und die auf diese Weise zu Geld wird, z. B. das Gold.
Der Bauer wird, wie wir gesehen, im Laufe der ökonomischen Entwicklung zum Warenproduzenten; der Handwerker im selbständigen Kleinbetrieb ist von vornherein Warenproduzent. Und es ist nicht bloß ein Überschuß an Produkten, den er verkauft, sondern bei ihm steht die Produktion zum Verkauf im Vordergrund.
Der Warenaustausch setzt aber zweierlei voraus: erstens, daß nicht alle einzelnen Wirtschaftsbetriebe dasselbe produzieren, sondern daß eine Arbeitsteilung in der Gesellschaft eingetreten ist, und zweitens, daß die Tauschenden über die Produkte, die sie austauschen, frei verfügen, daß diese ihr Privateigentum sind.
Je mehr im Laufe der ökonomischen Entwicklung die Teilung der Arbeit in einzelne Berufe fortschreitet und das Privateigentum an Umfang und Bedeutung zunimmt, desto mehr tritt im allgemeinen die Produktion für den Selbstgebrauch zurück und wird verdrängt durch die Warenproduktion.
Die Arbeitsteilung führt schließlich dahin, daß auch das Kaufen und Verkaufen ein besonderes Geschäft wird, dem sich eine Menschenklasse ausschließlich hingibt, die Kaufleute. Dieselben ziehen ihr Einkommen daraus, daß sie billig kaufen und teuer verkaufen. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß sie die Preise der Waren willkürlich bestimmen können. Der Preis einer Ware hängt in letzter Linie ab von ihrem Tauschwert. Der Wert einer Ware wird aber bestimmt durch die im allgemeinen zu ihrer Herstellung erforderliche Arbeitsmenge. Der Preis einer Ware fällt jedoch fast nie mit ihrem Wert genau zusammen; er wird nicht bloß durch die Produktionsverhältnisse bestimmt, wie der Wert, sondern auch durch die Marktverhältnisse, vor allem durch Nachfrage und Angebot, davon, in welcher Menge die Ware auf den Markt gebracht, in welcher Menge sie verlangt wird. Aber auch der Preis unterliegt gewissen Gesetzen. Er ist zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten ein bestimmter. Will also der Kaufmann einen Überschuß des Verkaufspreises der Ware über ihren Einkaufspreis erzielen, das heißt, einen Gewinn oder Profit, so kann er denselben in der Regel nur dadurch erlangen, daß er seine Ware an einem Ort oder zu einer Zeit kauft, wo sie billig ist, daß er sie an einem Ort oder zu einer Zeit verkauft, wo sie teuer ist.
Wenn der Bauer oder der Handwerker Waren kauft, tut er dies, weil er sie für sich oder seine Familie braucht: als Produktions- oder als Lebensmittel. Der Kaufmann kauft Waren, nicht um sie selbst zu verbrauchen, sondern um sie so zu verwenden, daß sie ihm einen Profit verschaffen. Waren und Geldsummen, welche zu diesem Zwecke verwendet werden, sind – Kapital.
Man kann von keiner Ware oder Geldsumme an und für sich sagen, sie sei Kapital oder nicht. Es kommt auf ihre Verwendung an. Der Tabak, den ein Kaufmann kauft, um ihn mit einem Gewinn wieder zu verkaufen, ist für ihn Kapital. Der Tabak, den er kauft, um ihn selbst zu rauchen, ist für ihn kein Kapital.
Die ursprünglichste Form des Kapitals ist die des Kaufmannskapitals. Fast ebensoalt ist das Wucherkapital, dessen Gewinn in dem Zins besteht, den der Kapitalist für entliehene Waren oder Geldsummen einstreicht.
Das Kapital bildet sich auf einer gewissen Stufe der Warenproduktion, natürlich auf der Grundlage des Privateigentums, welches ja die Grundlage der ganzen Warenproduktion bildet. Aber unter dem Einfluß des Kapitals erhält das Privateigentum ein ganz neues Gesicht, oder vielmehr es erhält jetzt zwei Gesichter. Neben dem kleinbürgerlichen, den Verhältnissen des Kleinbetriebs entsprechenden, zeigt es jetzt auch ein kapitalistisches. Die Verteidiger des jetzigen Privateigentums weisen nur auf seine kleinbürgerliche Seite hin. Und doch muß man blind sein, um heute die kapitalistische Seite des Privateigentums zu übersehen.
Auf der Stufe der ökonomischen Entwicklung, die wir jetzt behandeln, wo das Kapital nur Kaufmanns- und Wucherkapital ist, werden erst wenige Züge dieses kapitalistischen Gesichts sichtbar, aber auch sie sind bemerkenswert.
Das Einkommen des Bauern oder Handwerkers hängt unter der Herrschaft des Kleinbetriebs in erster Linie ab von seiner und seiner Familiengenossen Persönlichkeit, seinem Fleiß, seiner Geschicklichkeit usw. Die Menge des Profits des Kaufmanns dagegen ist um so größer, je mehr Geld er hat, Waren zu kaufen, je mehr Waren er zum Verkauf besitzt. Wenn ich 10 000 Pfund Tabak verkaufe, wird mein Profit unter sonst gleichen Umständen hundertmal so groß sein, als wenn ich bloß 100 Pfund verkaufen kann. Das gleiche gilt vom Wucherer. Das Einkommen des Kapitalisten – als Kapitalisten – hängt also in erster Linie ab von der Größe seines Kapitals.
Die Arbeitskraft und die Fähigkeiten des einzelnen sind begrenzt; so auch die Menge der Erzeugnisse, die ein Arbeiter unter bestimmten Verhältnissen hervorbringen kann. Sie kann einen gewissen Durchschnitt nie weit übersteigen. Geld dagegen kann man ins unendliche aufhäufen, dafür gibt es kein Maß und kein Ziel. Und je mehr Geld einer hat, desto mehr Geld heckt es, wenn als Kapital angewendet. Damit ist die Möglichkeit gegeben, unermeßliche Reichtümer zu erwerben.
Aber das Privateigentum schafft noch eine andere Möglichkeit. Das Privateigentum an Produktionsmitteln bedeutet für jedermann die rechtliche Möglichkeit, dieselben zu erwerben, aber auch die Möglichkeit, sie, das heißt seine Lebensquellen, zu verlieren, also in völlige Armut zu versinken. Das Wucherkapital setzt die Bedürftigkeit bereits voraus. Wer hat, was er braucht, wird nichts zu leihen nehmen. Indem es die Notlage des Bedürftigen ausbeutet, ist das Wucherkapital ein Mittel, sie zu vermehren.
Arbeitsloser Erwerb – unermeßliche Reichtümer der einen -völlige Armut der anderen – diese Züge zeigt uns das kapitalistische Gesicht des Privateigentums. Aber noch bleiben diese Züge verschleiert, solange das Kaufmanns- und Wucherkapital im Anfang ihrer Entwicklung sind. Namentlich der schlimmste Zug, die Armut, tritt nur schwach zutage, die Besitzlosigkeit bleibt Ausnahmsfall, ist nicht der Zustand großer Volksmassen.
Denn ebenso wie die anderen Ausbeuter, die neben dem Kaufmann und Wucherer auftauchen, z. B. im Mittelalter die feudalen Grundherrn – auf die wir hier jedoch, um nicht abzuschweifen, nicht weiter eingehen können –, ist auch der Kaufmann und Wucherer auf dieser Stufe auf das Bestehen und Gedeihen der Kleinbetriebe in Stadt und Land angewiesen. Noch gilt das Sprichwort; Hat der Bauer Geld, so hat es die ganze Welt. Der Handel vernichtet den Kleinbetrieb nicht, er fördert ihn unter Umständen. Der Wucherer saugt seinen Schuldner aus, hat aber an seinem Untergang kein Interesse. Der Verlust der Produktionsmittel, die Armut, tritt unter diesen Umständen nicht als regelmäßige gesellschaftliche Erscheinung auf, sondern als besonderes Unglück, durch außergewöhnliche Unfälle oder außergewöhnliche Unfähigkeit hervorgerufen. Die Armut gilt da entweder als eine von Gott gesandte Prüfung oder als eine Strafe für Faulheit, Leichtsinn usw. Diese Auffassung gilt heute noch sehr stark in kleinbürgerlichen Kreisen, und doch ist seitdem die Besitzlosigkeit eine Erscheinung ganz anderer Art geworden, als sie ehedem war.
Im Laufe des Mittelalters entwickelte sich das Handwerk in Europa immer mehr; die Arbeitsteilung in der Gesellschaft nahm zu – so spaltete sich z. B. die Weberei in die Wollenweberei, die Leinenweberei und die Barchentweberei, und verschiedene mit der Weberei verbundene Hantierungen, z. B. die Tuchschererei, wurden eigene Gewerbe. Die Geschicklichkeit wuchs, und die Arbeitsweisen und Arbeitswerkzeuge wurden sehr verbessert. Gleichzeitig entwickelte sich der Handel, namentlich infolge der Verbesserungen der Verkehrsmittel, besonders des Schiffsbaues.
Es sind vierhundert Jahre her, da war die Blütezeit des Handwerks, da war aber auch eine ereignisreiche Zeit für den Handel. Der Seeweg nach Indien, diesem märchenhaften Lande voll unermeßlicher Schätze, wurde gefunden, und Amerika mit seinen unerschöpflichen Gold- und Silberlagern wurde entdeckt. Eine Flut von Reichtümern ergoß sich über Europa, von Reichtümern, welche europäische Abenteurer in den neuentdeckten Ländern durch Handel, Betrug und Raub zusammengerafft hatten. Der Löwenanteil an diesen Reichtümern fiel den Handelsherrn zu, die imstande waren, Schiffe auszurüsten und mit einer zahlreichen, kraftvollen Bemannung zu versehen, die ebenso verwegen wie skrupellos war.
Um dieselbe Zeit bildete sich aber auch der moderne Staat, der zentralisierte Beamten- und Militärstaat, zunächst in der Form der absoluten Monarchie. Dieser Staat entsprach ebensosehr den Bedürfnissen der aufstrebenden Kapitalistenklasse, als er ihrer Unterstützung bedurfte. Der moderne Staat, der Staat der entwickelten Warenproduktion, zieht seine Kraft nicht aus persönlichen Diensten, sondern aus seinen Geldeinnahmen. Die Monarchen hatten daher alle Ursache, diejenigen, die Geld ins Land brachten, die Kaufleute, die Kapitalisten, zu schützen und zu begünstigen. Zum Dank für diesen Schutz borgten die Kapitalisten den Monarchen und Staaten Geld, machten sie zu ihren Schuldnern, brachten sie in Abhängigkeit von sich und zwangen nun die Staatsgewalt erst recht, den kapitalistischen Interessen zu dienen durch Sicherung und Erweiterung der Verkehrswege, durch Erwerbung und Festhaltung überseeischer Kolonien, durch Kriege gegen konkurrierende Handelsstaaten usw.
Unsere ökonomischen Kinderfibeln erzählen uns, der Ursprung des Kapitals liege in der Sparsamkeit. Wir haben aber eben ganz andere Quellen des Kapitals kennengelernt. Die größten Reichtümer der kapitalistischen Nationen entstammen ihrer Kolonialpolitik, das heißt ihrer Plünderung fremder Länder, entstammen dem Seeraub, dem Schmuggel, dem Sklavenhandel, den Handelskriegen. Die Geschichte dieser Nationen liefert bis in unser Jahrhundert hinein genügende Beispiele von derartigen Methoden, Kapital zu „sparen“. Und die Staatshilfe erwies sich als ein kräftiges Mittel, diese „Sparsamkeit“ zu fördern.
Aber die neuen Entdeckungen und Handelswege brachten nicht bloß große Reichtümer für die Kaufleute, sie erweiterten auch rasch den Absatzmarkt für die Industrie der seefahrenden Nationen Europas, namentlich die Industrie Englands, das sich zur Be-herrscherin der Meere aufschwang. Das Handwerk war nicht imstande, den so rasch und so sehr wachsenden Ansprüchen des Marktes Genüge zu leisten. Der Massenabsatz bedurfte der Massenproduktion; der große Markt bedurfte einer Produktion, die sich ganz nach seinen Bedürfnissen richtete, das heißt, die ganz von den Kaufleuten abhängig war.
Die Kaufleute hatten alles Interesse, die dem erweiterten Markt entsprechende Massenproduktion selbst ins Werk zu setzen; sie besaßen auch die nötigen Geldmittel, um alles im nötigen Umfang zu kaufen, was zur Produktion notwendig war, Rohstoffe, Werkzeuge, Werkstätten, Arbeitskräfte – aber woher diese letzteren nehmen? Sklaven, die man kaufen konnte, gab es in Europa nicht mehr. Ein Arbeiter aber, der Besitzer seiner eigenen Produktions mittel ist oder einer Familie angehört, welche die nötigen Produktionsmittel besitzt, verkauft seine Arbeitskraft nicht. Er zieht es vor, für sich beziehungsweise seine Familie zu arbeiten, so daß das ganze Produkt seiner Arbeit ihm oder seiner Familie bleibt. Er verkauft sein Arbeitsprodukt, nicht aber seine Arbeitskraft. Nebenbei sei hier bemerkt, man hüte sich vor dem Ausdruck: Verkauf der Arbeit. Die Arbeit, eine Tätigkeit, kann man nicht verkaufen. Das Wort Arbeit wird aber gewöhnlich nicht nur zur Bezeichnung einer Tätigkeit benutzt, sondern auch zur Bezeichnung des Ergebnisses dieser Tätigkeit, des Arbeitsprodukts, und zur Bezeichnung der Kraft, deren Äußerung die Arbeitstätigkeit ist, der Arbeitskraft. Die Anwendung des Wortes Arbeit in dem obigen Zusammenhang ermöglicht es allen jenen Ökonomen, welche Arbeiter und Kleinbürger in Unklarheit über ihre Verhältnisse erhalten wollen, die verschiedensten Dinge durcheinanderzuwerfen und einander gleichzusetzen. Da heißt es den Herren scharf auf die Finger sehen.
Doch kehren wir zu unserem Kaufmann zurück, den wir auf der Suche nach Arbeitern verlassen haben. Mit den Besitzern der Kleinbetriebe und ihren Familien ist’s nichts. Der Kaufmann muß Arbeiter suchen, die keine Produktionsmittel besitzen, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft, so daß sie gezwungen sind, diese zu verkaufen, um leben zu können. Die Entwicklung der Warenproduktion und des Privateigentums hatte solche Besitzlose bereits hervorgebracht, wie wir gesehen. Aber es waren ihrer anfänglich nur wenige, und die meisten davon, die nicht im Familienverband eines Wirtschaftsbetriebs standen, waren entweder Arbeitsunfähige, Krüppel, Kranke, Greise, oder Arbeitsscheue, Gauner und Gaukler. Die Zahl der völlig freien besitzlosen Arbeiter war gering.
Aber ein gütiges Geschick sorgte dafür, daß eben um die Zeit, da unter den Kaufleuten eine größere Nachfrage nach besitzlosen Arbeitern sich erhob, Massen von Arbeitern besitzlos gemacht und auf die Straßen geworfen wurden, wo die reichen Handelsherrn sie bloß aufzulesen brauchten.
Auch dies war eine Folge der Entwicklung der Warenproduktion. Die Erweiterung des Marktes für die städtische Industrie wirkte auf die Landwirtschaft zurück. In den Städten wuchs die Nachfrage nach Lebensmitteln und nach Rohstoffen, Holz, Wolle, Flachs, Farbstoffen usw. Auch die landwirtschaftliche Produktion wurde daher immer mehr Warenproduktion, Produktion für den Verkauf.
Der Bauer bekam Geld in die Hand, Aber das war sein Unglück. Denn das reizte die Habgier seiner Ausbeuter, der Grundherrn und Fürsten. Solange sein Überschuß vorwiegend bloß in Naturalien bestand, hatten sie ihm nicht mehr davon abgenommen, als sie verzehren konnten. Geld kann man aber immer brauchen, je mehr desto besser. Je mehr der Markt für den Bauer sich erweiterte, je mehr Geld er für seine Waren löste, um so ärger wurde er von Grundherrn und Fürsten geschunden, um so höher stiegen seine Abgaben und Steuern. Bald waren die Herren mit dem Überschuß nicht zufrieden, den seine Arbeit über seine Erhaltungskosten hinaus lieferte,* sie erpreßten dem Bauern immer mehr auch vom Notwendigen. Kein Wunder, daß die Bauern Verzweiflung erfaßte, daß gar mancher, namentlich nachdem alle Versuche eines Widerstandes in den Bauernkriegen niedergeschlagen waren, Haus und Hof im Stich ließ und in der Stadt seine Zuflucht suchte.
Dazu gesellte sich vielfach noch ein anderer Umstand. Entstand in den Städten durch Erweiterung des Marktes ein Bedürfnis nach industrieller Massenproduktion, so auf dem Lande ein Bedürfnis nach landwirtschaftlicher Massenproduktion. Was die Kaufleute in den Städten, versuchten die Grundherrn auf dem Lande. Der Grundherr, der bis dahin in der Regel nur ein höhergestellter Bauer gewesen, suchte nun seinen Betrieb zu erweitern. An Arbeitskräften fehlte es ihm nicht, denn er hatte es verstanden, die Bauern sich dienstpflichtig zu machen. Oft aber bedurfte er gar nicht neuer Arbeitskräfte. Zum Beispiel die Produktion von Wolle oder Holz, die Weide- oder Forstwirtschaft erheischt viel weniger Arbeiter als der Ackerbau. Wo die Grundherrn vom Ackerbau zur Weide- oder Forstwirtschaft übergingen, machten sie landwirtschaftliche Arbeiter überflüssig. Was aber der Grundherr von jetzt an unter allen Umständen brauchte, das war mehr Land, als er bisher bewirtschaftet. Das konnte er nur erlangen auf Kosten der Bauern seiner Umgebung. Diese mußte der Grundherr von ihren Wirtschaften vertreiben, wollte er seine Wirtschaft erweitern. Es kostete ihn wenig Überwindung, diesen Schritt zu tun. Das Bauernlegen begann und dauerte in großem Maßstabe bis vor hundert Jahren fort. Während die Handelsherrn sich bereicherten durch Ausplünderung der Kolonien, bereicherten sich die Adeligen und Fürsten durch Ausplünderung ihrer eigenen Untertanen. Und die Feudalherrn scheuten ebensowenig als die Kapitalisten vor der Anwendung von Betrug und Gewalt, von Raub und Mordbrennerei zurück, wenn es zur Erreichung ihrer Ziele notwendig schien. Die Geschichte lehrt uns da ganz sonderbare Manieren des Sparens kennen.
Was sollten die Massen besitzloser Landleute beginnen, die teils vor den Fronden und Abgaben entflohen, teils durch Betrug oder Gewalt von Haus und Hof vertrieben worden waren? Auf eigene Faust konnten sie nichts mehr produzieren, dazu fehlten ihnen die Produktionsmittel, von denen sie vertrieben, getrennt worden waren. Sie konnten keine Produkte auf den Markt bringen, so blieb ihnen nichts übrig, als sich selbst auf den Markt zu bringen, das einzige Wertwolle, das ihnen geblieben war, ihre Arbeitskraft, für längere oder kürzere Zeit zu verkaufen, das heißt, sich zu verdingen. Die einen wurden landwirtschaftliche Taglöhner – vielleicht bei demselben Herrn, der sie verjagt. Andere ließen sich als Kriegsknechte anwerben, um den Herrn, durch die sie ausgeplündert worden, bei ihren Plünderungszügen zu helfen; wieder andere verkamen, wurden Bettler oder Verbrecher. Aber viele, und wohl nicht die Schlechtesten, wandten sich der Industrie zu, um dort Arbeit zu suchen. Die Handwerker trachteten sich der Überschwemmung mit neuen Arbeitskräften, mit neuen Konkurrenten dadurch zu erwehren, daß sie ihre Gewerbe zunftmäßig abschlössen. Das trieb nur um so mehr die freigesetzten Arbeitermassen denjenigen Kaufleuten in die Arme, die nach Lohnarbeitern für ihre industriellen Betriebe suchten.
So wurden die Grundlagen der kapitalistischen Industrie, der kapitalistischen Produktionsweise geschaffen, durch eine Expropriation (Enteignung), eine Revolution, wie sie blutiger und grausamer die Weltgeschichte nicht kennt. Aber freilich, es war eine Revolution der Reichen und Mächtigen gegen die Schwachen und Geringen; und darum wird das Zeitalter dieser Revolution als das Zeitalter der Humanität und der Befreiung der Geister gepriesen; heute am lautesten von jenen, die am lebhaftesten über die revolutionären Absichten der Sozialdemokratie sich entrüsten.
Die Trennung größerer Arbeitermassen von ihren Produktionsmitteln, ihre Verwandlung in Besitzlose, in Proletarier, war eine notwendige Vorbedingung der kapitalistischen Massenproduktion. Die ökonomische Entwicklung drängte dazu. Aber wie immer, so haben auch diesmal die aufstrebenden Klassen sich nicht begnügt, dem selbsttätigen Wirken dieser Entwicklung ruhig zuzusehen, sondern sie haben zur Gewalt gegriffen, um ihre Interessen zu wahren und dadurch den Gang der Entwicklung zu beschleunigen. Und es war die Gewalt in ihrer brutalsten, grausamsten Form, die zur Geburtshelferin bei der kapitalistischen Gesellschaft wurde.
Äußerlich unterschied sich die neue Produktionsweise zunächst nur wenig von der alten. Ihre ursprünglichste Form war die, daß der Kapitalist den Arbeitern, die er gemietet, seinen Lohnarbeitern, das Rohmaterial lieferte, etwa das Garn, wenn es Weber waren, das diese zu Hause verarbeiteten, um das Produkt wieder an den Kapitalisten abzuliefern. Freilich, auch schon in dieser Form, die der handwerksmäßigen am nächsten stand, ließ die kapitalistische Produktion einen tiefen Unterschied zwischen dem selbständigen Handwerker und dem hausindustriellen Lohnarbeiter zutage treten. Wir wollen jedoch die Veränderungen in der Lage der Arbeiter, welche die neue Produktionsweise mit sich brachte, später in einem anderen Zusammenhange betrachten und hier vor allem deren eigene Entwicklung verfolgen.
Der nächste Schritt des Kapitalisten bestand darin, daß er die Arbeiter nicht mehr ihre Arbeiten zu Hause verrichten ließ, sondern daß er sie in einer eigenen Werkstatt versammelte, wo er sie besser überwachen und antreiben konnte. Damit erst wurde die Grundlage des eigentlichen industriellen kapitalistischen Großbetriebs geschaffen, aber auch die Grundlage zu jener Umwälzung der Betriebsweisen, die seitdem in immer rascherem Zeitmaß sich vollzieht.
Durch das Zusammenarbeiten vieler in einer Werkstatt wurde erst die Arbeitsteilung innerhalb des Betriebs ermöglicht. Unter der Herrschaft des Kleinbetriebs hatte die Arbeitsteilung dahin geführt, daß die Zahl der Gewerbe sich vervielfältigte, daß die Arten von Gegenständen, die jeder einzelne erzeugte, immer weniger wurden. Aber jeder einzelne erzeugte doch ein Ganzes. Die Arbeitsteilung in der Bäckerei führte z. B. dahin, daß nicht mehr jeder Bäcker alle Arten von Broten herstellte. Die einen erzeugten bloß Weißbrot, die anderen bloß Schwarzbrot. Aber jeder erzeugte ganze Brote. Anders die Arbeitsteilung innerhalb des Betriebs. Sie bewirkt, daß die verschiedenen Hantierungen, welche die Herstellung eines Produkts notwendig macht, bestimmten Arbeitern zugewiesen werden, von denen einer dem anderen in die Hände arbeitet. Der einzelne Arbeiter wurde so immer mehr auf einzelne Handgriffe beschränkt, die er unaufhörlich zu wiederholen hatte. Ein Großbetrieb, in dem auf diese Weise produziert wird, ist eine Manufaktur. Die Ergiebigkeit, die Produktivität der Arbeit des einzelnen wurde dadurch ungemein erhöht. Aber noch wichtiger zeigt sich eine andere Wirkung. War die Arbeitsteilung in einem Produktionszweig einmal so weit vorgeschritten, daß die Herstellung des Produkts in ihre einfachsten Handgriffe zerlegt worden, daß der Arbeiter zur Maschine herabgedrückt war, dann gehörte nur noch ein kleiner Schritt dazu, anstelle des Arbeiters eine Maschine zu setzen.
Dieser Schritt geschah denn auch. Er wurde begünstigt durch die Entwicklung der Naturwissenschaften, vor allem durch die Entdeckung der bewegenden Kraft des Dampfes, womit zum ersten Male eine von den Launen der Elemente unabhängige, ganz dem Menschen untertane Triebkraft geschaffen ward.
Die Einführung der Maschine in die Industrie bedeutete eine wirtschaftliche Revolution. Durch sie bekam der kapitalistische Großbetrieb seine höchste und vollkommenste Form, die der Fabrik. In der Maschine erhielt die kapitalistische Produktion ihre mächtigste Waffe, die spielend jeden Widerstand überwand und den Gang der ökonomischen Entwicklung zu einem gewaltigen Triumphzug des Kapitals gestaltete.
In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden die ersten praktischen Maschinen für die Gewebeindustrie Englands erfunden und in diese eingeführt. In dieselbe Zeit fällt die Erfindung der Dampfmaschine. Von da an hat die Maschine rasch einen Industriezweig nach dem anderen, ein Land nach dem anderen erobert. Bis in die vierziger Jahre unseres Jahrhunderts war die kapitalistische Fabrikindustrie außerhalb Englands unbedeutend; in den fünfziger Jahren nahm sie einen lebhaften Aufschwung in Frankreich, in den sechziger und namentlich den siebziger Jahren eroberte sie die Vereinigten Staaten, Deutschland, Österreich. Im letzten Jahrzehnt hat sie sich selbst im barbarischen Rußland festgesetzt, in Ostindien, in Australien; sie beginnt sich bereits in Ostasien, Südafrika und Südamerika einzunisten. Was sind die großartigsten Weltreiche der früheren Jahrhunderte gegen dieses Riesenreich, das die kapitalistische Industrie sich Untertan gemacht hat?
Im Jahre 1837 betrug in Preußen die Zahl der Dampfmaschinen in der Industrie 423 mit 7.500 Pferdekräften. 1888 dagegen zählte man daselbst allein an feststehenden Dampfmaschinen 43.370. An Dampfpferdekräften in Industrie und Landwirtschaft besitzt Preußen ungefähr 1.500.000.
Die vom Dampf geleistete Arbeit aller Dampfmaschinen der Erde schätzt man heute gleich der von 200 Millionen Pferden oder von tausend Millionen Männern.
Durch die Dampfmaschine ist die ganze Produktionsweise in eine beständige Umwälzung versetzt worden. Eine Erfindung, eine Entdeckung jagt die andere. Auf der einen Seite erobert die Maschine jeden Tag neue Gebiete, die bisher noch der Handarbeit vorbehalten geblieben waren. Auf der anderen Seite werden in den Industriezweigen, die bereits dem Fabriksystem unterworfen sind, jeden Tag alte Maschinen durch neue, leistungsfähigere überflüssig gemacht; ja es werden oft mit einem Schlage durch neue Erfindungen ganz neue Industriezweige geschaffen, alte zum Tode verurteilt.
Bereits vor zwanzig Jahren lieferte ein Arbeiter auf der Spinnmaschine hundertmal soviel Produkt als eine Handspinnerin. Aber während damals eine Maschine höchstens 500 Spindeln zu treiben vermochte, besorgt sie heute bis 1.270 Spindeln; und während damals die Spindel höchstens 8.000 Umdrehungen in der Minute machte, steigern die neuesten Maschinen die Umdrehungszahl auf 11.000. Und wie in diesem, so geht es in Hunderten von Industriezweigen.
Was kann daneben noch der handwerksmäßige Kleinbetrieb bedeuten?
Auch auf seiner untersten Stufe, der der kapitalistisch ausgebeuteten Hausindustrie, zeigt sich der kapitalistische Betrieb dem Handwerksbetrieb überlegen. Wir wollen ganz absehen davon, daß jener den Arbeiter auf eine Spezialität beschränkt und dadurch seine Leistungsfähigkeit erhöht. Viel wichtiger ist der Vorteil, den der Kapitalist als Kaufmann vor dem Handwerker voraus hat. Er kauft seine Rohstoffe und sonstigen Produktionsmittel im großen; er übersieht den Markt weit vollkommener als der Handwerker, weiß besser den Zeitpunkt wahrzunehmen, wo billig zu kaufen, teuer zu verkaufen ist, und er besitzt auch die Mittel, diesen Zeitpunkt abzuwarten. Dadurch bereits ist die Überlegenheit des Kapitalisten über den Handwerker so groß, daß dieser nicht einmal die Konkurrenz der Hausindustrie auf allen jenen Gebieten aushalten kann, auf denen eine Massenproduktion, ein Produzieren für den Handel in Frage kommt. Selbst in jenen Industriezweigen, in denen heute noch die Handarbeit, welche im Hause des Arbeiters vor sich geht, die allein herrschende Arbeitsweise ist, hört die Selbständigkeit des Arbeiters auf, sobald sie zu Exportindustrien werden. Ein Handwerk in eine Exportindustrie verwandeln, heißt das Handwerk vernichten, es in eine kapitalistisch ausgebeutete Hausindustrie verwandeln. Man sieht, wie schlau jene „Sozialreformer“ sind, die ein bedrohtes Handwerk dadurch retten wollen, daß sie sein Absatzgebiet erweitern.
Also schon vom Anfang der kapitalistischen Produktion an, wo diese noch ganz einfach ist, zeigt sich dieselbe auf allen Gebieten der Massenproduktion dem Handwerk überlegen. Die Maschine macht diese Überlegenheit zu einer völlig erdrückenden.
Das Handwerk kann sich nur noch behaupten in jenen Arbeitszweigen, in denen es sich noch nicht um Massenproduktion, sondern um Einzelproduktion handelt, wo der Markt noch ein eng begrenzter ist.
Aber die Maschine hat nicht nur die Industrie umgewälzt, sondern auch die Verkehrsmittel. Dampfschiffe und Eisenbahnen setzen die Transportkosten der Güter immer mehr herab, verbinden immer mehr die entferntesten und unzugänglichsten Orte mit den Stätten der Industrie und erweitern für jede derselben den Absatzmarkt von Tag zu Tag. Dadurch erst erhält die Maschine die Möglichkeit, ihre Wirksamkeit in der Industrie voll zu entfalten. Die riesenhafte Steigerung der Produktion, die durch die Einführung der Maschine hervorgerufen wird, verlangt nach einer entsprechenden Steigerung des Absatzes.
In demselben Maße, in dem die Verkehrsmittel ausgedehnt und vervollkommnet werden, in demselben Maße, in dem der Markt für die einzelnen Industriezweige sich erweitert, in demselben Maße wird das Gebiet des Handwerks eingeengt. Das Wort vom goldenen Boden des Handwerks hat schon längst jede Bedeutung verloren. Die Zahl der Arbeitszweige und der Gegenden, in denen das Handwerk noch eine Existenz fristen kann, ist schon eine ziemlich beschränkte und nimmt zusehends ab. Die Fabrik herrscht, und die Tage des Handwerks sind gezählt.
Und was vom Handwerk, gilt auch vom bäuerlichen Kleinbetrieb. Wo die Landwirtschaft vorwiegend Warenproduktion, Produktion für den Verkauf, nicht für den Selbstverbrauch, geworden ist, da hat der Großbetrieb, selbst wenn er nicht leistungsfähiger sein sollte, von vornherein vor dem Kleinbetrieb denselben Vorteil voraus, den der Kapitalist überall vor dem Handwerker voraus hat: die bessere Übersicht und Beherrschung des Marktes. Der kapitalkräftige Großgrundbesitzer oder sein Pächter kann aber auch seinen Betrieb leistungsfähiger gestalten als der Bauer, kann bessere Geräte und Werkzeuge, besseres Zucht- und Spannvieh, besseren Dünger, besseres Saatkorn usw. anschaffen und anwenden als dieser. Die Maschine vollends macht auch auf diesem Gebiete die Überlegenheit des Großbetriebs zu einer erdrückenden. [2] Nur dort, wo die Landwirtschaft vorzugsweise Produktion für den Selbstverbrauch geblieben ist, kann der Kleinbauer noch einigermaßen gedeihen. Aber wie für das Handwerk schrumpft auch für die bäuerliche Landwirtschaft dies Gebiet des Gedeihens immer mehr zusammen. Namentlich ist es die Entwicklung des Eisenbahn- und des Steuerwesens, welche die Ausdehnung der Warenproduktion in der Landwirtschaf t fördert. Durch die Eisenbahn wird der Bauer mit dem Weltmarkt verbunden, die Steuern zwingen ihn, den Markt aufzusuchen, denn er kann sie nicht bezahlen, ohne eine entsprechende Menge seiner Produkte verkauft zu haben. Je höher die Steuern, desto mehr ist der Bauer auf den Markt angewiesen, desto mehr wird seine Produktion Warenproduktion, desto mehr ist er der Konkurrenz des Großbetriebs ausgesetzt, desto leichter erliegt er ihr. Für keine Klasse unserer Bevölkerung ist die Zunahme der Steuerlasten so verderblich wie für den Kleinbauern. Der Militarismus bildet heute die weitaus wichtigste Ursache der Vermehrung der Steuern. Dieselben Leute aber, die Großgrundbesitzer, die sich als die größten Freunde des Bauern gebärden, sind die eifrigsten Förderer des Militarismus. Für die Großgrundbesitzer bietet der Militarismus nur Vorteile: Er bringt die Notwendigkeit massenhafter Lieferungen von Nahrungsmitteln für Menschen und Pferde mit sich, Massenlieferungen, die nur der Großgrundbesitz befriedigen kann. Und den Söhnen des Großgrundbesitzers bietet der Militarismus zahlreiche, gut besoldete Offiziersstellen. Dem Bauern nimmt der Militarismus seine beste Arbeitskraft, seinen Sohn; dafür bringt er ihm eine unerschwingliche Steuerlast und treibt ihn auf den Markt, wo er der übermächtigen Konkurrenz der Großbetriebe des In- und Auslandes erliegt.
Die herrschenden Klassen sehen in der Bauernschaft und dem Militär die einzig sichern Stützen des Bestehenden. Sie sehen aber nicht, daß die eine dieser Stützen auf der anderen ruht und diese durch ihr zunehmendes Gewicht zermalmt.
Wer Augen hat zu sehen, bedarf keiner weiteren Beweise, um zu erkennen, wie richtig der Satz unseres Programms ist, der besagt, daß die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes führt.
Man hat diesen Satz bestritten, man hat ihm unter anderem die Tatsache entgegengehalten, daß im Deutschen Reiche noch im Jahre 1882 – neuere Zahlen liegen nicht vor – von je 100 gewerblichen Arbeitern auf die Großbetriebe nur 39 kamen, auf die Kleinbetriebe dagegen 61. Und das soll gegen uns sprechen? 1882 war die kapitalistische Großindustrie in Deutschland – von Sachsen und dem Rheinland abgesehen – kaum älter als zwanzig Jahre. In diesem kurzen Zeitraum war sie zu einer solchen Ausdehnung gelangt, daß die größeren Betriebe 1882 bereits zwei Fünftel sämtlicher Arbeiter beschäftigten. Das ist in Anbetracht der Kürze der Entwicklung eine überraschend hohe Zahl [3], denn der Untergang des Kleinbetriebs ist in der Regel ein langwieriger Vorgang.
Ein Beispiel wird das klarmachen. Die Maschinenweberei (namentlich die englische) machte in Deutschland bereits in den vierziger Jahren der Handweberei so arge Konkurrenz, daß das Elend der Handweber sprichwörtlich wurde und Hungerrevolten hervorrief. Und heute? Nach der Berufsstatistik von 1882 beschäftigte die Hausweberei 335.466 Personen, die Fabrikweberei dagegen nur 195 589, das heißt nur 36 Prozent sämtlicher in der Weberei beschäftigten Arbeiter. Das Verhältnis der Zahl der Arbeiter des Großbetriebs zu der der Arbeiter des Kleinbetriebs ist also hier für den letzteren noch günstiger als das durchschnittliche. Deswegen wird es doch niemandem einfallen, daraus den Schluß ziehen zu wollen, die Handweberei habe noch eine Zukunft, ihr Untergang sei nicht naturnotwendig. In England ist schon längst der letzte Handweber verhungert. Auch in Deutschland sind die Tage der Handweberei gezählt. Wenn es trotzdem noch so viele Handweber gibt, so beweist das nicht die Konkurrenzfähigkeit des Kleinbetriebs, sondern nur die Hungerfähigkeit des Handwebers.
Das völlige Verschwinden des Kleinbetriebs ist nicht der erste, sondern der letzte Akt des Trauerspiels, das sich Untergang des Kleinbetriebs betitelt. Die erste Wirkung der Konkurrenz der kapitalistischen Produktion ist die, daß der Handwerker – und was von ihm gilt, hat auch für den Bauer Geltung – nach und nach alles zusetzt, was sein oder seiner Vorfahren Fleiß an Wohlstand aufgehäuft. Der kleine Mann verarmt; um der Verarmung entgegenzuwirken, heißt es fleißiger sein. Die Arbeitszeit wird bis in die späte Nacht hinein ausgedehnt, Weib und Kind werden zur Erwerbsarbeit herangezogen, anstelle der teueren erwachsenen Gesellen treten die billigeren Lehrlinge, deren Zahl übermäßig vermehrt wird. Und während die Arbeitszeit ausgedehnt und die Arbeitstätigkeit zu einer fieberhaften wird, ohne Rast, ohne Pausen, sinkt die Ernährung, werden die Ausgaben für Wohnung und Kleidung immer mehr eingeschränkt.
Es gibt keine jämmerlichere, elendere Existenz als die eines Kleingewerbetreibenden oder Kleinbauern, der den Konkurrenzkampf gegen den Großbetrieb führt.
Nicht mit Unrecht sagt man, die Lohnarbeiter seien heute besser daran als die Kleinbauern und Kleinmeister. Damit will man beweisen, daß die Arbeiter kein Recht hätten, unzufrieden zu sein. Aber der Pfeil, der gegen die Sozialdemokratie gerichtet ist, trifft nicht sie, sondern das Privateigentum. In der Tat, wenn die Besitzlosen besser daran sind als die besitzenden Arbeiter des Kleinbetriebs, welchen Wert hat für diese noch das Eigentum? Es hört auf, ihnen zu nützen, es beginnt, ihnen zu schaden. Wenn z. B. der Hausweber an seinem unzureichenden Betrieb festhält, obwohl er in der Fabrik mehr verdienen würde, so nur deswegen, weil er noch etwas besitzt, ein Häuschen und ein paar Stückchen Kartoffelland, die er preisgeben müßte, wenn er seinen Betrieb aufgäbe. Für den kleinen Mann ist sein Besitz an Produktionsmitteln aus einem Schutz vor dem Elend ein Band geworden, das ihn ans Elend fesselt; die Wirkung des Privateigentums hat sich für ihn in ihr Gegenteil verkehrt. Was dem Handwerker und Bauern vor hundert Jahren noch Segen brachte, bringt ihm heute Fluch.
Aber, wird man sagen, mit diesem höheren Elend erkauft der kleine Handwerker und Bauer doch eine höhere Selbständigkeit und Freiheit, als sie der besitzlose Lohnarbeiter genießt. Auch das ist falsch. Wo der Kleinbetrieb mit dem Großbetrieb zu konkurrieren hat, da versinkt der erstere nur zu rasch in volle Abhängigkeit vom letzteren. Der Handwerker wird Hausindustrieller, der dem Kapitalisten frondet; sein Heim wird zu einer Filiale der Fabrik; oder aber er wird Agent des Kapitalisten, Verkäufer von Fabrikware, der daneben nur noch Flickarbeiten besorgt. In dem einen wie dem anderen Fall ist er völlig vom Kapitalisten abhängig. Und der Bauer, der den Konkurrenzkampf als Bauer nicht bestehen kann, greift auch entweder zur Hausindustrie im Dienste eines Kapitalisten oder zur Taglöhnerei im Dienste eines großen Landwirts. Wo bleibt da seine Unabhängigkeit und Freiheit? Sein Besitz ist das einzige, was ihn vom Proletarier unterscheidet, aber eben dieser Besitz hindert ihn, der besten Arbeitsgelegenheit nachzugehen, er fesselt ihn an die Scholle und macht ihn abhängiger als den besitzlosen Lohnarbeiter. Das Privateigentum an Produktionsmitteln vermehrt also nicht nur das materielle Elend, sondern auch die Abhängigkeit des kleinen Mannes. Seine Wirkung hat sich auch in dieser Beziehung in ihr Gegenteil verwandelt; es ist aus einem Bollwerk der Freiheit zu einem Mittel der Knechtung geworden.
Aber, sagt man, das Privateigentum sichert dem Handwerker und Bauern doch das Eigentum an den Produkten seiner Arbeit. Nun, das ist ein schwacher Trost, wenn der Wert dieser Produkte so sehr gefallen ist, daß er zur Befriedigung der Bedürfnisse des Produzenten und seiner Familie nicht ausreicht. Aber nicht einmal dieser schwache Trost ist richtig. Er gilt von vornherein nicht für das große Heer derjenigen, die zur Hausindustrie oder Tag-löhnerei greifen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu fristen. Er gilt aber auch nicht für die Mehrzahl derjenigen kleinen Handwerker und Bauern, welche die Konkurrenz des Großbetriebs noch nicht aufs härteste getroffen hat, so daß sie bisher so glücklich gewesen sind, ihre volle Selbständigkeit zu wahren. Er gilt nicht für alle diejenigen, die verschuldet sind. Der Wucherer, der eine Hypothek auf einem Bauerngut liegen hat, besitzt ein größeres Anrecht auf das Produkt der Arbeit des Bauern als dieser selbst. Zuerst muß der Wucherer befriedigt werden; nur was derselbe übrigläßt, gehört dem Bauern; ob dieser Rest genügt, den Bauer und seine Familie zu erhalten, kümmert den Wucherer nichts. Der Bauer und der Handwerker arbeiten ebenso für den Kapitalisten wie der Lohnarbeiter. Der Unterschied, den das Privateigentum in dieser Beziehung zwischen den besitzenden und den nichtbesitzenden Arbeitern macht, ist nur der, daß der Lohn der letzteren sich im allgemeinen nach ihren gewohnheitsgemäßen Bedürfnissen richtet, indes für das Einkommen der besitzenden Arbeiter eine solche Grenze nicht existiert. Es kann bei diesen unter Umständen vorkommen, daß der Wucherzins gar nichts übrigläßt von dem Produkt ihrer Arbeit, daß sie ganz umsonst arbeiten – Dank dem Privateigentum! [4]
Was ist das Schlußergebnis dieses qualvollen Ringens gegen die übermächtige Konkurrenz des Großbetriebs? Was winkt dem Handwerker und Bauern als Lohn für seine „Sparsamkeit“ und seinen „Fleiß“, das heißt dafür, daß er sich samt Weib und Kind verknechtet, körperlich und geistig ruiniert? Der Lohn dafür ist der Bankerott, die völlige Enteignung (Expropriation ist der Kunstausdruck dafür), die Trennung von den Produktionsmitteln, der Sturz ins Proletariat.
Dies ist das unvermeidliche Schlußergebnis der ökonomischen Entwicklung in der heutigen Gesellschaft, ebenso unvermeidlich wie der Tod. Und wie dieser einem an qualvoller Krankheit Daniederliegenden als Erlöser erscheint, so wird auch der Bankerott vom kleinen Mann unter den heutigen Verhältnissen nur zu oft als Erlösung empfunden, als Erlösung von einem Eigentum, das ihm zu einer drückenden Last geworden. Die Weiterführung der Existenz des Kleinbetriebs führt zu solcher Verkommenheit, zu solchem Elend, daß man sich fragen könnte, ob man überhaupt das Recht hätte, den Untergang des Kleinbetriebs aufzuhalten, wenn er wirklich aufzuhalten wäre. Wäre es wünschenswerter, daß die Kleingewerbetreibenden und Bauern alle auf die Stufe der Handweber des Erzgebirges herabsinken, als daß sie Lohnarbeiter in Großbetrieben werden?
Darum allein aber kann es sich handeln bei den Versuchen zur Erhaltung des Kleinbetriebs, denn das Handwerk und die kleinbäuerliche Wirtschaft wieder auf einen grünen Zweig zu bringen ist in dem Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität unmöglich.
Das ist freilich eine bittere Wahrheit, nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern für alle, die an der Erhaltung der bestehenden Gesellschaft ein Interesse haben. Denn Bauern- und Handwerkerstand sind seit jeher die kräftigsten Stützen des Privateigentums gewesen. Darum will und kann man nicht glauben, daß sie morsch geworden sind und zusammenbrechen. Sie alle, die an der Ausbeutung der unteren Volksschichten, also auch der Bauern und Handwerker, interessiert sind, sie alle, die Bauern und Handwerker ruinieren, Großgrundbesitzer, Fabrikanten usw., sie erscheinen plötzlich als ihre Freunde und suchen mit ihnen nach Mitteln, die kleinen Wirtschaften zu erhalten. Und es gibt der Quacksalber nur zu viele, die dafür ihre Mittel anpreisen – unfehlbare Mittel! Freilich sind es bei Lichte besehen meist ganz alte Rezepte, die sie da empfehlen, Rezepte, die schon vor hundert und mehr Jahren ihre Nutzlosigkeit, ja Schädlichkeit dargetan, wie z. B. das Innungswesen. Soweit diese Heilmittel eine Wirksamkeit versprechen, ist es nur die, daß sie einigen in besonders günstigen Verhältnissen befindlichen Kleingewerbetreibenden und Kleinbauern ermöglichen, zu einer höheren Betriebsform überzugehen, das heißt, den Kleinbetrieb aufzugeben und Kapitalisten zu werden, also Konkurrenten, die den Untergang der anderen, weniger glücklichen Genossen fördern.
Alle die „Sozialreformen“, alle die „Mittel zur Rettung des Bauern- und Handwerkerstandes“ gleichen, soweit sie überhaupt wirksam sein können, einer Lotterie: Einige wenige können einen Treffer machen, aber die Mehrzahl zieht Nieten und muß die Kosten nicht bloß der Treffer, sondern des ganzen Unternehmens bezahlen. Wenn ein armer Teufel deswegen, weil er ein Lotterielos in der Tasche trägt, sich reich fühlen wollte, würde man ihn für einen Narren halten. Aber nur zu viele der Kleingewerbetreibenden und Bauern gleichen diesem närrischen armen Teufel: Sie fühlen sich als das, was sie sein möchten, nicht als das, was sie sind. Sie gebärden sich als Kapitalisten und sind doch um kein Haar besser daran als die Proletarier.
2. Die Überlegenheit der amerikanischen Landwirtschaft über die deutsche beruht vornehmlich auf ihrer höheren Entwicklung des Maschinenwesens. Bisher wurden die Maschinen fast nur im Ackerbau angewendet. Jetzt fängt man drüben auch an, in der Viehmästung Maschinen anzuwenden. Ein Beobachter einer „Tierfabrik“ schreibt:
„Der Maststall ist 400 Fuß breit, 600 Fuß lang, bedeckt eine Fläche von über zwei Hektar und enthält 3.750 Stück Hornvieh, welche dort gemästet werden ... Das Füttern und Reinigen wird mittels Dampfmaschinen ausgeführt. Ein Gebläse treibt den Häcksel (den eine Maschine geschnitten und gemengt) und eine Pumpe die Schlempe in die Krippen. Der Dung wird mittels Wassers, welches eine Druckpumpe liefert, zweimal des Tags rein weggewaschen usw.“
Der Berichterstatter fügt hinzu:
„Wie kann das arme Bäuerlein, das sein Vieh fast noch ebenso roh gewohnheitsmäßig wie der erste Ackerbauer aufzieht, mit dieser wissenschaftlich geleiteten Vieh fabrikation konkurrieren?“
3. Die Zahlen stehen noch schlechter für den Kleinbetrieb im Handwerk, wenn man sie näher ansieht. Die Berufszählung von 1882 zählte nämlich unter den gewerblichen Betrieben unter anderem auch die dem Handel, der Beherbergung und Erquickung dienenden auf. Diese aber folgen anderen Gesetzen. Die Zahl der kleinen Zwischenhändler und Wirte pflegt um so mehr zu steigen, je mehr das Handwerk zurückgeht. Zwischenhandel und Gastwirtschaft sind eine Lieblingszuflucht bankerotter Handwerker. Im Verkehrswesen aber hat die Statistik von 1882 die Arbeiter nicht mitgezählt, die in den größten Verkehrsanstalten – Eisenbahn, Post, Telegraphie – beschäftigt waren. Dadurch wurde das Bild zugunsten der Kleinbetriebe sehr verschoben. Lassen wir die entsprechenden Gewerbegruppen weg, dann finden wir, daß beschäftigt waren in gewerblichen Betrieben
ohne Gehilfen | 1.455.816 Arbeiter | 24,5 Prozent |
mit 1–5 Gehilfen | 1.919.712 Arbeiter | 32,4 Prozent |
mit 6–10 Gehilfen | 254.333 Arbeiter | 4,3 Prozent |
mit 10–50 Gehilfen | 750.671 Arbeiter | 12,6 Prozent |
über 50 Gehilfen | 1.554.131 Arbeiter | 26,2 Prozent |
Zusammen | 5.934.663 Arbeiter | 100,0 Prozent |
Die Betriebe mit mehr als fünf Arbeitern beschäftigten also in der Industrie nicht 39, sondern 43 Prozent aller industriellen Arbeiter. Von den 57 Prozent der Arbeiter der Kleinbetriebe arbeitete aber fast die Hälfte ohne Gehilfen. Wir dürfen die Mehrzahl davon der Hausindustrie zurechnen; das sind also nicht selbständige Handwerker, sondern die erbärmlichsten aller Lohnsklaven des Kapitals. Die Hausindustriellen sind meist entweder Handwerker oder Bauern, die im Untergehen begriffen sind und auf diese Weise ihre „Selbständigkeit“ noch eine Weile fristen. Davon oben mehr. Die große Zahl dieser Kleinbetriebe spricht gerade nicht zugunsten der Lebensfähigkeit des Kleinbetriebs.
Leider ist die Berufsstatistik von 1882 in Deutschland die jüngste. Seitdem ist das Handwerk noch weiter bergab gegangen.
[4] Wenn es noch in abgelegenen Gegenden Bauern und Handwerker geben sollte, die keine Schulden haben, so sorgen die Staatsschulden dafür, daß auch sie dem Kapital zinspflichtig werden. In den Hypotheken-, Wechsel- und anderen Zinsen bezahlen Bauern und Handwerker wenigstens nur die Interessen eines Kapitals, das sie selbst erhalten haben. In den Steuern, die zur Verzinsung der Staatsschulden dienen, bezahlen sie die Interessen eines Kapitals, das der Staat entliehen hat, um damit auf ihre Kosten ihre Konkurrenten und Ausbeuter zu bereichern: Lieferanten, Bauunternehmer, Großindustrielle, Großgrundbesitzer u. dgl. Militarismus und Staatsschulden, das sind die beiden kräftigen Mittel, durch die der heutige Staat auch das abgelegenste Dorf in das Bereich der kapitalistischen Ausbeutung zieht und den Untergang von Bauernschaft und Handwerk fördert.
Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2018