MIA > Deutsch > Marxisten > Hilferding
Rudolf Hilferding, Probleme der Zeit, Die Gesellschaft: Internationale Revue für Sozialismus und Politik, 1924, 1. Jg., H. 1, S. 1–10.
Nachgedrückt in Cora Stephan (Hrsg.), Zwischen den Stühlen oder über die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis. Schriften Rudolf Hilferdings 1904 bis 1940, Berlin: Dietz, 1982, pp. 166–181.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Der Regierung Wirth folgt im November 1922 das Kabinett Cuno aus Vertretern der Deutschen Volkspartei und des konservativen Zentrumsflügels. Auf die Drosselung der Reparationszahlungen durch die Regierung reagieren Frankreich und Belgien mit der Besetzung des Ruhrgebiets am 11. Januar 1923. Die mit Mühe stabilisierte deutsche Währung bricht im April des Jahres zusammen.
Schwere Teuerungsunruhen und eine Streikbewegung, die sich am 11. August von Berlin aus über das Reich ausbreitet, zwingen die Regierung zum Rücktritt. Daraufhin bildet Gustav Stresemann am 13. August 1923 ein Kabinett aus SPD, Zentrum und Deutscher Volkspartei, in dem Rudolf Hilferding das Finanzressort übernimmt.
Sein Programm zur Stabilisierung der Reichsmark sieht eine drastische Steuerpolitik, eine Devisenzwangsanleihe, die Golddeckung der Reichsmark, Stilllegung der Notenpresse und eine Reform der Reichsbank vor (Die Aufgaben der Reichsbank, in: Vorwärts vom 9. August 1923). Er besteht auf dem Primat der Reichspolitik und lehnt es ab, die Besitzenden zu Anteilseignern der Währungsbank zu machen.
Hilferding ist im Kabinett Stresemann isoliert, denn seine bürgerlichen Kabinettskollegen empfinden die Berufung eines Sozialdemokraten zum Minister als Provokation. Dem linken Flügel der eigenen Partei ist sein Pragmatismus suspekt, dem rechten Flügel seine frühere Zugehörigkeit zur USPD. Überdies geht er davon aus, dass eine Währungsreform durchschlagenden Erfolg nur dann versprechen könne, wenn die endgültige Höhe der deutschen Reparationen feststehe. Seine währungspolitischen Vorstellungen werden nur zum Teil verwirklicht, insbesondere die Forderung, das Geld auf eine in Goldmark festzusetzende Grundschuld aller Berufszweige (Rentenmark) zu basieren. Den Ruhm für diese Reform erntet jedoch nicht Hilferding. Als Gustav Stresemann Anfang Oktober 1923 eine Erhöhung der Arbeitszeit in Aussicht stellt, treten die Vertreter der SPD zurück – gegen den Widerstand Hilferdings, der einen allgemeinen Zusammenbruch und eine Diktatur von rechts befürchtet. Am 879. November putscht Adolf Hitler in München. Hilferding zieht sich wieder auf seine theoretisch-politische Tätigkeit zurück. Ab 1. April 1924 gibt er Die Gesellschaft heraus, die an die Stelle der am 25. August 1923 zum letzten Mal erschienenen Neuen Zeit tritt. Die Gesellschaft sei allerdings keine „offizielle Parteimonatsschrift“, schreibt er am 5. Oktober 1925 an Max Quarck. „Ich bin umgekehrt bestrebt, alles Offizielle fernzuhalten.“
In seinem Geleitwort Probleme der Zeit zieht er eine Bilanz der Ereignisse während der Revolutionszeit und formuliert zugleich die Eckwerte sozialdemokratischer Politik für die folgenden Jahre der „relativen Stabilisierung“.
Der wirtschaftliche Zusammenbruch und seine pessimistische Einschätzung der „Reife“ der deutschen Arbeiter führen ihn zu einem Denkmodell der Demokratisierung innerhalb des organisierten Kapitalismus. Am 19. Juli 1924 schreibt er an Kautsky, dass „ein Aufstieg der Arbeiter innerhalb der Betriebe und ihre Beteiligung an der Leitung notwendig wäre, bevor man zu umfassender Zentralisation und durchgreifender gesellschaftlicher Regelung gelangen kann. Denn bei dem jetzigen Zustand der Arbeiterschaft und ihren moralischen und intellektuellen Fähigkeiten ist sonst zu befürchten, dass durch das Sinken der Produktivität und durch Bequemlichkeit der Leitung die Vorteile der Vergesellschaftung umso mehr wettgemacht würden, als ein großer Teil dieser Vorteile durch die Kartelle und Trusts verwirklicht sind ...“ Man müsse heute „neben der früher hauptsächlich auf wirtschaftliche Dinge gerichteten Agitation die moralisch-geistigen Elemente stärker betonen“.
An eine Umwälzung im sozialistischen Sinn glaubt Hilferding zu dieser Zeit nicht mehr, er ist resigniert, fühlt sich isoliert. Er komme, schreibt er an Kautsky am 19. Oktober 1924, über die Enttäuschung von 1914 nicht hinweg. Man müsse offensichtlich „die politisch-demokratische Auseinandersetzung zunächst nachgeholt haben, bevor die soziale sich vollziehen kann“. Seine Aufgabe für die nächsten Jahre erblickt er darin, der deutschen Arbeiterschaft den „Eigenwert der Republik und Demokratie“ zu Bewusstsein zu bringen.
Zehn Jahre seit Ausbruch des Krieges sind vorüber und noch immer hat die Welt weder ihr ökonomisches noch ihr politisches, noch ihr geistiges Gleichgewicht gefunden. In wildestem Fluss ist die geschichtliche Entwicklung, eine Sturm- und Drangperiode von unerhörter Ausdehnung und Intensität durchlebt die Menschheit.
Inmitten solchen Geschehens, das jeden zum Mithandeln aufruft, die Tatsachen festzustellen, die bewegenden Kräfte zu analysieren, den Tendenzen der Entwicklung nachzuspüren, ist die schwere Aufgabe, die jetzt der Sozialwissenschaft gestellt ist. Als die revolutionäre Bewegung des Jahres 1848 verebbt war, konnte sich Marx in die Studierstube zurückziehen. Damals folgte der revolutionären Unruhe eine stille Zeit, in der die Massen teilnahmslos dem wieder errichteten Absolutismus oder Bonapartismus ihr Geschick überließen. Für solche Restauration ist heute Tiefe und Ausbreitung der sozialen Gärung viel zu groß. Die Massen, durch den Krieg aufgerüttelt, bleiben in gesteigertem Kraftgefühl als Handelnde auf der Bühne der Geschichte. Die Rückkehr zu den alten Formen der Staats- und Volksbeherrschung ist unmöglich. Die Zeiteinteilung: Studium während des politischen Niederganges, Kampf und Handeln in der Zeit des Aufstiegs, ist nicht mehr möglich. Wir müssen beides zu vereinen lernen.
Versuchen wir die Entwicklung des letzten Jahrzehnts für eine erste Orientierung zu analysieren, so lässt sich die Untersuchung in drei Hauptrichtungen führen. Wir fragen nach den Änderungen in der Wirtschaft, der Umgestaltung in den inneren politischen Verhältnissen und damit nach der grundlegenden Beziehung zwischen Staat und Staatsvolk, schließlich nach der Neuordnung der Staatengliederung und ihrer Rückwirkung auf die Gestaltung der Außenpolitik.
In der Ökonomie bedeutet Kriegs- und Nachkriegszeit eine außerordentliche Steigerung der Konzentrationstendenzen des Kapitals. Die Kartell- und Trustentwicklung wird mächtig gefördert. Die Periode der freien Konkurrenz neigt sich dem Ende zu. Die großen Monopole werden zu den entscheidenden Beherrschern der Wirtschaft, immer enger wird die Verbindung mit den Banken, in denen das gesellschaftliche Kapital konzentriert und der Wirtschaft zur Verfügung gestellt wird. Die früher getrennten Formen des Industrie-, Handels- und Bankkapitals streben in der Form des Finanzkapitals zur Vereinheitlichung. Dies bedeutet den Übergang von dem Kapitalismus der freien Konkurrenz zum organisierten Kapitalismus. Die Vergesellschaftung des Arbeitsprozesses im Großbetrieb ist fortgeschritten zur Vergesellschaftung des Arbeitsprozesses ganzer Industriezweige und zur Vereinigung der vergesellschafteten Industriezweige untereinander. Damit wächst zugleich die bewusste Ordnung und Lenkung der Wirtschaft, die die immanente Anarchie des Kapitalismus der freien Konkurrenz auf kapitalistischer Basis zu überwinden strebt. Würde diese Tendenz sich ohne Hemmnis durchsetzen können, so wäre das Ergebnis eine zwar organisierte, aber eine in antagonistischer Form hierarchisch organisierte Wirtschaft.
Es ist der Versuch einer Regelung und Organisierung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zugunsten der im Besitz der Produktionsmittel befindlichen Schichten. Diese würden den maßgebenden Einfluss auf Leitung der Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Produkts behaupten. Die Unstetigkeit kapitalistischer Produktionsverhältnisse würde vermindert, die Krisen oder wenigstens deren Rückwirkung auf die Arbeiter gemildert werden. Planmäßige Verteilung von neuen Investitionen durch die großen Trusts, eine gewisse Zurückhaltung von Neuanlage fixen Kapitals in der Zeit der Hochkonjunktur und Verlegung auf die Zeit verlangsamten Geschäftsganges, eine dem angepasste Kreditregulierung durch die Großbanken, unterstützt durch eine entsprechende Geldpolitik der Zentralbank, wären die Mittel einer solchen Politik. Es ist charakteristisch, dass diese Probleme, wenn auch noch nicht unter diesem prinzipiellen Gesichtspunkt, bereits die nationalökonomische Literatur Amerikas und Englands zu beschäftigen beginnen.
In einer solch hierarchisch organisierten kapitalistischen Volkswirtschaft wird das Arbeitsverhältnis gleichfalls modifiziert. Es erhält einen stetigeren Charakter, die Arbeitslosigkeit wird weniger drohend, ihre Folgen durch Versicherung gemildert. Die Arbeitsteilung und Arbeitsspezialisierung wird mit verstärkter Intensität zugleich mit fortschreitender Mechanisierung nach den Methoden der „wissenschaftlichen Betriebsorganisation“ fortgeführt. Das Arbeiterheer wird gegliedert in verschieden abgestufte Schichten von Angestellten mit beamtenähnlichem Charakter. Sozialreform, vor allem als Versicherung gegen Alter, Invalidität und Arbeitslosigkeit, aber auch als Mittel, durch Beschränkung der Arbeitszeit einem relativ gut gelohnten Arbeiterheer den mechanisierten und zugleich außerordentlich intensiven Arbeitsprozess erträglich zu machen, würde ihre konservative Wirkung bewähren und die Anpassung der Arbeiterschaft an dieses Wirtschaftssystem fördern. Aber gerade die antagonistische, gegensätzliche Grundlage einer solchen Wirtschaftsorganisation erzwingt den Kampf. Je fortgeschrittener die Organisation, je bewusster die Regelung der Wirtschaft, desto unerträglicher wird der Masse der Produzenten die Usurpation der Wirtschaftsmacht und des gesellschaftlichen Produkts durch die Besitzer der konzentrierten Produktionsmittel. Der bewusst geregelte Charakter der Wirtschaft gerät mit der „zufällig“, aus der früheren Epoche des unorganisierten Kapitalismus überkommenen gegensätzlichen Eigentumsgrundlage in offenbaren, nicht mehr zu verhüllenden Widerspruch. Er wird beseitigt durch die Umwandlung der hierarchisch organisierten in die demokratisch organisierte Wirtschaft. Die bewusste gesellschaftliche Regelung der Wirtschaft durch die Wenigen und für deren Machtzwecke wird zur Regelung durch die Masse der Produzenten. So stellt der Kapitalismus, gerade wenn er zu seiner höchsten Stufe einer von neuem organisierten Wirtschaft gelangt, das Problem der Wirtschaftsdemokratie. Wenn Engels sein und Marxens Lebenswerk als den Fortschritt des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft bezeichnete, so handelt es sich jetzt um die Anwendung der Sozialwissenschaft auf die soziale Organisation. Es wäre der Übergang vom wissenschaftlichen zum konstruktiven Sozialismus. Es ist klar, dass die Herstellung der Wirtschaftsdemokratie ein ungeheuer kompliziertes Problem ist, dessen Bewältigung sich nur in einem langdauernden historischen Prozess vollziehen kann, in dem die fortschreitende Organisation der Wirtschaft durch das konzentrierte Kapital zugleich immer mehr der demokratischen Kontrolle unterworfen wird. Denn wenn auch der Übergang der politischen Macht von einer Klasse auf eine andere in einem relativ kurzen Akt, also revolutionär, sich vollziehen kann, so geht die Ausgestaltung der Ökonomie stets nur in andauernder organischer Entwicklung, also evolutionär, vor sich.
Während dieser Entwicklung erwirbt sich die Produzentenschaft erst die Fähigkeit und das Verantwortungsbewusstsein, das sie zur steigenden Anteil nähme an der Leitung der Produktion befähigt. Die psychologische Umwandlung ist notwendige Voraussetzung der Wirtschaftsdemokratie. Sie erfordert neben der Schulung, die aus dem Kampf selbst entspringt, zugleich die entsprechende bewusste Erziehungsarbeit. Die Probleme der Pädagogik erscheinen jetzt in ihrer grundlegenden Bedeutung für die gesellschaftliche Umgestaltung.
Demokratie bedeutet auch in der Politik weder die Herrschaft noch die Gleichberechtigung aller in dem Sinne, dass allen gleiche Funktionen übertragen werden könnten und alle zu allem gleich tauglich wären. Demokratie ist nur ein Ausleseprinzip, die für die moderne Gesellschaft allein geeignete Selektion, bei der der Ausgangspunkt für alle gleich ist. Politische Gleichheit bei sozialer Ungleichheit stellt den großen immanenten Widerspruch der modernen Gesellschaftsorganisation überhaupt dar. Die soziale Differenzierung schließt aber nicht nur den Besitzunterschied in sich, sondern zugleich auch Differenz in Bildung und Wissen und in der Bildungsmöglichkeit. Die Wirtschaftsdemokratie würde die Verschiedenheit der Funktionen innerhalb des Produktionsprozesses ebensowenig auflieben, wie die verschiedene natürliche Eignung der einzelnen zu deren Erfüllung. Aber sie postuliert die Gleichheit des Ausgangspunktes für jeden, zu allen Funktionen, auch zu den höchsten, je nach seinen Fähigkeiten gelangen zu können. Das zeigt, welch hervorragende Bedeutung das Erziehungsproblem – Erziehung im umfassenden Sinne genommen – für die Durchsetzung der Wirtschaftsdemokratie gewinnen muss. Es ist kein Zufall, dass alle großen Sozialisten zugleich ein großes pädagogisches Interesse hatten. Das Wort, das einst von den Intellektuellen der Fabian-Society geprägt wurde, we must educate our rulers. wir müssen unsere Herrscher erziehen, muss ohne seinen etwas autoritären Nebensinn verwirklicht werden: wir müssen uns zu Herrschern über den Produktionsprozess der Gesellschaft erziehen. Das notwendige Korrelat der politischen Demokratie, Bedingung und Erfolgsbürgschaft des Gebrauchs und des Besitzes politischer Macht, ist die Eroberung der Bildung, des Wissens, der Kultur, über die die Gesellschaft verfügt. In einer Zeit, in der der Kampf um die materiellen Interessen, das Ringen um den Anteil am Produktionsertrag aus historischem Zwang einen so großen Raum einnimmt, ist es notwendig, denen, die noch immer die Hintersassen unserer Kultur sind, und erst recht denen, die Bildung als Privileg behaupten wollen, die Notwendigkeit zu zeigen, den Kampf um die Gleichheit der Bildungsmöglichkeit zu führen. Und so sicher auch der Nachweis zu führen ist. dass Art und Ausbreitung von Bildung abhängig ist von der sozialen Entwicklung und den Kämpfen der Klassen, gegenüber den Interessenkämpfen, die nur allzu sehr den Raum der Politik erfüllen, brauchen wir diesen Kampf schon um des ideellen Aufschwungs willen, den wir alle ersehnen.
Zugleich erfüllen wir damit eine unmittelbare praktische Aufgabe. Es ist bezeichnend, dass alle wissenschaftliche und technische Aufmerksamkeit, die der Verbesserung des Arbeitsprozesses zugewandt war, wesentlich der Entwicklung des Werkzeugs, der Maschine und des Apparates galt. Erst in den letzten Jahren wird die Arbeit des Arbeiters selbst studiert, die Bewegungen auf ihre Anpassung an die bestimmte Arbeitsfunktion analysiert, die psychische und physische Eignung erforscht; auch hier vollzieht sich der Übergang von dem so lange gerade auf diesem Gebiet festgehaltenen Traditionalismus zur rationalen Verfahrungsweise. Resultat ist weitere Arbeitszerlegung, Steigerung der Intensität, aber auch Vereinseitigung und Verödung der Arbeit. All dies droht sich einseitig zu vollziehen im Interesse der Steigerung der Produktionskraft ohne Rücksicht auf den lebendigen Menschen. Die Gegenwirkung kann nicht in der romantischen Reaktion der Auflösung der Fabrik, der Hemmung der Produktivität und der Hinderung der Mechanisierung bestehen. sondern nur in der Gegenwirkung, die die Anteilnahme an der Kultur für den Arbeiter in sich schließt. Auch dies setzt eine ganz andere Bildungsmöglichkeit voraus, aber auch eine Verkürzung der Arbeit, die die gesteigerte Produktivität erlaubt, wie andererseits wechselwirkend die Verkürzung der Arbeitszeit, hoher Arbeitslohn und gehobenes Kulturniveau wieder Bedingungen gesteigerter Produktivität darstellen.
Stellt der organisierte Kapitalismus das Problem der Wirtschaftsdemokratie in seiner ganzen komplizierten Bedeutung, so schafft er zugleich eine andere geistige Haltung der Arbeiterklasse. Er differenziert mit seinem Fortschreiten und seiner Befestigung die Funktionen, aber er vereinheitlicht zugleich das Interesse dieser in alle Stufen von ungelernten, angelernten und gelernten Arbeitern und Angestellten aller Art zerfallenden Masse gegenüber den Beherrschern des Produktionsprozesses. Wie in der Politik das auf Geburtsrecht basierte Privileg der Herrschaft des Königs und der Aristokratie der politischen Gleichheit den Platz räumt, so bekämpft die Masse der Produzenten, auf die auch immer mehr von dem Eigentum sich loslösende Funktionen der Leitung des Produktionsprozesses übergehen, das erbliche Eigentumsprivileg, sofern es Herrschaft über die Produktion und Aneignung gesellschaftlicher Macht bedeutet.
So vollzieht sich eine Änderung der Sozialpsychologie der Produzenten. Der Sozialismus war ursprünglich, auch in seiner entwickelten Form, von außen als Postulat an die um unmittelbare Verbesserung ihrer materiellen und geistigen Lage ringenden Arbeitermassen gebracht worden. Es war kein willkürliches Ziel, das der Arbeiterbewegung gesetzt wurde. Es entsprang der Erkenntnis, dass Sozialismus auf der höchsten Stufe kapitalistischer Entwicklung das Ziel der Arbeiterbewegung werden müsse. Die Vorwegnahme der Erkenntnis ist ja die Voraussetzung des geschichtlichen Erfolges jeder sozialen Prophetie, um den Ausdruck Max Webers zu gebrauchen. Aber es war Postulat an die Arbeiterbewegung, nicht Forderung der Arbeiter selbst. ,,Auch die Philosophie wird eine Macht, wenn sie die Massen ergreift.“ Das Wort des jungen Marx wurde durch ihn verwirklicht. Aber in dieser Verwirklichung erfuhr die „Philosophie“, der Sozialismus, eine eigentümliche Abwandlung. Der Sozialismus gab einer noch unentwickelten und wenig organisierten Arbeiterbewegung Richtung und Ziel. Das soziale Ideal rüttelte die Gedrückten und Elenden auf, es begeisterte die Massen in den täglichen Kämpfen um Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung, um Koalitionsrecht und politische Freiheiten. Es lehrte die Arbeiter, sich nicht als bloße Interessenvertreter zu fühlen, sondern als die Kämpfer für eine klassen- und herrschaftslose, auf Solidarität und Freiheit gegründete Gemeinschaft. Aber je breiter die Arbeiterbewegung wurde, je mehr die Massen selbst und unmittelbar nach ihren jeweiligen Bedürfnissen ihre sozialen und politischen Kämpfe gestalteten, desto mehr bestimmten diese drängenden Bedürfnisse des Tages die geistige Haltung der Arbeiter, desto mehr wurde die gewerkschaftliche Interessenvertretung, die Sozialreform, die Anpassung an den Kapitalismus stattdessen Überwindung, zum Inhalt ihres Strebens.
Die „Philosophie“ war damit zur Ideologie geworden. Die geschichtliche Idee ist die Bewusstheit des geschichtlich relevanten Handelns, das heißt das Handeln ist durch das Streben nach Verwirklichung der Idee unmittelbar determiniert. Die Idee wird zur Ideologie, sobald das Handeln durch andere Zwecke unmittelbar bestimmt wird, die nur mittelbar auch zuletzt in der Richtung der Verwirklichung der Idee liegen, sei es real, sei es schließlich nur mehr in der gläubigen Phantasie des Handelnden. So war auch der Marxismus zur Ideologie geworden, wie während des Zusammenbruchs nach dem Krieg die Tatsachen gezeigt haben. Die Arbeiterschaft nützte ihre Machtstellung nicht zur Verwirklichung des Sozialismus, sondern zur Verbesserung ihrer Lage, zur Erweiterung der Sozialreform und der politischen Demokratie.
Der organisierte Kapitalismus stellt nun mit dem Problem der Wirtschaftsdemokratie die Produzenten geistig vor eine andere Situation. Der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation stehen jetzt die Produzentenorganisationen gegenüber. Die Aufstiegsmöglichkeit ihrer Mitglieder innerhalb der bürokratisch organisierten Wirtschaft wird zum Inhalt ihrer Politik zugleich mit dem Streben, die Wirtschaftsorganisation selbst zu beeinflussen und demokratisch umzuwandeln. Fabriksdemokratie, Stärkung der Stellung der Betriebsräte, Produktionskontrolle in allen Nuancen des umfassenden Wortes bis zur schließlichen Erringung der Wirtschaftsdemokratie wird zum Inhalt der Politik der Arbeiterorganisationen. Die Gewerkschaften hören damit auf, nur Organe der Sozialpolitik zu sein und werden Träger einer demokratischen Produktionspolitik. Damit hört aber der Sozialismus auf, Wissenschaft und zugleich politische und soziale Ideologie zu sein, abstrakte Vorstellung für den um Anpassung an den Kapitalismus durch Verbesserung der Lebenshaltung kämpfenden Arbeiter zu sein; er wird unmittelbar zu verwirklichender Inhalt seines Kampfes um den Einfluss auf die geregelte und organisierte Wirtschaft. Damit wird aber für die Gewerkschaften der Arbeiter und noch mehr der Angestellten die Qualifikation ihrer Mitglieder zu einer bedeutungsvollen Frage. Geht auch die Entwicklungsrichtung immer mehr auf Bildung der Massenorganisationen, der Industrieverbände, so führt der Kampf um die Wirtschaftsdemokratie zu neuer Differenzierung innerhalb der Massen, zur Steigerung des Persönlichkeitswerts innerhalb der Organisation und damit zu einem neuen Geist des Wettbewerbs um den sozialen Aufstieg.
War die Bedeutung der Organisation schon vor dem Kriege beständig im Zunehmen begriffen, so haben der Krieg und seine Folgen diese Entwicklung außerordentlich beschleunigt und gesteigert. Die Kartelle und Trusts sind Machtzentren, die Herrschaftsbefugnisse ausüben, bedeutsamer oft für die Unterworfenen als die staatlichen Hoheitsrechte. Sie erfüllen das formale Recht mit materiellem Inhalt, durchbrechen die Rechtsgleichheit, schaffen neue Abhängigkeitsverhältnisse und greifen schließlich von der Wirtschaft über auf die Politik des Staates, um seine Machtorganisation in den Dienst ihrer Zwecke zu stellen. Die Spitzen der Wirtschaftshierarchie stoßen an die auf demokratischer Grundlage errichtete politische Organisation. Sie suchen die Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Staaten, die Zusammensetzung der Regierung und der Verwaltung, die politischen Parteien entscheidend zu beeinflussen, die Wirtschaftsmacht unmittelbar in politische Macht umzusetzen. So wird das Verhältnis des Staates zu den großen Monopolen aufgerollt. Wie ist eine staatliche Kartellpolitik möglich? Wie kann vom Staate aus das Problem der Wirtschaftsdemokratie behandelt werden? War das bisherige Privatrecht wesentlich eine formale Ordnung auf Basis der Rechtsgleichheit, so haben die Monopole durch den materiellen Inhalt ihrer Ordnungen neue Abhängigkeitsverhältnisse und Zwangssysteme geschaffen, denen gegenüber das bisherige Recht versagt. Welche wirtschaftspolitischen Mittel, welche juristische Neuordnung des Handelsrechts, des Aktienrechts, der Kartellgesetzgebung sind notwendig, um inhaltlich und nicht bloß formal das Recht des Staates gegenüber den Monopolen zu wahren? Scheinbar Einzelfragen, sind sie untergeordnet der grundlegenden Entscheidung zwischen hierarchischer und demokratischer Organisation der Wirtschaft.
Auf der anderen Seite sind im und nach dem Kriege die Arbeiterorganisationen an Zahl der Mitglieder und an sozialer Bedeutung außerordentlich gewachsen, sind die Schichten der Angestellten und Techniker, der öffentlichen und privaten Beamten erst voll von der Organisation erfasst worden. Der Krieg, in dem die Materialversorgung je länger je mehr entscheidend wurde, war nicht durchzuführen ohne die Gewerkschaften. Überall verhandelte die Regierung mit den Organisationen über die Arbeitsbedingungen, über ihre Mitwirkung bei der Umstellung oder der Rationierung der Industrie. In England besonders war die Kriegswirtschaft nur zu organisieren, wenn die Zustimmung der Gewerkschaften zum Verzicht auf ihre alten Regeln, zur Verwendung ungelernter und Frauenarbeit erlangt wurde. Macht und Ansehen der Gewerkschaften stieg und ebenso das Selbstbewusstsein der Arbeiter, die ihre Macht kennenlernten. Der Wille wurde geweckt, die Macht des Staates über die Wirtschaft, die während des Krieges so unbegrenzt schien, nach dem Kriege für die Arbeiterklasse auszunützen. So war auch hier psychologisch alles erreicht, um die Wirtschaftsmacht unmittelbar in politische umzusetzen.
Die soziale Bedeutung der Organisationen, die sich an den Polen der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft in steter Spannung gegeneinander entwickeln, ist noch erhöht durch die Eigentumsrevolution, die die Geldentwertung in so vielen Ländern bedeutet. Es war der größte Expropriationsprozess in der an Expropriationen reichen Geschichte des Kapitalismus. Er hat in verschieden starkem Grad die städtischen Mittelschichten geschwächt, zum Teil vernichtet, die Rentenverpflichtungen der Wirtschaft verringert oder annulliert. Ein politisch und sozial vermittelndes, konservativ gerichtetes, zugleich kulturwichtiges Element ist so aus der bisherigen sozialen Struktur zu einem großen Teil eliminiert worden.
Ganz anders als in der Industrie hat sich die Entwicklung in der Landwirtschaft vollzogen. So groß auch die Rolle der Gewalt bei Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus ist, so sind für die Verteilung des industriellen Eigentums, für die Entwicklung zum Großbetrieb, für die immer stärkere betriebliche und ökonomische Konzentration die immanenten ökonomischen Gesetze kapitalistischer Produktion und Verteilung entscheidend. Ganz anders in der Landwirtschaft. Die ältesten Formen der Besiedelung und Besitznahme des Landes sind teilweise noch heute in der Besitzverteilung zu erkennen, und entscheidende Änderungen gehen fast stets auf die Gewalt kriegerischer Eroberung oder revolutionärer Umwälzung, in geringerem Grad auf staatliche Reform zurück. Die rein ökonomischen Faktoren wirken auf die technische und kommerzielle Umgestaltung des Betriebes ein, aber nur langsam und sekundär auf Eigentumsänderung oder Betriebsgröße. Krieg und Nachkriegszeit bedeuten für Amerika, West- und Mitteleuropa eine ökonomische Befestigung der überkommenen agrarischen Struktur. Der Krieg und die ersten Nachkriegsjahre sind Hochkonjunkturzeit für die Landwirtschaft, die Geldentwertung bedeutet Verringerung oder Vernichtung ihrer Schuldenlast. Die Agrarkrise, die sich schon 1920 in den Vereinigten Staaten und England herausbildet, hat ihre spezifische Ursache in der vorhergehenden raschen Erweiterung der Agrarproduktion, die aber sehr im Gegensatz zur Krise der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts überwiegend zu steigenden Produktions- und steigenden Frachtkosten erfolgt war. Sie wird verschärft und verbreitert durch das Missverhältnis zwischen den Preisen der Industrie- und denen der Agrarprodukte, ein Mißverhältnis, das nur der Ausdruck des vorübergehend gestörten Gleichgewichts der Weltproduktion und Weltzirkulation überhaupt ist.
Aber das säkulare Ereignis ist die Agrarrevolution im Osten und Südosten Europas, die zur Vernichtung oder starken Verringerung des Großgrundeigentums geführt hat, in einem ähnlichen Prozess, wie ihn die Französische Revolution in ihrem Lande vollendet hatte. So entsteht im Osten auf dem Lande eine breite Masse bäuerlicher Mittel- und Kleinbesitzer, während in der übrigen Welt diese Schicht ökonomisch gekräftigt aus dem Kriege hervorgeht. Dies bedeutet eine Gegentendenz zur städtisch-industriellen Entwicklung, denn diese Massen sind sozial-konservativ und geneigt, ähnliche Tendenzen auch bei den Kämpfen innerhalb der industriellen Bevölkerung zu unterstützen. Zugleich werden die ländlichen Massen immer mehr von den landwirtschaftlichen Organisationen erfasst, durch die Marktverflechtung aus ihrer einstigen Isoliertheit gerissen; ihre materiellen und kulturellen Bedürfnisse werden gesteigert, sie werden städtischen Einflüssen und städtischer Denkungsweise zugänglicher. Das Verhältnis zu der ländlichen Produzentenmasse wird zugleich für die weitere Entwicklung im Kampfe um die Wirtschaftspolitik von steigender Bedeutung. Das agrarpolitische Problem ist im ganzen Umfang aufgerollt.
Während und nach dem Kriege sind die Produktivkräfte außerordentlich gewachsen. Die Ausdehnung war nicht gleichmäßig; vermehrt wurden vor allem die Wirtschaftszweige, die für die Kriegführung nötig waren: die Rohstoffgewinnung im weitesten Umfang, die Metallproduktion und -Verarbeitung, die chemische Industrie, die Schifffahrt, während die Konsumtionsmittelindustrien, soweit sie nicht dem Heeresbedarf dienten, zurückblieben. Diese Disproportionalität ist eine der Ursachen der Weltkrise. Aber Ausdehnung der Produktionskapazität bedeutet zuletzt nach Überwindung der Krise Steigerung der Produktion und neue Hochkonjunktur. Die Agrarrevolution bedeutet zugleich Ausdehnung des Marktes für Industrieprodukte. Als Resultat der Kriegsperiode erscheint so die kapitalistische Ökonomie materiell erweitert und qualitativ verändert auf dem Wege zur organisierten Wirtschaft.
In politischer Richtung endet der Krieg mit der Ausdehnung und Befestigung der demokratischen Staatsform in den entscheidenden Ländern. Wie in der Ökonomie, so steigert der Krieg auch in der Politik nur die Intensität einer schon vorhandenen Entwicklungstendenz. Mit der entscheidenden Stellung, die seit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts die besitzlosen Massen im Produktionsprozess einnehmen, mit ihrer Organisation und kulturellen Erhebung, die die wesentliche Leistung der Arbeiterbewegung des letzten Drittels des vorigen Jahrhunderts ist, wird der Sieg der Demokratie notwendig. Der Krieg, der die Arbeiter gegeneinander in die Schützengräben wirft, steigert zugleich innerhalb des Staates real und ideell die Stellung der Arbeiterklasse. Erreicht im Kriege der Staat als Machtorganisation seine größte Stärke, so ist er zugleich in ganz anderem Maße als in den Kriegen vorher in engster Abhängigkeit von der Produktion, von deren Umstellung und Anspannung der kriegerische Erfolg in höchstem Maße bedingt ist. Der Staat – welche Stellung er bisher auch zu den Arbeiterorganisationen eingenommen hat – wird zu Verhandlungen mit den Produzenten gedrängt. Denn Zwang ist zur Erreichung des Zieles kaum wirksam; der Staat bedarf der freiwilligen Mitwirkung der Produzentenorganisationen. Namentlich die Gewerkschaften, die infolge der bisherigen politischen und sozialen Entwicklung dem Staate weit ferner stehen, müssen umworben, dem Staatszweck gewonnen werden, soll die Produktion von gefährlichen Strömungen bewahrt werden, die Arbeiter ihre ganze Energie hergeben.
Ein Vorgang von außerordentlicher und sozialpsychologischer Bedeutung und Wirkung! Die Produzentenorganisationen fühlen sich als die eigentlichen Träger des Staates, ihre Bürokratie insbesondere als für den Staat unentbehrliche Organe, als gleichberechtigt der Staatsbürokratie, aber noch wichtiger als diese, die den Produktionsproblemen ohne ihre Hilfe nicht gewachsen ist. Aus der Staatsferne rücken so die Arbeiter gerade während des Krieges in Staatsnähe, erfüllt mit einer außerordentlichen Stärkung ihres Machtbewusstseins und ihrer politischen Bedeutung. Zugleich verschiebt sich das Verhältnis zwischen Wirtschaftsorganisation und politischen Parteien. Dieselben Umstände, die im Kriege die Produzentenorganisationen emporhoben, drückten infolge der unvermeidlichen Steigerung der Staatsmacht und der in ihr vereinheitlichten Zusammenfassung der Politik – Burgfriede, union sacrée – die politischen Parteien. Die Produzentenorganisationen, neben denen nur die Heeresleitungen reale und bedeutsame Funktionen auszuüben schienen, begannen immer mehr sich als die Träger der Politik zu fühlen, im Gegensatz zu den scheinbar überflüssigen politischen Parteien. Die Kriegswirtschaft selbst, die, durchgeführt durch die Staatsmacht und durch deren staatlichen Zwang, doch durch jene organisiert und aus Vereinbarungen mit ihnen entstanden war, musste diese Auffassung noch befestigen. So erwuchsen jene Vorstellungen von der unmittelbaren Berufung der Produzentenorganisationen zur Politik. In der Arbeitsgemeinschaft sollten Unternehmer- und Arbeiterorganisationen in gemeinsamem Zusammenwirken die Grundlagen der Sozial- und Wirtschaftspolitik festlegen, die Regierung und Parlament auszuführen hätten. Klassenmäßig gefärbt lag dieselbe Ideologie zugrunde den verschiedenartigen Empfehlungen berufsständiger Parlamente ebenso, wie der Räte-Ideologie und den gildensozialistischen Gedankengängen; in beiden lebten zugleich alte syndikalistische Vorstellungen wieder auf. Dabei tritt wieder einmal der so häufige Funktionswechsel der Ideologie zutage: in Russland hatte sich das Rätesystem ursprünglich als Ersatz für die völlig fehlenden Arbeiterorganisationen spontan herausgebildet, um schließlich zu einem rein politischen Herrschaftsinstrument einer oligarchisch organisierten Partei zu werden. In Deutschland dachte man daraus das Mittel zu machen, um die gespaltenen Arbeiterparteien und die durch die Kriegspolitik in ihrer Autorität erschütterten Gewerkschaften in der neuen Organisation zusammenzufassen zur Alleinherrschaft über Staat und Wirtschaft, während Rätegedanken im englischen Gildensozialismus zu einer neuen Form einer dem Staatssozialismus abgeneigten Wirtschaftsdemokratie umgedeutet wurden.
Es sind Denkrichtungen, die die Probleme von Staat und Wirtschaft, von politischer Partei und Interessenverbände aufwerfen und zugleich die bisherige Staatssouveränität in Zweifel ziehen, zugunsten einer Mitsouveränität der Wirtschaftsverbände.
Gegen Ende des Krieges ändert sich dies Verhältnis von Politik und Wirtschaft. Die Entscheidung über Zeitpunkt und Art des Kriegsausgangs, über Waffenstillstand und Friedensvertrag geben der zivilen Verwaltung und den Parteien ihre Bedeutung wieder. Die Macht keiner Klasse reicht aus, ihre Alleinherrschaft dauernd zu errichten oder die Machtverteilung der Klassen vor dem Kriege wiederherzustellen. Das gesteigerte Machtbewusstsein der Massen verhilft im Zusammenbruch der besiegten Staaten der Demokratie als einzig möglicher Daseinsform des Staates zum Durchbruch und stärkt sie in den wichtigsten Siegerstaaten.
Da Deutschland hatte sich sozialistische Politik in einem halbabsolutistischen, undemokratischen Staate entwickelt, hatte sich die Praxis der größten demokratischen Partei gleichsam im politisch luftverdünnten Raum herausgebildet. Die Massen standen einem starren, unnachgiebigen, parlamentarisch gerade in allen entscheidenden Dingen kaum beeinflussbaren System gegenüber. Nicht Änderung, die kaum möglich schien, sondern Beseitigung dieser Staatsform, die zugleich der Staat an sich schien, musste so naturgemäß sich als politisches Endziel ergeben. Und diese Identifizierung zwischen Staatsform und Staat lag umso näher, da die herrschende Staatstheorie den Staat unabhängig von seiner Form, absolutiert, ihn zu einer Art metaphysischen Wesens mystifiziert hatte, das im Grunde von allem Wechsel der Politik unberührt blieb: der Staat war im Gegensatz zu der historisch wechselnden Gesellschaftsform etwas ewig Seiendes, im Wesen unveränderlich. Und dieser Staat erschien der deutschen Arbeiterbewegung als Hemmung und Hindernis auf all ihren Wegen. Die Kritik an der Staatsform musste so dazu führen, den Staat selbst zu negieren.
Dazu kam eine andere Erwägung. Der Staat ist Herrschaftsorganisation. Die Zwecke, denen die Staatsmacht dienstbar gemacht wird, werden bestimmt durch die den Staat beherrschende Klasse. Das Ziel des Sozialismus ist aber kein politisches, sondern das soziale der andersartigen Organisation der Wirtschaft. Dazu ist Politik nur Mittel. Der Staat als politische Organisation wird so selbst zum Mittel herabgesetzt, das nach Erreichung des sozialen Zieles nicht nur in einer bestimmten Form, sondern überhaupt irgendwie überflüssig wird.
Die Praxis der Arbeiterbewegung suchte unter dem Einfluss von Marx die Arbeiterklasse als politische Partei zu konstituieren; sie war überall die schärfste Bekämpferin der liberalen Staatsdoktrin und forderte Erweiterung der Staatsintervention auf die Wirtschaft. Die politische Aktivierung und Erziehung, damit aber die Anteilnahme der Massen an der Gestaltung der Staatspolitik, war ihr Werk. Die Theorie erschien trotzdem nicht als Widerspruch gegen die Praxis, da das „Absterben“ des Staates erst nach Vollendung der sozialen Umgestaltung vor sich gehen sollte.
Erst nach dem Kriege hat die deutsche und ein großer Teil der europäischen Arbeiterbewegung das große Erlebnis der Demokratie erfahren. Es musste infolge der Plötzlichkeit des Umschwungs umso stärker werden. Die Arbeiterschaft betrachtet die Republik als ihr Werk, sie ist Träger dieser Staatsform, die ohne ihre leidenschaftliche Unterstützung und Verteidigung unmöglich wäre. Das starre politische System von ehedem ist nun plastisch geworden, ihrer Einwirkung zugänglich. Zugleich mit der Steigerung des Machtbewusstseins ist der Arbeiterklasse die Möglichkeit gegeben, diese Macht auszuüben. Nicht der demokratische Staat kann ihr jetzt als Hindernis erscheinen, sondern soziale und davon abhängige geistige Einflüsse. Die Einstellung zum Staate ist daher auch eine andere. Das Bedürfnis nach einer umfassenden Staatstheorie ist geweckt.
Es wird gesteigert durch die sozialen Verschiebungen. Der Staat erscheint nicht mehr als fast die einzige bewusste gesellschaftliche Organisation der voneinander unabhängigen, vereinzelten Bürger, sondern diese sind jetzt in den Wirtschafts- und Interessenorganisationen zusammengefasst, nicht mehr staatsunmittelbar, sondern organisationshörig. Staatliche Rechtsform und reale Organisationsmacht stehen in Spannung gegeneinander. Das Machtzentrum des Staates erscheint eingeschränkt und bedroht durch die wirtschaftlichen Machtanhäufungen. Das Problem der Demokratie ist neu gestellt. Naturrechtliche Fiktionen, die noch immer fortleben, sind völlig unzulänglich geworden. Eine eingehende Funktionslehre des demokratischen Staates tut not, die den Zusammenhang und die Beziehungen zwischen allen politisch bestimmenden Faktoren analysiert und so mit dem Wesentlichen in der Politik das Wesen des Staates klarlegt.
Zu der Neugestaltung der ökonomischen und der innerpolitischen Beziehungen gesellt sich als drittes die Veränderung der Beziehungen der Staaten untereinander. Als imperialistischer Machtentscheid hat der Krieg zugunsten der angelsächsischen Welt geendet; der Schwerpunkt der europäischen Politik ist nach Westen gerückt. Politische Suprematie bedeutet aber zugleich geistige; der geistige und politische Habitus der Angelsachsen wird in Zukunft von größerem Einfluss sein als je. Das geistige Erbgut Englands ist aber ein anderes als das Deutschlands oder Frankreichs. Auch von da aus werden neue sozialpsychologische Wirkungen ausgehen.
Derselbe Kapitalismus, der in West- und Mitteleuropa den modernen Imperialismus erzeugt hat, hat im Osten Europas, in Asien und Nordafrika, in bisher geschichtslosen, fast rein bäuerlichen Nationen, die Klassen und Schichten der kapitalistischen Gesellschaft erzeugt, sie zum nationalen Befreiungskampf und dem Streben nach eigener nationaler Staatlichkeit gereift und sie in die kriegerische Auseinandersetzung der großen imperialistischen Staaten hineingeschleudert. In Krieg und Revolution sind so neue Nationalstaaten entstanden, ist in noch unterworfenen Kolonialländern, in Italien und Ägypten, der Kampf um nationale Freiheit erstarkt. Umfang und Inhalt der Politik haben neue Ausdehnung erfahren; aus europäisch-nordamerikanischer Politik ist Weltpolitik geworden.
Handelt es sich aber nur um quantitative Steigerung, um Vervielfachung schon bisher vorhandener politischer Probleme und mannigfaltigere Komplizierung oder ist qualitative Änderung der internationalen Beziehungen möglich? Fasst man die imperialistische Politik in ihrer historischen Bedingtheit als kapitalistische Expansionspolitik auf, die einer ganz bestimmten Phase der kapitalistischen und der durch diese bedingten staatlichen Politik entspringt, so entsteht die Frage, ob der Ausgang des Krieges nicht solcher Politik ein Ende gemacht oder sie nicht wenigstens entscheidend verändert hat. Imperialismus bedeutet das Streben der Großstaaten, die monopolistisch-organisatorischen Tendenzen ihrer Kapitalismen auf den Weltmarkt zugunsten der monopolistischen Vorherrschaft der eigenen Volkswirtschaft zu übertragen. Das Wechselspiel zwischen dem Erstarken der Wirtschaft und der auf Grund dieser Wirtschaftsentwicklung möglichen Steigerung der Machtmittel des Staates, die dieser gegen die anderen Staaten in den Dienst der Expansion seiner Volkswirtschaft stellte, musste schließlich zur kriegerischen Machtentscheidung führen oder hätte zum mindesten in diesem Stadium der Machtpolitik die Vermeidung des Krieges zum unwahrscheinlichen Glücksfall machen müssen. Aber der Krieg setzt stets ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte voraus, dass jeder Gruppe den Sieg als möglich erscheinen lässt. Die ungeheure Machtverschiebung nach dem Kriege wirkt gewaltsamer Revision des Kriegsausgangs ebenso entgegen, wie die wirtschaftliche Ungleichheit der Staaten und die ungeheure ökonomische Verderbnis, die ein Krieg bedeutet. Das Interesse der angelsächsischen Reiche, besonders des englischen, geht, viel mehr als nach neuer territorialer Expansion, nach Behauptung und Organisierung des Errungenen, umso mehr, da kriegerische und darauffolgende revolutionäre Erschütterungen die nationale Erhebung der Kolonialvölker und ihre Losreißen vom Mutterlande fördern. Mit diesen Interessen und Machtkonstellationen steht das Interesse der demokratischen, zu größerem Einfluss innerhalb des Staates gelangten Massen in Einklang. Bedeutet das die Umformung kapitalistischen Expansionsstrebens in der Richtung gemeinsamer Sicherung und Ausnutzung des Weltmarktes statt gewaltsamer Eroberung einzelner Teile? Führt dies zu einer Schwächung der kriegerischen Tendenzen und wird eine Politik möglich, die man als realistischen Pazifismus bezeichnen könnte? Bedeutet wirklich Kapitalismus Krieg, so dass nur mit seiner völligen Überwindung der Friede gesichert wäre, oder lassen sich nicht durch eine konsequente Politik, die die einzelstaatliche Souveränität zugunsten einer überstaatlichen Organisation einschränkt, neue Formen politischer Weltordnung schaffen? Ist nicht auch hier evolutionärer Entwicklung viel weiterer Spielraum gegeben, als bisher angenommen ward? Internationalität nicht als bloße Gesinnung und noch weniger in Negativität gegen das Nationale, sondern als politisch-praktische Aufgabe steht dann in Frage.
Wir haben versucht, den neuen sozialen Erfahrungskomplexen nachzuforschen und einzelne Probleme aufzuzeigen, die sich der Betrachtung aufdrängen. Wir sind uns der Unvollständigkeit des Versuches wohl bewusst: wir wollten nur einzelne Saiten anschlagen, in der Hoffnung, dass der Inhalt der Zeitschrift in ständigem Streben nach wissenschaftlicher Erfassung des ungeheuren Reichtums sozialen Lebens die Probleme vervollständigen, ihre Lösung untersuchen und so an dem Entstehen eines neuen sozialen Weltbildes mitschaffen werde. Freilich setzt unsere Arbeit die Neubelebung der Geisteswissenschaft voraus. Allzulange ist sie, nicht zuletzt in Deutschland, in Historismus erstarrt, dem neu erweckten Interesse an ihrer Methodologie ist die Bereicherung des Inhalts nicht in gleichem Maße gefolgt. Jetzt aber sind der neuen Probleme, der neuen Erfahrungen und der neuen Lösungsmöglichkeiten so viele, dass die Zeit nicht dem Historismus, sondern der wissenschaftlichen Durchdringung der Gegenwart gehört. Die Wissenschaft, sagt Ernst Mach, „entsteht immer durch einen Anpassungsprozess der Gedanken an ein bestimmtes Erfahrungsgebiet. Das Resultat des Prozesses sind die Gedankenelemente, welche das ganze Gebiet darzustellen vermögen. Das Resultat fällt natürlich verschieden aus. Erweitert sich das Erfahrungsgebiet oder vereinigen sich mehrere bisher getrennte Gebiete, so reichen die überkommenen geläufigen Gedankenelemente für das weitere Gebiet nicht mehr aus. Im Kampfe der erworbenen Gewohnheit mit dem Streben nach Anpassung entstehen die Probleme, welche mit der vollendeten Anpassung verschwinden, um anderen, die einstweilen auftauchten, Platz zu machen.“ Und an anderer Stelle der „Analyse der Empfindungen“ heißt es: „Die Wissenschaften können sich sowohl durch den Stoff unterscheiden, als auch durch die Art der Behandlung dieses Stoffes. Alle Wissenschaft geht aber darauf aus, Tatsachen in Gedanken darzustellen, entweder zu praktischen Zwecken oder zur Beseitigung des intellektuellen Unbehagens.“ Nie vielleicht hat sich unser soziales Erfahrungsgebiet schneller erweitert und deshalb reichen die überkommenen Gedankenelemente nicht mehr aus. Daher das „intellektuelle Unbehagen“, das zur Signatur unserer Zeit geworden ist.
Aber es handelt sich nicht nur um das intellektuelle Unbehagen im Sinne Machs, um die geistige Haltung der Träger der Wissenschaft, die sich um die Lösung neuer Probleme mühen, für die es das Vehikel des Fortschritts darstellt. Der Zustand der Geisteswissenschaft steigert für weite Kreise besonders auch für die Jugend – das intellektuelle Unbehagen zur intellektuellen Krise, zur Rebellion gegen den Intellekt und gegen die Wissenschaft. Auf dem Wege einer neuen Religiosität oder in gefühlsbetonter Romantik, die sich bewusst von der Realität abkehrt, sucht man nach einer Lösung. Die Krise wird noch gesteigert durch eine philosophische Strömung, die durch ihre intuitive Erkenntnis Lösungen verspricht, die die Wissenschaft versagt. Die psychologische Erklärung dieser Geisteshaltung mag unschwer in den Kriegswirkungen zu finden sein. Denn zu den Opfern des Krieges gehören nicht zuletzt auch gerade die bedeutsamsten politischen und sozialen Ideen und Ideale. Um die Anteilnahme der Massen an der Kriegführung lebendig zu erhalten, mussten alle die Massen bewegenden, ihr Sehnen erfüllenden Ideen in den Kriegsdienst eingestellt werden – das erfolgreiche Werk der Propaganda. Im Osten bei den geschichtslosen Nationen entsprach bei den meisten von ihnen der Kriegsausgang auch in der Tat den sie bewegenden Ideen der nationalen Befreiung und demokratischer Selbstbestimmung. Die Gewalt erschien ihnen im Dienst der Idee zu stehen. Ganz anders im Westen, wo der Krieg um den imperialistischen Machtentscheid geführt wurde, der Friedensschluss alle Ideen vergewaltigte, ganz besonders in dem Gefühl der Besiegten. Die Ideen waren hier der Gewalt unterworfen worden, schnöde verraten, sobald die Gewalt ihr materielles, ideenloses Ziel erreicht hatte. Daher die Verzweiflung an der Idee und darüber hinaus an der ganzen geistigen Entwicklung und an dem Ideengebäude, dass das 19. Jahrhundert aufgeführt hatte.
Aber die psychologische Erklärung, ausreichend oder nicht, ändert nichts an der Tatsache der Existenz einer geistigen Krise, die darin besteht, dass die Wissenschaft selbst, ihre Grenzen und ihre Bedeutung, für weite Kreise problematisch geworden ist. Das erkenntnis-theoretische Problem ist damit der Zeit wieder gestellt, die Philosophie tritt mit neuen Ansprüchen auf und sucht den Prozess, den sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verloren zu haben schien, zur Revision zu bringen.
Müssen wir erst sagen, dass unsere Zeitschrift in solcher Zeit nicht mit dem Anspruch auftreten kann noch will, ein fertiges System der Erkenntnis aus dem neuen ungeheuren Erfahrungskomplex heimzubringen? Erst aus dem Ringen um soziale Erkenntnis, für die die Zeitschrift eine Freistatt sein soll, wird sich einheitliche Auffassung, wird sich die Überlegenheit bestimmter Forschungsmethoden ergeben können, soweit solche Einheitlichkeit in der Sozialwissenschaft, in deren theoretische Erkenntnis die praktische Stellungnahme der kämpfenden sozialen Klassen hineingetragen wird, möglich ist.
Vernichtend und alles zermalmend war die Zeit, aber auch neue, gewaltige Kräfte entbindend. Verändert schauen wir eine veränderte Welt. Auch für uns ist das Wort des jungen Marx gesprochen: Es gilt, die Welt nicht nur anzuschauen, sondern zu verändern. Aber wir stehen in einer Zeit, in der die realen Änderungen schneller vor sich gegangen sind als die wissenschaftliche Erkenntnis. Deshalb: Anschauen und verändern!
Leztztes Update: 27. April 2025/p>