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Rudolf Hilferding, Arbeitsgemeinschaft der Klassen? Der Kampf, 8. Jg., Nr. 10, Oktober 1915,
S. 321–329.
Nachgedrückt in Cora Stephan (Hrsg.), Zwischen den Stühlen oder über die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis. Schriften Rudolf Hilferdings 1904 bis 1940, Berlin: Dietz, 1982, S. 63–76.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
In einer Fraktionssitzung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion beschließt die Mehrheit am 3. August 1914, der Kriegskreditvorlage der Reichsregierung zuzustimmen. Nach Ausbruch des Krieges akzeptieren Parteimehrheit und Gewerkschaften den „Burgfrieden“ mit der Regierung, zumal Reichskanzler Bethmann-Hollweg für die Zeit nach dem Krieg die Möglichkeit einer „neuen Orientierung“ in der Innenpolitik andeutet. Die Gewerkschaften verzichten freiwillig auf das Streikrecht, und die angesichts allgemeiner Preissteigerung von der Regierung festgesetzten Höchstpreise für die wichtigsten Lebensmittel werden mancherorts als „Kriegssozialismus“ gefeiert.
Der „Burgfrieden“ wird auch innerhalb der Partei durchgesetzt: Opposition ist jetzt eine Gefahr für die nationale Einheit geworden. Karl Liebknecht wird bereits im Dezember 1914 aus der Partei ausgeschlossen.
Die Vorwärts-Redakteure Heinrich Cunow, Karl Leid, Paul John, Ernst Däumig, Heinrich Strobel, Hans Weber, Alfred Scholz und Rudolf Hilferding verfassen am 4. August eine Erklärung (die während des Krieges nicht veröffentlicht wird), in der es heißt: Die Begründung der Fraktionsmehrheit für die Bewilligung öffne jeder weiteren Bewilligung Tür und Tor; die Zustimmung sei ein schwerer Schlag für die Internationale und bedeute eine „gewisse Mitverantwortlichkeit für den Krieg und die sich aus ihm ergebenden Folgen“. Diese kritische Haltung vertritt das Blatt, das von Parteivorstand und Parteiausschuß wegen mangelnder vaterländischer Haltung getadelt wird und das von der Generalkommission der Gewerkschaften zu Mäßigung und Zurückhaltung aufgefordert wird, bis am 9. November 1916 Friedrich Stampfer vom Parteivorstand zum Chefredakteur berufen wird. Die alten Redakteure werden gekündigt oder scheiden freiwillig aus.
Durch die Ereignisse nach dem August 1914 verschärft sich Hilferdings Kritik am Vorrang der Sozialpolitik und am Reformgeist in Partei und Gewerkschaften. Und in dieser Zeit wird auch sein Plädoyer immer drängender, die Demokratie im Kampf der Arbeiterorganisationen in den Vordergrund zu stellen. Die Alternative laute „Machtpolitik und Imperialismus oder Demokratie und Sozialismus“, „organisierter Kapitalismus“ oder „demokratischer Sozialismus“.
Er ist daher auch kein Freund der Imperialismustheorie Heinrich Cunows, der noch im August die Vorwärts-Erklärung mitunterzeichnete, aber spätestens im Oktober 1914 ein Befürworter des Krieges geworden ist. In seiner Schrift Partei-Zusammenbruch (März 1915) bezeichnete Cunow den Imperialismus als „eine in den inneren Lebensbedingungen und in der Kräftekonzentration des erstarkten Finanzkapitalismus wurzelnde Erscheinung“, als eine für den Sozialismus notwendige Phase, die nicht übersprungen werden dürfe. Wer den Imperialismus verhindern wolle, betreibe Maschinenstürmerei. Kampf für Deutschlands Sieg im Weltkrieg sei somit Kampf für den Sozialismus.
Auch Hilferding hält den Imperialismus für „notwendig“, aber nicht für „unabwendbar“ (Rudolf Hilferding, Historische Notwendigkeit und notwendige Politik, Der Kampf, 8. Jg., Nr. 5 vom 1. Mai 1915). Gegen Cunow sagt er, die Frage des Sozialismus sei „nicht eine Frage der abstrakten Expansionsmöglichkeiten des Kapitals“, „sondern eine Frage der politischen Macht des Proletariats“ (ebd., S. 211). „Zusammenbruchstheorien“ lehnt Hilferding ebenso ab wie deterministische Thesen über den naturnotwendigen Gang der Geschichte hin zum Sozialismus. Die Revolution bleibt bei Hilferding stets ein politischer Akt.
Seit April 1915 ist Hilferding wieder als Mediziner in Wien tätig. Ab 1916 dient er der österreichischen Armee als Arzt in einem Seuchenlazarett. Erst wenige Tage vor der Novemberrevolution kehrt er nach Berlin zurück.
Wenn noch jemand der Meinung sein sollte, der Krieg hätte den
alten Gegensätzen zwischen Opportunismus und Radikalismus
innerhalb der Arbeiterbewegung den Boden entzogen, so könnten
ihn die Tatsachen längst eines Besseren belehrt haben. Ist es
doch in Wirklichkeit genau umgekehrt. Gerade in der letzten Zeit vor
dem Krieg konnte es scheinen, als würde die Eindeutigkeit der
sozialen und politischen Entwicklung diese Gegensätze, die
stets, wenn auch unter wechselnden Formen in der Arbeiterbewegung
aller Länder lebendig waren, immer mehr abstumpfen. Der Krieg
hat diese Situation vom Grund aus geändert. Freilich nicht in
dem Sinne, dass er dauernd die sozialen Gegensätze innerhalb der
bestehenden Gesellschaft mildern wird diese Illusionen wird die Zeit
nach dem Krieg schon zerstören wohl aber, indem der Krieg der
opportunistischen Ideologie zu einem ungeahnten Sieg verholten hat,
so dass die Arbeiterbewegung heute überall unter der Diktatur
der Rechten innerhalb der Partei steht. Und es ist nur natürlich,
dass die günstige Gelegenheit von diesen Politikern ausgenützt
wird, die schon vor dem Krieg die Parteitaktik zu ändern
bestrebt waren und eine Politik befürworteten, die in ihren
Konsequenzen führen müsste zur Umwandlung einer
grundsätzlich revolutionären Bewegung, deren Ziel die
völlige Neugestaltung der Gesellschaft war, in eine
reformistische, deren Aufgabe die Anpassung der Arbeiterbewegung an
die kapitalistische Gesellschaft, die grundsätzliche Anerkennung
der bestehenden Gewalten, insbesondere der heutigen Staatsmacht, kurz
die Einordnung auch der Arbeiterklasse in die bestehende
gesellschaftliche und staatliche Ordnung wäre. Wer diesen
Gegensatz leugnet und vorgibt, dass die Politik während des
Krieges nur eine vorübergehende Episode sei, die mit dem Krieg
wieder überwunden würde, so dass der Rückkehr zur
alten Taktik nichts im Wege stünde, täuscht sich selbst
oder will andere über die Größe und Bedeutung des
Gegensatzes täuschen. Denn die Stellung zum Krieg ist, da es
sich eben dabei um eine Entscheidung von welthistorischer Wichtigkeit
und Wirkung handelt, geradezu der Prüfstein für die
geistige Widerstandskraft der sozialdemokratischen Überzeugung
gegenüber der herrschenden Ideologie und das Maß für
die geistige Selbständigkeit der Arbeiterklasse, die die
Voraussetzung für ihre politische und soziale Emanzipation
bildet. Dann aber ist der Sieg der opportunistischen Ideologie
deshalb eine Gefahr für die Zukunft der Arbeiterbewegung, weil
dadurch gewisse Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung
unterstützt werden, die der Verwirklichung des Sozialismus im
Wege stehen.
Die soziale Entwicklung hat sich in allem Wesentlichen in jenen Formen vollzogen, die der Seherblick des Genies schon im Kommunistischen Manifest vorausgeschaut, deren Notwendigkeit dann im Kapital bewiesen worden ist. Aber die sozialpsychologische Wirkung dieser Entwicklung auf das Verhalten der Arbeiterklasse konnte – eben weil es die subjektivistische, also nicht leicht eindeutig zu erkennende Widerspiegelung objektiver Tendenzen ist – nicht mit gleicher Schärfe erkannt werden. Marx sah und konnte zu seiner Zeit gar nichts anderes sehen, als vor allem die revolutionierenden Tendenzen des Kapitalismus. Was er unterschätzt hat (und wir Späteren noch lange mit ihm), das sind die Anpassungen, die gerade der Kampf der Arbeiterklasse, die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Bewegung in der kapitalistischen Gesellschaft erzeugt haben. Die geistige, moralische und materielle Hebung, die die Arbeiterbewegung der unterdrückten, in tiefstem Elend dahinvegetierenden Klasse gebracht hat, die Erhebung des Arbeiters aus dem „sprechenden Werkzeug“ zum Menschen hat den Kapitalismus für die Arbeiterschaft zugleich erträglicher, diesen selbst erst so recht existenzfähig gemacht. Sie hat die Arbeiterschaft als solche geistig und physisch gekräftigt, sie kampffähiger und selbstbewusster als je eine unterdrückte Klasse gemacht, aber zugleich den unmittelbaren revolutionären Antrieb, die völlige Unerträglichkeit einer lebensunwürdigen Existenz gemildert. Aus dem Kapitalismus des Kindermords und Hungertodes hat die Arbeiterbewegung in unablässigen politischen und gewerkschaftlichen Kämpfen einen Kapitalismus gemacht, dem die Verwirklichung seiner schlimmsten Verelendungstendenzen unmöglich wurde, und sie hat ihn so vor einer Revolution verzweifelter (aber auch tiefstehender und unkultivierter) Massen bewahrt. Um es paradox zu sagen: die konterrevolutionären Wirkungen der Arbeiterbewegung haben die revolutionären Tendenzen des Kapitalismus geschwächt.
Die neueste Phase der hochkapitalistischen Entwicklung erzeugt aus sich heraus noch andere konservierende Tendenzen. Die rapide Entwicklung des Weltkapitalismus seit der Mitte der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts hat die Depressionsperioden verkürzt, die chronische Arbeitslosigkeit gemildert. Die entwickeltsten Länder des Kapitalismus – Deutschland und die Vereinigten Staaten – kennen seit dieser Zeit keine industrielle Reservearmee im alten Sinn, sie bedürfen für Landwirtschaft und Industrie fortwährend der Zufuhr fremder Arbeitskräfte, auf denen denn auch in erster Linie der Druck der Krisen lastet. Das Finanzkapital – die Beherrschung der monopolistisch organisierten Industrie durch die kleine Zahl der Großbanken – hat die Tendenz, die Anarchie der Produktion zu mildern und enthält Keime zu einer Umwandlung der anarchisch-kapitalistischen in eine organisiert-kapitalistische Wirtschaftsordnung. Die ungeheure Stärkung der Staatsmacht, die das Finanzkapital und seine Politik erzeugt hat, wirkt in derselben Richtung. An Stelle des Sieges des Sozialismus erscheint eine Gesellschaft zwar organisierter, aber herrschaftlich, nicht demokratisch organisierter Wirtschaft möglich, an deren Spitze die vereinigten Mächte der kapitalistischen Monopole und des Staates stünden, unter denen die arbeitenden Massen in hierarchischer Gliederung als Beamte der Produktion tätig wären. An Stelle der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft durch den Sozialismus träte die den unmittelbaren materiellen Bedürfnissen der Massen besser als bisher angepasste Gesellschaft eines organisierten Kapitalismus.
Und die Kriegsereignisse können – wenn man von der demokratisch-proletarischen Gegenwirkung absieht – diese Tendenzen nur verstärken. Was man Kriegssozialismus nennt – und was in Wirklichkeit nur eine ungeheure Verstärkung des Kapitalismus durch die Macht seiner Organisierung ist – wirkt in dieser Richtung. Und die gleichfalls durch den Krieg in ihrer Macht und vor allem in ihrem Selbstbewusstsein ungeheuer gesteigerte Staatsgewalt wird schon aus finanziellen Gründen (Staatsmonopole!) diese Tendenzen fördern.
Und nun sehen wir in der Führung der Arbeiterklasse eine Ideologie erstehen, die gleichfalls eine solche Entwicklung fördern müsste. Es wird der Arbeiterklasse eine Gemeinsamkeit ihrer Interessen mit denen der herrschenden Schichten, insbesondere aber mit denen des Staates gepredigt. Es tritt – vor allem unter dem übermächtigen Eindruck der ungeheuren Stärke der Staatsmacht – der Gedanke des Gegensatzes zwischen imperialistischer Machtpolitik und demokratischer Umgestaltung der gesamten inneren und äußeren Politik zurück hinter der Hoffnung auf Befriedigung der unmittelbaren materiellen Interessen durch sozialreformerische Maßnahmen. Mit anderen Worten: der Kampf für die Demokratie tritt zurück und ihre Durchsetzung scheint wie die des Sozialismus selbst aufzuhören, ein unmittelbar praktisches Ziel proletarischer Politik zu sein. Und dies in einer Zeit, wo die grundlegende Bedeutung der Demokratie gegenüber der herrschenden Machtpolitik als Bedingung des Friedens zwischen den Völkern nicht nur, sondern auch für die Aufrechterhaltung und Wiedererrichtung der Internationale augenscheinlicher hervortritt als je zuvor und die Frage der Demokratie umso brennender wird, als von ihrer Lösung unmittelbar die andere abhängt, ob die Zukunft dem organisierten Staatskapitalismus oder dem demokratischen Sozialismus gehören wird. Man stellt die Demokratie zurück und die Sozialpolitik in den Vordergrund, da man erwartet, dass diese Befriedigung unmittelbarer materieller Interessen des proletarischen täglichen Lebens auf geringeren Widerstand stoßen werde, da sie ja prinzipiell an dem Gefüge der heutigen Gesellschaft und den Machtverhältnissen der Klassen unmittelbar nichts ändert. Und kein Zweifel kann bestehen, dass diese Politik der Resignation oder einer falsch verstandenen Interessenharmonie auch in der deutschen Arbeiterklasse ihre Unterstützung findet.
Stehen aber die Dinge nun einmal so, dann ist die Auseinandersetzung mit dieser Politik die dringendste Aufgabe, die innerhalb der Partei zu leisten ist, und diejenigen erweisen der Arbeiterklasse einen schlechten Dienst, die die Austragung dieses ernstesten, historisch wichtigsten Konfliktes, der seit Beginn der Arbeiterbewegung aufgetreten ist, hindern und einschränken wollen oder die Diskussion von vornherein vergiften durch jene unsachlichen, bis zu Reichsverbandsmethoden sich verirrenden Verdächtigungen der Motive.
Dabei wäre es freilich unmarxistisch gedacht, wenn man sich etwa einbildete, nur durch theoretische Argumente oder durch Appell an die demokratische Überzeugung eine Entscheidung herbeiführen zu können. Wir wissen, wie die bürgerliche Demokratie und der Liberalismus in Deutschland nach der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Bourgeoisie zugrunde gegangen ist. Wenn wir die Hoffnung hegen, dass es uns gelingen wird, die proletarische Demokratie vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, so stützt sich diese Hoffnung nicht auf die Überlegenheit unserer Argumente, nicht auf die Leidenschaft unserer Überzeugung von der Notwendigkeit der Demokratie, die heute heißer als je in uns lodert, sondern vor allem in der Einsicht, dass gerade durch die Wirkungen des Krieges wieder Tendenzen (die wir momentan allerdings nicht aufzeigen dürfen) entstehen, die die Arbeiterklasse überzeugen werden, dass die prinzipielle Politik und Taktik, die wir vertreten, allein ihren wahren und dauernden Interessen entspricht.
Vertritt also der sozialistische Opportunismus, was immer sich
seine mehr oder weniger konsequenten Vertreter einbilden mögen
und ganz unabhängig von ihrem Bewusstsein, alle
kapitalistisch-konservierenden Bestrebungen, alles, was auf Anpassung
der Arbeiterklasse an den Kapitalismus und zur Anpassung des
Kapitalismus an die unmittelbaren elementaren materiellen Interessen
der Arbeiterschaft gerichtet ist, so fällt uns Marxisten wieder
die Funktion zu, die Marx uns im Kommunistischen Manifest gestellt
hat: gegenüber den momentanen Interessen des Proletariats die
dauernden zu vertreten, das vorwärtstreibende Element der
Arbeiterbewegung zu sein. Und wir zweifeln nicht daran, dass die
Entscheidung der Massen schließlich für uns und damit für
den demokratischen Sozialismus fallen wird, weil wir nichts anderes
vertreten – es wäre Heuchelei, nicht zu sagen, was unser
Stolz und unser Trotz auch nach den niederdrückendsten
Erfahrungen geblieben ist – als das theoretische Bewusstsein
ihrer wahren Interessen, die Erkenntnis der geschichtlichen
Notwendigkeit und der welthistorischen Sendung der Arbeiterklasse.
Die Größe des Gegensatzes, der zwischen der opportunistischen und der prinzipiellen Auffassung der nächsten Aufgaben sowohl als des Geistes der proletarischen Politik überhaupt besteht, kommt uns so recht zum Bewusstsein, wenn wir jene eigentümliche literarische Erscheinung betrachten, in der zehn Professoren und zehn Sozialdemokraten über Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland schreiben. Die Schrift ist so eine Art literarischer Vorbote der künftigen Kooperation der Klassen. Die Herausgeber, Dr. Friedrich Thimme, Bibliothekdirektor des preußischen Herrenhauses, und Genosse Karl Legien, Vorsitzender der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, sagen in ihrem Vorwort:
„Immer wieder ist in dieser Zeit der Wunsch ausgesprochen worden, dass es gelingen möge, die Einheit und Einigkeit des ganzen deutschen Volkes, die sich im Weltensturm so herrlich offenbart hat, aus der Kriegsnot hinüberzuretten in die Zeit des künftigen Friedens. Aber auch der Zweifel ist laut geworden, ob eine solche fortdauernde Einheit des Volkstums bei den vielfachen wirtschaftlichen und sozialen Gegensätzen, den Unterschieden der Klassen und der Parteien, vor allem auch der tiefen Kluft zwischen den bürgerlichen Klassen und der Sozialdemokratie überhaupt möglich sei. Über Hoffnung und Zweifel wird letzten Endes erst die Zukunft entscheiden können. Aber nichts kann wichtiger sein, als sich heute schon über die Möglichkeit und die Bedingungen einer geistigen Arbeitsgemeinschaft zwischen der bürgerlichen und sozialistischen Geisteswelt klar zu werden. Dieser Erkenntnis verdankt die vorliegende Schrift ihre Entstehung.“
Freilich, von den Mitarbeitern hat keiner von dem anderen etwas gewusst.
„Es ist selbstverständlich, dass die einzelnen Mitarbeiter, die von den Aufsätzen der anderen durchweg keine Kenntnis hatten, nur für die eigenen Artikel verantwortlich sind; auch die beiden Herausgeber wollen und können nicht für alles einstehen, was von der einen oder anderen Seite gesagt ist. Sie haben, soweit es sich um Meinungen und Anschauungen in den Artikeln handelt, den Verfassern völlig freie Hand gelassen und nur darauf gehalten, dass die Polemik gegen andere Parteien oder einzelne Personen möglichst vermieden ist.“
Nun wird man freilich diese Ablehnung der Verantwortung durchaus nicht wörtlich zu nehmen haben. Wenn Männer, deren Namen in der Arbeiterbewegung Klang haben, ein literarisches Unternehmen durch ihre Mitarbeiterschaft unterstützen und dadurch sicher für seine Verbreitung wirken, so tragen sie eben für das Ganze die Verantwortung und es ist ihr Privatleichtsinn, wenn sie sich vorher nicht vergewisserten, wofür sie ihre Unterstützung eingesetzt haben. Aber diese Verantwortung ist ja leicht zu tragen, denn die Herausgeber sind von dem Erfolg sehr befriedigt. Im Ganzen, so sagt Herr Dr. Thimme und so sagt Genosse Legien im Vorwort, „ergibt doch, dem Eindruck wird sich niemand entziehen, die zum ersten Mal in solchem Umfang versuchte Arbeitsgemeinschaft zwischen bürgerlichen und sozialistischen Schriftstellern ein solches Maß gegenseitigen Verständnisses, bei aller natürlichen Verschiedenheit der Auffassungen, dass die Hoffnungen auf ein gemeinsames, gedeihliches Zusammenwirken im und am neuen Deutschland nur neu belebt werden können“.
Versuchen wir also gleichfalls zu solchem Verständnis zu
gelangen. Die Deutschen haben bekanntlich ihre bürgerliche
Revolution nicht wie die Engländer und die Franzosen in der
Wirklichkeit, sondern in der Philosophie gemacht. Es entspricht also
nur unserer ganzen bisherigen Geschichte, wenn jetzt der
sozialistische Reformismus, nicht wie in Frankreich und England
Minister in die Regierung sendet, sondern, zum Anfang wenigstens, mit
Professoren zusammen ein Buch produziert. Dass es Professoren sind
und nicht bürgerliche Politiker, vermindert freilich den Wert
der Arbeitsgemeinschaft. Denn eigentlich sollte man meinen, dass
Professoren ihre Leistungen in ihrer spezifischen Wissenschaft,
unsere Genossen aber in der Politik zu vollbringen hätten, und
jene Arbeitsgemeinschaft erschiene uns verständlicher, wenn
nicht bürgerliche Gelehrte, sondern bürgerliche Politiker
das gemeinsame Arbeitsgebiet abgesteckt hätten. Man wüsste
eher, wie und wo, wenn statt der Professoren die Herren Heydebrand,
Zedlitz, Spahn und Bassermann das sie mit der Sozialdemokratie
Verbindende aufzeigten. Denn was immer die Ansichten der Gelehrten
auf dem Gebiet der Politik auch sind, sie haben jedenfalls den
Nachteil, dass sie in der harten Welt der politischen Tatsachen nicht
allzu sehr ins Gewicht fallen. Dafür haben sie freilich den
Vorzug eines Standpunktes, der über den gewöhnlicher
Politiker ziemlich erhaben ist. „Man weiß es ja“,
sagte schon Börne, „wie himmlisch wohl es allen deutschen
Gelehrten auf sehr hohem Standpunkt ist; denn dort oben in den Wolken
gibt es keine Polizei.“ Und wenn auch die boshafte Begründung
Börnes heute sicher nicht mehr zutrifft, die Polizei vielmehr
längst zu dem hohen Standpunkt der Professoren sich erhoben hat,
und somit allgegenwärtig geworden ist, so bliebe eine
Arbeitsgemeinschaft, die nur die Zustimmung der Professoren fände,
ganz in den Wolken, wenn die Professoren nicht doch und gerade in dem
Hauptpunkt eine recht reale Politik vertreten würden; in diesem
Punkt sind sie sicher die Wortführer auch der bürgerlichen
Politik und deshalb verdient die Schrift politische Beachtung.
Was ist nun dieser springende Punkt, was ist es, das als Gemeinsames sich durch alle Beiträge der bürgerlichen Gelehrten zieht? Was erfüllt sie mit jenem Glücksgefühl, von dem der Historiker an der Berliner Universität, Professor Meinecke, so begeistert spricht? Es ist der Glaube, dass die Sozialdemokratie, wie es Professor Oncken ausdrückt, die Erkenntnis nie wieder werde verlieren können, dass die Macht des deutschen Arbeiters gebunden sei an die Macht des deutschen Staates. In einer Verbindung der historischen autoritären Gewalten des Staates mit den Tendenzen und Bedürfnissen der breiten Massen lag gerade in Deutschland, meint Oncken, „aller Fortschritt der Klassen begriffen und der weiteren Verwirklichung dieses Problems wird auch die Zukunft gehören. Die Staatsidee wird dann auch in der Sozialdemokratie die antistaatliche Denkweise und die internationale Orientierung des reinen Marxismus überwinden“.
Was das bedeutet, erkennt man am besten aus den Ausführungen des Berliner Staatsrechtslehrers Anschütz, der am konkretesten zu den politischen Problemen Stellung nimmt.
Der Staat der kapitalistischen Gesellschaft ist vor allem Herrschaftsorganisation nach innen, Machtorganisation nach außen. Das Ideal des demokratischen Sozialismus ist es, den Staat um zu wandeln in die Selbstverwaltung der klassenlosen, ihre Produktion mit Bewusstsein im Interesse und nach den Bedürfnissen aller ihrer Angehörigen regelnden Gesellschaft. Die Aufhebung des Klassengegensatzes beseitigt auch den kapitalistischen Interessenkonflikten entspringenden Gegensatz der Staaten und macht so auch die Machtorganisation überflüssig. Der Krieg hat diesen Gegensatz zwischen der herrschenden Machtpolitik, der er unmittelbar entsprungen, und der Politik der Demokratie als das eigentliche politische Problem den Völkern gestellt.
Und nun sehen wir zu, welche Stellung die Professoren zu diesem Problem einnehmen. Professor Anschütz schreibt gleich zu Beginn seines Aufsatzes Gedanken über künftige Staatsreformen:
„Wer heute über die Zukunftsaufgaben unserer inneren Politik, über die Richtlinien und Zielpunkte deutscher Staatsreform nachdenkt, der muss beginnen mit dem unumwundenen Bekenntnis zu der obersten aller Staatsnotwendigkeiten, zu den Machtmitteln, die unser Vaterland braucht, um seine Unabhängigkeit und Stärke, um sein Ansehen und seine Bedeutung in der Welt aufrechtzuerhalten. Hierin wollen wir einig sein wie jetzt im Krieg, wollen wir einig bleiben allezeit auch nach dem Krieg. Hier wollen wir keine Neuorientierung1, sondern ein einfaches Festhalten an dem großen Grundgedanken: Das Vaterland über alles, ihm alle Macht und alle Mittel, die notwendig sind, um es zu erhalten, um es zu erhöhen. Wer dieses Bekenntnisses nicht fähig ist, dem können wir das Recht nicht zugestehen, über weiteres mitzureden, denn über Ausbau und Verbesserung eines Hauses kann man sich nur mit dem beratschlagen, der das Haus stehen lassen, nicht mit dem, der es einreißen, der es zerstören will.
Sprechen wir es mit aller Entschiedenheit und Entschlossenheit aus: Die Sorge für die stärkste aller staatlichen Gewalten, für die bewaffnete Macht, für Heer und Flotte muss auch weiterhin, sie muss und wird künftig mehr denn je im Mittelpunkt unseres inneren Staatsprogramms stehen. Scheuen wir das Schlagwort nicht, dass jeder, der diese Gedanken mitdenkt, jetzt auf sich zukommen fühlt, bekennen wir uns frank und frei zu dem von unseren Feinden und – täuschen wir uns nicht! – auch von dem größten Teil der noch neutralen Welt tödlich gehassten, verleumdeten, verlästerten Militarismus. Er gehört zu den gestaltenden Faktoren unseres Staatswesens, er ist uns eine Lebensnotwendigkeit in jedem Sinne. Halten wir an ihm fest! Und das Wort Militarismus, das in der weiten Welt (und nicht zumindest von denen, die noch militärischer sind als wir oder es doch sein möchten) als Schimpf- und Ekelwort über uns verbreitet wird, es sei uns ein Ehrenzeichen! ...
„Wir müssen, zu Lande und zur See, militärisch stark bleiben und immer noch stärker werden, stärker als irgendein Volk von gleicher Größe ... Die Wehrkraft unseres Volkes wird künftighin, aller Voraussicht nach, noch stärker angespannt werden als vor dem Krieg, sie wird angespannt werden müssen bis zur vollen Ausnutzung aller im Volk vorhandenen militärischen Kräfte und Fähigkeiten. Das bedeutet vor allem die volle, restlose Verwirklichung des Grundsatzes der allgemeinen Wehrpflicht, der bisher, aller Beschönigung zum Trotz, zu einem guten Teil nur auf dem Papier stand ... Mit der Verstärkung des Heeres wird die der Seestreitkräfte gleichen Schritt halten müssen. Bei dem jetzigen Flottengesetz kann es nicht bleiben; die Erfahrungen des Krieges erfordern ein neues Flottenprogramm ...“
Dieses begeisterte Bekenntnis zur herrschenden Machtpolitik, diese vorbehaltlose Bejahung imperialistischer Einstellung der Staatsmacht ist wie für Anschütz, so auch für die übrigen Professoren selbstverständliche Voraussetzung aller übrigen Reformtätigkeit und es ist charakteristisch, wie schon Herr Anschütz alle, die diese Voraussetzung, die bisher ja nicht die der Sozialdemokratie gewesen ist, nicht gelten lassen, als neue Reichsfeinde in Acht und Bann tun möchte, die über den Neubau nicht mitzureden hätten, als wackerer Ideologe der bereits einsetzenden Praxis, die braven Sozialdemokraten als Schöffen, Stadtverordnete, Reserveoffiziere, ja als Privatdozenten zu bestätigen, die schlimmen aber ins Gefängnis zu stecken.
Wir aber begnügen uns zunächst mit der Feststellung, dass die hier inaugurierte Arbeitsgemeinschaft von der einen Seite dahin aufgefasst wird, dass an den prinzipiellen Grundlagen der herrschenden Politik nichts Wesentliches geändert werden soll und wollen nun sehen, was sonst an Reformen ins Auge gefasst wird. Herr Anschütz entwirft ein ganzes Staatsprogramm, das den Partikularismus, besonders den preußischen, zurückdrängen und den Reichsgedanken stärken soll. Das Programm sieht so aus:
„Die Reichsleitung muss die einzige, muss die Reichsregierung werden. Eine im Kaiser gipfelnde, durch dessen Minister, den Reichskanzler und die Staatssekretäre (deren Verantwortlichkeit gegenüber dem Reichstag schärfer zu betonen und durch geeignete Einrichtungen auszubauen wäre) tätige Reichsregierung, auf welche die jetzt vom Bundesrat ausgeübten Regierungsgewalten übergehen. Der Bundesrat wird aus einem regierenden zu einem parlamentarischen Faktor, zu einem neben den Reichstag tretenden – einflussreichen – Reichsoberhaus, welches zugleich die Funktionen eines Staatsrates versieht. Hierdurch wird der Kaiser wahrhaft erst zu dem, wozu ihm jetzt noch manches fehlt: zum monarchischen Oberhaupt des Reiches, des ganzen deutschen Volkes. Diese Erhöhung des Kaisertums liegt sicherlich im Sinne der überwiegenden Mehrheit des Volkes – ganz gewiss dann, wenn man, wie soeben gefordert, in der ministeriellen Organisation der kaiserlichen Regierung und ihrem Verhältnis zum Parlament die Grundsätze des Konstitutionalismus streng zur Geltung bringt ... Ein deutsches Kaisertum, so echt monarchisch wie ehrlich konstitutionell, das sei das Ziel der Zukunft. Es ist der Traum unserer Väter, derer, die in den Jahren 1848 und 1849 der deutschen Einheit und Freiheit eine erste Bahn brachen, der Plan der Frankfurter Nationalversammlung: das Kaisertum auf demokratischer Grundlage und mit demokratischen Einrichtungen.“
Zur Erreichung dieses Zieles ist auch die Reform des preußischen Wahlrechtes nötig. Das Ideal wäre die Ausdehnung des Reichstagswahlrechtes auf Preußen. Lässt es sich nicht auf einmal erreichen, so wird man sich, sagt Professor Anschütz, mit Teilreformen begnügen dürfen. Das erste und mindeste wäre die Einführung der direkten und geheimen Wahl. Dann käme „ein Plural- oder Mehrstimmenrecht (welches aber nicht lediglich als Bevorrechtung der Besitzenden auszugestalten wäre) oder schlimmstenfalls eine anderweite, demokratischere Abgrenzung der als solche beizubehaltenden Wählerabteilungen“ in Betracht. Ein Übergewicht der Sozialdemokratie braucht nicht befürchtet werden. Denn: „Ist etwa der Wille des Abgeordnetenhauses in Preußen Gesetz und nicht vielmehr erst das, was auch noch die Zustimmung des Herrenhauses und der Staatsregierung gefunden hat?“ Und in der Tat, selbst wenn der Plan eines anderen Professors verwirklicht, in die Herrenhäuser auch Arbeiter berufen würden, diese Kammern blieben sicher von allzu großem sozialdemokratischen Einfluss bewahrt.
Erhöhung des Kaisertums, Verwandlung des Einkammersystems in ein Zweikammersystem im Reich, Pluralwahlrecht in Preußen – es ist alles da, der besonnene Fortschritt kann beginnen, die Träume von 1848 in einiger Zeit in die wiederholt in Aussicht gestellte Erfüllung gehen – und zugleich ist die Grundlage für die Arbeitsgemeinschaft der Klassen gewonnen. Mein Herz, was willst du noch mehr?
Doch auch für das Mehr ist gesorgt. Unter den mitarbeitenden Professoren ist eine Anzahl jener Kathedersozialisten, die auch schon vor dem Krieg für Sozialreformen eingetreten sind. Sie sehen mit Recht in den Kriegserfahrungen einen neuen Beweis für die Nützlichkeit der Sozialreform gerade auch für die staatlichen Machtzwecke. Sie treten daher in ihren Aufsätzen für Fortführung und Ausbau der Sozialreform ein, wobei man freilich manches schärfer präzisiert wünschen könnte und namentlich die Forderung gesetzlicher Verkürzung der Arbeitszeit vermisst. Sie erwarten, dass die Haltung der Sozialdemokratie, und namentlich der Gewerkschaften, die Widerstände der Staatsgewalt gegen die Sozialpolitik und die Bewegungsfreiheit der Arbeiterverbände beseitigen werde. Einzelne von ihnen gehen noch einen Schritt weiter und sehen in den Tendenzen zum Staatskapitalismus ein begrüßenswertes Kompromiss zwischen individualistisch-bürgerlichen und sozialistisch-proletarischen Prinzipien. Sie sehen mit Vertrauen der positiven Mitarbeit der Arbeiterschaft auf all diesen wirtschaftlichen Betätigungsfeldern entgegen und fordern dafür die Gleichberechtigung der Arbeiter in Politik und Verwaltung. Jaffe erblickt sogar in dieser rein wirtschaftlichen Betätigungsrichtung der Arbeiterklasse ein Moment, das sie von der angeblichen Überschätzung der politischen Tätigkeit abbringen werde, eine Auffassung, die deshalb uns sehr charakteristisch erscheint, weil sie zeigt, wie sehr die politischen Prinzipienfragen, deren Entscheidung uns die Hauptsache ist, für die bürgerlichen Verfasser mit dem Sieg der Staatsmacht, wie er sich während des Krieges gezeigt hat, eigentlich als schon entschieden gelten.
Im Grunde ist es die alte Lehre von dem sozialen Königtum der
Hohenzollern, die uns hier in etwas unpersönlicherer Fassung
entgegentritt, entkleidet der polemischen Form gegen die
Sozialdemokratie, von der man jetzt nicht mehr die Ablehnung dieses
Standpunktes erwartet. Nach Anerkennung der bestehenden
Staatseinrichtungen eröffnet sich so zwischen Sozialdemokraten
und Professoren auf dem Gebiet der Sozialreform die
„Arbeitsgemeinschaft im neuen Deutschland“. Und gewiss
wird man dieses Eintreten der Professoren für politische
Gleichberechtigung und soziale Reformen gerne begrüßen,
wenn man auch ihren Einfluss auf die führenden kapitalistischen
Schichten und deren politische Vertreter sicher nicht zu hoch
einschätzen darf.
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Wie steht es aber nun in diesem Buche mit der Vertretung der sozialdemokratischen Weltanschauung, für die ja zehn Mitarbeiter berufen waren? Davon zu sprechen ist Verlegenheit. Zehn Sozialisten und kein Wort von Sozialismus, zehn Demokraten und kein Wort von Demokratie! Oder nein, das Wort ist wohl manchmal gefallen, aber vom Geiste fehlt die Spur. Nicht dass etwa unsere Wortführer etwas gegen unser Programm oder unsere Parteianschauungen sagten. Die Forderungen, die wir an die staatliche Sozialpolitik oder an die Gemeinden zu stellen haben, werden ausführlich und mit gewohnter Fachkenntnis erörtert, die politische Gleichberechtigung in Reich und Staat als Erfüllung einer Selbstverständlichkeit behandelt. Darüber hinaus wird die Leistung, die die Sozialdemokratie für die Kriegführung vollbracht hat, ausführlich und mit Genugtuung geschildert. So schreibt Genosse Noske:
„Die deutsche Sozialdemokratie fügte sich nicht nur dem harten Muss. Total falsch ist die einmal aufgestellte Behauptung, sie habe, um die politischen Vereine, die Zeitungen, die Millionenwerte darstellen und Tausende von Angestellten beschäftigen, zu retten und um die gewerkschaftlichen Organisationen vor Nachteilen zu bewahren, mit innerem Widerstreben gute Miene zum bösen Spiel gemacht, als sie den Kriegsausgaben zustimmte. Es wurde vielmehr aus ehrlichster Überzeugung jede Beeinträchtigung deutscher Interessen vermieden und mit restloser Hingabe von Kraft, Gut und Blut versucht, nach Möglichkeit Volk und Vaterland vor Schaden zu bewahren.“
Und weiter:
„Aus fester Überzeugung hat der größte Teil der sozialdemokratischen Zeitungen sich entschieden die Betonung der Gerechtigkeit des von Deutschland geführten Kampfes, als unserem Volke aufgezwungen, zur Aufgabe gemacht. Mehr wie eine Million sozialdemokratischer Blätter gehen täglich ins Land hinaus. Viele tausend Exemplare gelangen in die Schützengräben und an die Kampffront. Eines besonders großen Vertrauens erfreut sich die sozialdemokratische Presse bei ihren Lesern. Befestigung des Zutrauens zur Sache unseres Vaterlandes, Weckung des Verständnisses für die unabwendbaren wirtschaftlichen Schäden, die der Krieg im Gefolge hat, die Beschwichtigung des jeden Tag von neuem keimenden Unwillens über die Teuerung, Erhaltung höchster Opferbereitschaft bei den Kämpfern ließen sich die meisten unserer Zeitungen angelegen sein. Auch wenn sie Entgleisungen bei der Beurteilung des Auslandes entgegentrat oder innerpolitische Maßnahmen forderte, beziehungsweise bekämpfte, erwies die sozialdemokratische Presse sich als einsichtsvolle Förderin der Sache Deutschlands.“
Und über die Haltung der Gewerkschaften schreibt Noske:
„Ein ganz besonderes Maß von Hingabe an das Vaterland sowie verständnisvollstes Verhalten gegenüber der bedrängten Lage des gesamten Volkes durch Zurückstellung von Wünschen und Forderungen ihrer Mitglieder haben die deutschen Gewerkschaften bekundet. Als wirtschaftliche Kampfesorganisationen sind sie nach Überwindung riesigster Hindernisse, die Unternehmer, Regierungen und Behörden ihnen entgegentürmten, groß und stark geworden. Die beste Kampfregel war noch immer, jede sich darbietende günstige Gelegenheit zur Erringung eines Vorteils auszunützen. Aber unter wechselnden Verhältnissen während des Krieges haben auch die Gewerkschaften aufs strengste den Burgfrieden gewahrt. Die organisierten Arbeiter leisten angesichts der Notlage des Vaterlandes Verzicht darauf, aus ihrer Unentbehrlichkeit Vorteile zu erkämpfen, wozu sie sehr wohl imstande gewesen wären. Die Organisationen taten für das Vaterland erheblich mehr. Ihre großen Mittel verwendeten sie darauf, gärender Unzufriedenheit entgegenzuwirken, indem sie meist weit über die durch ihre Satzungen festgelegten Grenzen hinaus den brotlos gewordenen Mitgliedern durch Unterstützungen über die schwere Zeit der Arbeitslosigkeit hinweghalfen. Dass eine andere Haltung möglich gewesen wäre, lehren die zahlreichen Lohnbewegungen während des Krieges in England.“
Ähnliche Ausführungen finden sich auch in den meisten anderen sozialdemokratischen Beiträgen.
Am weitesten im Sinne der Arbeitsgemeinschaft der Klassen sind wohl die Ausführungen Winnigs gehalten, wenn er schreibt:
„Die Masse des Volkes weiß und fühlt, dass das Schicksal der Nation und ihres organisatorischen Ausdrucks: des Staates auch ihr Schicksal ist. Sie bestaunt den Staat nicht mehr als eine über den Wassern schwebende Urgewalt, sondern sie erkennt die Abhängigkeit seines Wesens von den frei wirkenden Kräften des Volksganzen und strebt und ringt, ihm mehr und mehr ihr eigenes Wesen einzuhauchen. Sie fühlt sich wirtschaftlich, politisch und kulturell an dieser durch den Staat ausgedrückten Gemeinschaft beteiligt und an sie gebunden. Ihr wirtschaftliches Wohlergehen hängt ab vom Stande der nationalen Volkswirtschaft, die der Bewegungsfreiheit bedarf, um sich entwickeln zu können. Ihre gewerkschaftlichen Organisationen können nur dann Lohn und Arbeit günstig beeinflussen, wenn Handel und Wandel blühen. So ist die Masse der Arbeiterschaft an dem Schicksal der nationalen Volkswirtschaft und dadurch an der politischen Geltung der Staatsgemeinschaft interessiert und so fühlt sie sich bei der Abwehr der Gefahren, die dieser von außen drohen, mit der Gesamtheit des Volkes solidarisch verbunden.“
Hier werden der Lehre von der Harmonie der Klassen, die die Haltung des alten englischen Trade-unionismus bestimmte, schon recht bedenkliche Konzessionen gemacht und es entspricht nur solchen Auffassungen, wenn die Internationale von Winnig nicht als die notwendige Voraussetzung und Ermöglichung proletarischer Klassenpolitik in jedem einzelnen Lande betrachtet wird, sondern als eine zweckmäßige Veranstaltung zur besseren Vertretung einzelner Forderungen, namentlich sozialpolitischer, deren internationale Durchführung geringerem Widerstand begegnet als die einzelstaatliche. Solche internationalen Beziehungen sind dann freilich prinzipiell nicht mehr verschieden von den internationalen Veranstaltungen der Agrarier oder Bimetallisten, und der Nachweis, dass die internationale Gesinnung des Proletariats und die nationale des Bürgertums keine Gegensätze sind, lässt sich dann leicht erbringen.
Aber das alles, wenn es sich auch von unserer eigenen Auffassung weit entfernt, ist für uns hier nicht das Entscheidende. Uns handelt es sich um etwas anderes. Wir haben gesehen, wie im Grunde die Arbeiten der Professoren alle mit einem enthusiastischen Bekenntnis zu den Grundlagen der herrschenden Machtpolitik enden. Und demgegenüber wäre wohl die Erwartung nicht zu unberechtigt gewesen, von den Vertretern unserer Weltanschauung ein gleich offenes Bekenntnis zum Sozialismus und zur Demokratie zu hören. Davon ist leider keine Rede. Von der großen Neugestaltung der Welt, zu der wir die Arbeiterklasse berufen glauben, die der Weltkrieg als unmittelbare Aufgabe ihrer Politik gestellt hat, wird nichts gesagt. Von den dem Sozialismus eigentümlichen Grundsätzen über die Beziehungen der Völker erfährt man eigentlich nur aus der Polemik, die Professor Meinecke in seiner Vertretung der Machtpolitik gegen unsere „pazifistischen“ Grundforderungen führt. Man sage nicht, dass solche Ausführungen unseren Genossen im Bann des Burgfriedens unmöglich gewesen wären. Das gilt vielleicht für uns an dieser Stelle. Aber wenn in einer solchen Kundgebung unsere Vertreter nicht hätten reden können, so hätten sie ganz schweigen müssen. Dass sie aber hätten reden können, zeigen die Ausführungen der bürgerlichen Gelehrten, die gerade an die Grundprobleme ohne Scheu herantreten. In Wahrheit wäre freilich solches Reden mit dem Zweck des Buches schwer vereinbar gewesen. Will man Arbeitsgemeinschaft, dann freilich heißt es auf das grundsätzlich Scheidende verzichten. Und das Grundsätzliche, das wirklich die Klassen Trennende, das ist heute nicht Sozialreform und nicht die Bestätigung von Schöffen und Stadtverordneten, ja nicht einmal die preußische Wahlreform, sondern die Stellung zur Staatsmacht, die Frage: Machtpolitik und Imperialismus oder Demokratie und Sozialismus. Indem unsere Parteigenossen diese Frage beiseitegelassen haben, haben sie kampflos den bürgerlichen Professoren das politische Feld überlassen und es ist ihre Schuld, wenn am Schlusse des Buches – der Bürgerliche behält das letzte Wort! – Herr Thimme für die Zukunft die positive politische Haltung der Sozialdemokratie zum Staate verkünden kann.
Das dort Versäumte hier nachzuholen, zu zeigen, welche Konsequenzen der Sozialismus aus der großen Katastrophe zu ziehen habe, welche gewaltigen, weltumfassenden Aufgaben der Demokratie gestellt sein werden, will sie nicht auf lange Zeit hinaus auf jede Wirksamkeit verzichten, das ist uns leider hier versagt. Wir müssen uns begnügen, vor den Gefahren zu warnen, die der Partei und ihrem Wesen, wie wir es bisher kannten und liebten, erwachsen aus der politischen Bedürfnislosigkeit, aus der Resignation und dem Verzweifeln an unserer eigentlichen Aufgabe, die aus den Ausführungen der Sozialdemokraten zu uns sprechen. Und damit erschöpft sich auch für uns die Bedeutung des Buches. Diese geistige Arbeitsgemeinschaft wurde nur möglich, weil auf dem Gebiet, wo die Professoren tatsächlich den Standpunkt der bürgerlichen Welt einnehmen, auf dem Gebiete der Machtpolitik, sich die Sozialdemokraten ihnen überhaupt nicht stellten; auf anderen Gebieten, wie dem der Sozialpolitik begegnen sich zwar Sozialdemokraten und Professoren in manchem der Ziele (wenn auch nicht der Motive), aber da vertreten die Professoren leider nicht die maßgebenden bürgerlichen Schichten. Und so wird die Arbeitsgemeinschaft wohl „geistig“ bleiben müssen, weil sie nicht real werden wird. Denn die Realität nach dem Kriege wird mit der des Krieges weniger Ähnlichkeit haben, als die „Realpolitiker“ heute noch glauben mögen.
Leztztes Update: 27. April 2025/p>