Rudolf Hilferding

 

Die Gesamtpartei ist tot,
es lebe die Gesamtpartei

(1. Oktober 1911)


Der Kampf, Jg. 5 1. Heft, 1. Oktober 1911, S. 13–19.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die verantwortungsvolle Aufgabe, in der schweren Krise der Gesamtpartei Stellung zu nehmen, wird der deutschen Sozialdemokratie Oesterreichs voraussichtlich durch die Haltung der tschechoslawischen Partei wesentlich erleichtert werden. Wie bisher stets, seitdem die latente Krise durch die Zerschlagung der Gewerkschaftsorganisation akut geworden ist, die Initiative in dem traurigen Geschäft der Zerstörung der österreichischen Internationale der tschechoslawischen Leitung gehört hat und die deutsche Sozialdemokratie sich darauf beschränkt hat, den Schaden zu besehen und zu betrauern, so wird es auch in dem letzten und kritischesten Stadium sein, wenn endlich der Parteitag in Innsbruck sich zur Stellungnahme gezwungen sieht. Wer daran noch zweifelte, den müsste ein Zitat aus dem Právo Lidu, das wir dem Reichenberger Vorwärts entnehmen, überzeugen. In einer Korrespondenz über den Parteitag von Jena schreibt das tschechoslawische Organ:

„Zum erstenmal ist es geschehen, dass sich die sogenannte ‚tschechische Sozialdemokratie‘, als selbständige Partei bei einer ausländischen Bruderpartei angemeldet hat, und zum erstenmal wurde ihrem Vertreter auf einem ausländischen Parteitag offiziell das Wort erteilt ...

Es ist klar, dass die Erteilung des Wortes an den Redakteur Stein unter der stillschweigenden Zustimmung der Delegierten der deutschen Sozialdemokratie Oesterreichs erfolgte ...

Wenn es die deutsche Sozialdemokratie in Oesterreich für möglich hält, mit Leuten vom Schlage Steins, Tetenkas und Nadvorniks als mit Vertretern der politisch organisierten tschechischen klassenbewussten Arbeiterschaft zusammenzuarbeiten, dann wird sie nur mit diesen Zusammenarbeiten müssen ...

Wenn der Innsbrucker Beschluss so ausfallt, wie wir es jetzt als ziemlich sicher annehmen, dann werden wir genötigt sein, so wie wir das schon gewerkschaftlich tun, auch politisch ganz allein zu gehen ...

In Jena haben wir die Ueberzeugung gewonnen, dass die deutschen Genossen in Oesterreich in Innsbruck die Verräter an unserer Partei anerkennen und damit das Zusammenarbeiten mit der grossen Partei des tschechischen klassenbewussten, sozialdemokratischen, internationalen Proletariats unmöglich machen wollen.“

Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der Innsbrucker Parteitag die tschechische Sozialdemokratie anerkennen wird. Er kann nicht anders handeln, ohne in Widerspruch zu geraten mit dem Empfinden der Masse der deutschen Parteigenossen. Es ist undenkbar, dass klassenbewusste internationale Sozialdemokraten der Partei die Anerkennung versagen die innerhalb der tschechischen Nation zum Märtyrer der Grundsätze der sozialistischen Internationale geworden ist, deren Anhänger von den Tschechoslawen deshalb beschimpft, drangsaliert, boykottiert werden, weil sie für den Beschluss des Internationalen Kongresses, für die von der gesamten Gewerkschaftswelt gebilligten Notwendigkeiten der gewerkschaftlichen Organisation eingetreten sind. Die Nichtanerkennung der tschechischen Zentralisten bedeutete, wenn auch gewiss nicht der Absicht nach, so doch nicht minder gewiss der Tat nach, die Anerkennung, ja die Kapitulation vor dem Separatismus sowohl auf politischem wie auf gewerkschaftlichem Gebiet. Sie wäre ein Sieg des Separatismus, der sein Selbstbewusstsein und seine Angriffslust ungeheuer stärken, die Autorität und das Prestige seiner Führer in den Massen des tschechischen Proletariats unerschütterlich verankern müsste, während auf die deutschen Genossen das Zurückweichen vor den Drohungen der Separatisten deprimierend und lähmend wirken müsste. Deshalb ist die Nichtanerkennung der Zentralisten unserer Meinung nach ganz und gar ausgeschlossen. Dies bedeutet aber nach den tschechoslawischen Erklärungen die Trennung von den Separatisten.

Sind aber diese Erklärungen, so könnte einer erwägen, nicht blosse Drohungen, Einschüchterungsversuche, darauf berechnet, auf die Entschliessungen des Innsbrucker Parteitages einen Druck auszuüben? Solchen Einwand kann aber nur erheben, wer die bitteren Lehren nicht beachten will, die die separatistische Bewegung deutlich genug dem Beobachter einprägt. Wie war denn der bisherige Gang der Zersetzung?

Als die ersten internationalen Gewerkschaften gespalten wurden, da erkannte sowohl die deutsche Gewerkschaftsbewegung als die deutsche Partei sofort die Grösse der Gefahr.

Sie suchten ihr zunächst zu begegnen durch die „Methode der Vereinbarung“ auf gewerkschaftlichem Gebiete. Man bot den Tschechoslawen alle nur denkbaren nationalen Sonderrechte an, wenn sie nur die Einheit der Organisation im unmittelbaren wirtschaftlichen Kampf bestehen lassen wollten. Die Tschechen lehnten die Vereinbarungen ab, ignorierten die Beschlüsse des Gewerkschaftskongresses und spalteten eine Organisation nach der anderen. Die deutsche Partei hoffte die unselige Bewegung auf die Gewerkschaften beschränken zu können und erklärte feierlich ihre Nichteinmischung. Die Antwort der Tschechoslawen war: Der gewerkschaftliche Separatismus ist Parteisache. Die deutsche Partei ertrug auch dies. Die tschechische Partei ging jetzt zum Angriff auf dem politischen Gebiet über. Weil sich die deutschen Sozialdemokraten vzeigerten, die tschechisch-nationalistische Demagogie mitzumachen und gegen den Antrag Stanek stimmten, wurden sie als Verräter am tschechischen Proletariat ausgeschrieen. Und als die deutsche Partei auch dies ertrug, als sie auf die Einheit der Abstimmung des sozialdemokratischen Verbandes in nationalen Fragen verzichtete, da war das für die Tschechoslawen nur ein Grund, auch die Einheit des taktischen Vorgehens der Sozialdemokratie im Parlament zu sprengen; im kritischesten Augenblick schlug sich Modraček auf die Seite der Obstruktion, ohne es der Mühe wert zu halten, den Verband vorher auch nur zu verständigen. Man sieht, die Separatisten machen konsequente Politik.

Die Antwort der führenden deutschen Genossen ist ein beständiges Zurückweichen. Das ist eine Konstatierung, keine Kritik, wie ja bei einer ernsten Frage gar nichts darauf ankommt, Kritik an einzelnen Handlungen oder Personen zu üben, sondern die Triebfedern der Entwicklung blosszulegen, um womöglich ihren notwendigen und gesetzmässigen Verlauf zu erkennen. Wodurch war aber die Taktik der deutschen Genossen bestimmt und wohin hat sie bis jetzt geführt?

Als die Gewerkschaften all ihre Bemühungen um Erhaltung der internationalen Organisation scheitern sehen mussten, erinnerte man sich, dass es so etwas wie eine Gesamtpartei gab, die sogar ein gemeinsames Organ hatte. Die Gesamtexekutive leitete Verhandlungen ein. In einer Broschüre Otto Bauers, wurde den Tschechoslawen eine Organisationsform angeboten, die alle ihre Wünsche erfüllte und nur noch einen gemeinsamen organisatorischen Oberbau vorsah, um die unbedingtesten gewerkschaftlichen Notwendigkeiten zu sichern. Die Verhandlungen scheiterten. Jetzt macht Genosse Bauer einen neuen Vorschlag: Anerkennung des Separatismus, aber territoriale Begrenzung des Verderbens auf das tschechische Gebiet. Was gegen diesen Vorschlag vom gewerkschaftlichen Standpunkt zu sagen ist, ist im Kampf bereits gesagt worden. Es ist nur das eine zu bedauern, dass unter den Kritikern dieser Vorschläge nicht auch Otto Bauer gewesen ist, der es besser und schärfer hätte sagen können als alle anderen. Dieser genaue Kenner der österreichischen Nationalitätenfrage hätte dann nachgewiesen, dass dieser Vorschlag ganz unmöglich von den Führern des Separatismus angenommen werden könnte, es sei denn, sie hätten aufgehört, Separatisten zu sein. Trüge der Vorschlag die Unterschrift von Anton Němec (und eigentlich genügt auch das heute nicht mehr und einige Sicherheit bietet nur mehr die Unterschrift von Vaněk und Tusar), dann wäre der Vorschlag, so stark auch die gewerkschaftlichen Schäden wären, die seine Durchführung bedeutete, doch wenigstens diskutierbar als Mitte! zum Waffenstillstand zu kommen, der späterem Friedensschluss vorarbeite. So aber sei es völlig illusorisch, auf seine Annahme zu rechnen. Denn vor allem der Verzicht auf die tschechischen Minoritäten sei den Separatisten unmöglich, sie müssten denn eher auf die stetige Stärkung ihrer schwachen Organisation verzichten. Denn gerade die tschechischen Arbeiter im deutschen Gebiet sind, wie alle Auswanderer, meistens die lebhaftesten, energischesten Elemente. Sie sind nationalen Argumenten leichter zugänglich, streben stärker nach Organisation, da sie sich in der Fremde verlassen fühlen, und sind gewerkschaftlich leistungsfähiger, da sie zu den bestbezahlten Schichten des tschechischen Proletariats gehören. Das natürliche Expansionsstreben jeder Organisation ist in den jungen schwachen separatistischen Organisationen, die so dringend Erfolge brauchen, ausserordentlich stark. Gelänge selbst heute der Abschluss eines solchen territorialen Abgrenzungsvertrages, er wäre ein Stück Papier, das in kurzer Zeit zerrissen würde.

So ähnlich, nur viel gründlicher und eindringlicher, hätte Otto Bauer vielleicht argumentieren können. Wenn er es nicht getan hat, wenn er immer wieder neue Kompromissvorschläge ersinnt, von denen jeder spätere ein Stück von dem aufgeben muss, was der frühere für unerlässlich erklärt hat, so erklärt sich das wohl aus der Erkenntnis, welch schwere Schäden dem gesamten österreichischen Proletariat aus dem unverantwortlichen Vorgehen der tschechoslawischen Organisationszersplitterer erwachsen müssen.^Bauer möchte retten, was zu retten ist, und so wird ihm, dem so scharfen Zergliederer nationaler Strebungen, der Wunsch zum Hemmnis, die Analyse bis zum Ende zu führen. Er bricht mitten in der Untersuchung ab, fragt aus Furcht vor der Antwort nicht mehr, was werden die Separatisten tun müssen, sondern fordert von ihnen, was sie tun sollen und ja auch täten, wären sie Sozialdemokraten, wären sie Gewerkschafter, wären sie nicht Separatisten.

Kommt so Bauer und andere mit ihm von der Sorge um die Gewerkschaften hier zu unerfüllbaren Vorschlägen, so scheint mir die Haltung Viktor Adlers ganz analog durch die Sorge um die proletarische Politik bestimmt. Nicht dass Viktor Adler um die Zerstörung der Gewerkschaften geringeren Schmerz empfinden würde als nur irgendein Gewerkschafter, aber er scheint das Unvermeidliche bereits erkannt und in Rechnung gestellt zu haben. Ist jedoch – wenigstens zunächst – auf gewerkschaftlichem Gebiet der Separatismus das Unvermeidliche, können dann nicht wenigstens auf politischem Gebiet noch Trümmer und Reste der Gemeinsamkeit aus dem Zusammenbruch gerettet werden. Wenn auch ein gemeinsamer Verband nicht mehr möglich, so doch vielleicht die Vereinbarung von Klub zu Klub? Und wenn auch in nationalen Fragen gegeneinander gestimmt wird, so kann vielleicht doch gemeinsames Handeln in sozialpolitischen und allgemeinen Fragen ermöglicht werden ? Wenn auch nationalistische Sozialdemokraten, sind die Tschechoslawen nicht doch Sozialdemokraten? Und dieses kampffähige, tapfere tschechische Proletariat, sollte das wirklich und auf die Dauer dem Nationalismus verfallen bleiben? Mag auch gewerkschaftlich die Loslösung nicht mehr aufzuhalten sein, politisch wollen wir den Tschechoslawen verbunden bleiben, wenn wir auch den Zen-tralisten die Anerkennung – vielleicht so platonisch und so verklausuliert wie möglich – nicht versagen können.

Und wieder muss gesagt werden: käme solches Anerbieten aus Prag oder Brünn, es müsste in ernstliche Erwägung gezogen werden. Aber es kommt aus Wien, und aus Prag ist die Absage ja schon eingetroffen. Und wieder muss man wiederholen, nur die dringendste Sorge um die Gesamtpartei, nur der heisse Wunsch um die Berechnung vor den schlimmsten Schädigungen kann erklären, dass ein Viktor Adler etwas anderes als das noch für möglich halten kann.

Die Separatisten haben, indem sie die Einheit der Partei wie der Gewerkschaften sprengten, eine grosse Verpflichtung dem tschechischen Proletariat gegenüber auf sich geladen. Dass sie es aus den bisherigen Organisationen hinausgeführt, die politische Kampfgemeinschaft aufgelöst, schliesslich es mit der ganzen Internationale in Widerspruch gebracht haben, das können sie vor dem tschechischen Proletariat nur rechtfertigen, wenn sie ihm durch unmittelbare Erfolge den Nutzen dieser Politik beweisen können. Deshalb können sie gewerkschaftlich auf keinen Mann und keinen Groschen verzichten; sie brauchen nicht nur in Wien und Reichenberg, sie brauchen in Innsbruck und Linz den Versprengtesten tschechischen Arbeiter und seinen Beitrag für Böhmen und Mähren. Wie sollen sie sonst erfolgreiche Lohnkämpfe führen und wie können sie ohne solche ihre Haltung verteidigen?

Und dasselbe gilt für ihre Politik. Auch politisch müssen sie vor allem unmittelbare Erfolge anstreben. Die sind aber für eine Arbeiterpartei nicht so leicht zu haben, wenn man nur auf die eigene Kraft angewiesen ist und nur die Klasseninteressen des Proletariats vertritt. Deshalb stellt der Separatismus immer mehr die Forderungen der Arbeiter in den Hintergrund, um die Forderungen der „Nation“, das heisst die nationalen Wünsche der tschechischen Bourgeoisie und Intelligenz in den Vordergrund des Kampfes zu rücken. Ist dies aber einmal geschehen, ist das Kampffeld erst ein mit den Bürgerlichen gemeinsames geworden, dann ergibt sich auch das Zusammengehen mit den bürgerlichen Parteien ganz von selbst. Wächst ja dadurch die Aussicht auf den so heissersehnten Erfolg. Hat man die Gewerkschaften zerschlagen, kann man keine grossen Lohnkämpfe wagen, so kann man ja vielleicht den Arbeitern einreden, dass eine Universität in Brünn für die tschechischen Proletarier eine riesige Errungenschaft bedeute, wenn auch kein einziger tschechischer Proletarier je sie besuchen dürfte. Ist erst der Nationalismus Organisationsprinzip auf gewerkschaftlichem Gebiet geworden, so muss er erst recht auf politischem die ganze Agitation und Aktion der Partei beherrschen. Und schon ist in Mähren das vorletzte Stadium dieser Mauserung von einer sozialdemokratischen zu einer nationalistisch-kleinbürgerlichen Partei erreicht, da die nationale Demagogie als Mittel dient, die Arbeiter bürgerlichen Zwecken dienstbar zu machen. Die mährischen Separatisten haben ihre Unabhängigkeit aufgegeben und sich damit politisch ebenso ausserhalb der Internationale gestellt wie früher gewerkschaftlich. Sie sind zu einer Hilfstruppe des Dr. Stransky geworden und alle Beteuerungen, dass dem nicht so sei, werden daran nichts ändern. Denn Herr Dr. Stransky ist bei diesem Bündnis der Diktator. Ihm ist es immerhin leichter als dem Tusar und Vaněk, sich, falls die Separatisten sich störrisch zeigen sollten, ein anderesmal für die Mandatsergatterung mit den Klerikalen zu verbünden. Die Führer der mährischen Separatisten aber sind nicht die Leute, die einen Mandatsverlust riskieren, und sie können es gar nicht, denn jeder offenkundige Misserfolg der Separatisten muss die proletarische Opposition gegen den kleinbürgerlichen Nationalismus der Führer stärken. So bleibt den mährischen Separatisten nichts übrig, als den Nationalismus ihrer Agitation immer mehr zu steigern, die Freundschaft mit den bürgerlichen Parteien immer intimer zu gestalten, die politischen Interessen der tschechischen Arbeiter ebenso preiszugeben wie die gewerkschaftlichen. Die Prager Parteileitung mag in Stunden der Einkehr selbst ein Grauen vor dieser Entwicklung empfinden, die – in dieser Ueberzeugung sind wir mit Viktor Adler und Otto Bauer völlig einig – mit Notwendigkeit die Opposition des tschechischen Proletariats hervorrufen wird, aber sie hat nicht die Kraft gefunden, ihr bei Zeiten entgegenzugehen und heute haben die Tusar und Vanek innerhalb der tschechischen Partei ebenso das Heft in Händen, wie Herr Dr. Stransky über die Tusar und Vaněk gebietet.

Wenn aber auch in nationalen Fragen die internationale Sozialdemokratie aller Zungen in Oesterreich mit den Tschechoslawen nicht mehr Zusammenwirken kann, wenn wir als Regel erleben werden, was bisher als Ausnahme betrachtet wurde, und im Reichsrat die Vertreter des deutschen und tschechischen Proletariats gegeneinander stimmen werden, bleibt dann nicht immer noch ein breites gemeinsames Kampffeld übrig bei allen sozialpolitischen Fragen, die ja für uns weitaus wichtiger sind als die nationalen? Müssen wir nicht deshalb alles aufwenden, um doch die Reste gemeinsamer Aktion zu retten? Das ist ja auch die Hauptsorge, der Viktor Adler so bewegten Ausdruck verliehen hat.

Und wieder gilt hier, was von den Vorschlägen Bauers für die Gewerkschaft gilt. All diese Vorschläge wären ernstester Erwägung wert, gingen sie von den Tschecho-slawen aus, entsprängen sie ihrem und nicht unserem Friedenswillen. In der Tat aber fürchten wir, dass auch hier die Hoffnung auf gemeinsames Wirken sich als Illusion erweisen wird. Wir haben gesehen, wie die Separatisten die nationalen Forderungen in den Vordergrund schieben, wie sie nach unmittelbaren Erfolgen streben und sielt deshalb mit den bürgerlichen Nationalisten verbünden. Diesen Bund werden sie nicht stören wollen, indem sie im Parlament die Klassenforderungen des Proletariats Hand in Hand mit den deutschen Sozialdemokraten durchzusetzen versuchen. Wo bliebe denn Raum für die Phrasen von der Unterdrückung der Tschechen durch die deutsche Sozialdemokratie, wenn diese auch als Wortführer des tschechischen Proletariats fungieren? Die Separatisten werden vielmehr auch da dem tschechischen Proletariat den Beweis zu erbringen suchen, dass sie viel energischer und konsequenter als die deutschen Sozialdemokraten die Interessen des tschechischen Proletariats verfechten. Beschuldigen sie uns jetzt bereits des Opportunismus, so werden sie in Zukunft alles tun, um uns gerade auf diesem Gebiete durch einen Wort- und Scheinradikalismus zu übertrumpfen. Nicht am Zusammenarbeiten mit uns kann diesen Gefangenen des bürgerlichen Nationalismus etwas liegen; für sie sind internationale Sozialdemokraten, gleichgültig welche Sprache sie sprechen, nur unliebsame Konkurrenten um die Seele des tschechischen Proletariats. Und so müssen wir erwarten, dass der nationalistischen Demagogie eine scheinbar radikale, in Wirklichkeit nur demagogische Art der Behandlung aller politischen und sozialpolitischen Fragen entsprechen wird, die ein politisches Zusammengehen auf die Dauer ebenso unmöglich macht wie ein gewerkschaftliches. Die Anfänge dieser Entwicklung sind ja deutlich sichtbar. Noch aber bleibt eine Hoffnung. Wenn wirklich der Gang der Entwicklung ein solcher ist, wie wir ihn vorauszusehen glauben, muss dann nicht innerhalb des tschechischen Proletariats ein wachsender Widerstand gegen diese Politik erstehen und sind wir nicht verpflichtet, alles zu unterlassen, was solchen Widerstand hemmen könnte? Gerade aber die energische Aufnahme des Kampfes gegen die Tschechoslawen würde diese Partei enger zusammenschweissen und erwachende Oppositionsgelüste hintanhalten. Eine solche Argumentation scheint uns zu übersehen, dass das proletarische Klasseninteresse gerade erst durch den Kampf gegen den Missbrauch, der mit ihm getrieben wird, aus den Schlummer geweckt und zum Bewusstsein gebracht werden muss. Die christlichen Gewerkschaften in Deutschland zeigen zur Genüge, wie lange es unter Umständen dauern kann, bis das proletarische Bewusstsein bürgerliche Ideologie überwindet. Und die nationalistische Ideologie ist noch viel stärker als die religiöse. Wenn irgendwo, so ist gerade in Rheinland-Westfalen, und hier wiederum im Bergbau, die konfessionelle Zersplitterung der Gewerkschaften der reine Wahnsinn. Wenn irgendwo, so zeigt hier jede Lohnbewegung, wie diese Zersplitterung nur im Interresse der Unternehmer liegt. Und doch ist es der deutschen Arbeiterbewegung noch immer nicht gelungen, dieses Separatismus Herr zu werden. Aber immerhin, sie drängt ihn von Jahr zu Jahr zurück und macht die christliche Gewerkschaftsbewegung immer mehr bedeutungsloser. Aber sie konnte das nur erzielen im unaufhörlichen Kampf, dem einzigen Mittel, die Arbeitermassen der Aufklärungsarbeit zugänglich zu machen. Den Separatismus gewähren zu lassen, hiesse ihn nur befestigen und ihn zu immer grösserer Macht anwachsen zu lassen. Einmal erstarkte Organisationen haben aber eigene Lebenskraft und eigenen Lebenswillen. Es wäre Illusion, zu erwarten, dass die Entwicklung selbst ohne Hinzutun der kämpfenden Menschen das tschechische Proletariat zum Aufgeben seiner Irrtümer – oder vielmehr der Irrlehren seiner Führer – bringen könnte. Nur der Kampf innerhalb des tschechischen Proletariats kann dem proletarischen Interesse gegen die bürgerliche Ideologie zum Durchbruch verhelfen. Die ökonomische Entwicklung verbürgt nur den Kämpfern für die Internationale den Sieg, aber nur dann, wenn sie kämpfen. Lassen wir alles ruhig seinen Gang gehen im Vertrauen auf die „Madonna Evoluzione,“ auf die heilige Entwicklung, dann heisst das nur, dass wir kampflos das Feld räumen; denn die andern kämpfen und kämpfen mit den verzweifelndsten Mitteln.

Aber können wir denn kämpfen? Wir sprechen ja nicht tschechisch. Jedoch die Anfänge jener Entwicklung, auf die Adler und Bauer ihre Hoffnung setzen, sind ja schon vorhanden. Die Opposition im tschechischen Proletariat ist da. Den Tschechoslawen stehen die tschechischen Sozialdemokraten gegenüber. Sollen wir wirklich darüber so unglücklich sein, dass diese Opposition nicht innerhalb der tschechoslawischen Partei geblieben ist – dann wäre sie ja wohl zu begrüssen gewesen als Produkt der Entwicklung, des Abflauens der „nationalistischen Welle“ – sondern gezwungenermassen ausserhalb der alten Organisation sich konstituieren musste ? Hier haben wir ja die Partei, die unsere Sprache, die Sprache der internationalen Sozialdemokratie auf tschechisch spricht, hier haben wir die klassenbewusste Partei, die gegen die Verbürgerlichung der tschechoslawischen Partei den Kampf aufnimmt. Freilich, sie ist klein. Aber sind wir nicht alle der Ansicht, dass die Ökonomische und politische Entwicklung diesen Prinzipien die Zukunft verbürgt, dass die Anhänger dieser Prinzipien ständig wachsen, die Verfechter der nationalistischen Politik zurückgehen müssen? Wir würden uns selbst dieser notwendigen Entwicklung entgegenstellen, täten wir nicht alles, um die tschechische Sozialdemokratie zu unterstützen, sie als die einzige Vertretung des klassenbewussten tschechischen Proletariats zu betrachten.

Wenn aber selbst all diese Gründe noch nicht ausreichten, den Innsbrucker Parteitag zu dem Entschluss zu drängen, freie Bahn für eine wirklich prinzipiell internationale sozialdemokratische Gesamtpartei in Oesterreich zu schaffen, so müsste ihn die Rücksicht auf die deutsche Partei dazu bewegen. Denn es muss die nationalistische Agitation bei den deutschen Arbeitern ausserordentlich unterstützen, wenn die deutschnationalen Demagogen darauf hinweisen können, dass Sozialdemokratie und Nationalismus sich gar nicht ausschliessen, wie ja die tschechoslawische Partei zeige, die doch als sozialdemokratische von den deutschen Genossen anerkannt werde. Die Verwirrung in unseren Reihen würde gefördert werden, wenn wir solchen Argumenten nicht den Eingang bei unseren Genossen verschlössen durch den Abbruch unserer Beziehungen zu den Tschechoslawen, durch die Erklärung, dass wir sie nicht mehr als sozialdemokratische Partei anerkennen können – ein Standpunkt, den wir ja dann auch vor der Internationale werden vertreten müssen. Die Beziehungen zu den separatistischen Gewerkschaften und zur tschechoslawischen Partei können eben, solange die jetzigen Führer ihre Politik fortsetzen, gar keine anderen sein als solche, die die Sozialdemokratie zu christlichen oder nationalen Gewerkschaftsorganisationen oder nationalen bürgerlichen Parteien einnimmt. Das schliesst Vereinbarungen von Fall zu Fall nicht immer aus, wohl aber jedes dauernde Zusammenwirken.

Wir dürfen keine blosse Prestigepolitik treiben und wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir nicht mehr scheinen, als wir sind. Es ist leider eine Tatsache, dass in Oesterreich das sozialistische Bewusstsein noch durchaus nicht alle Proletarier durchdringt und auch nicht alle die, die einer sozialdemokratischen Partei angehören. Wir waren viel zu lange gezwungen, alle unsere Kräfte auf ein einziges Ziel – die Eroberung des Wahlrechtes – zu konzentrieren, als dass wir Zeit gehabt hätten zur sozialdemokratischen Aufklärung und Durchbildung der Massen in dem Masse, das notwendig und unerlässlich gewesen wäre, um uns gegen bürgerliche Einflüsse zu schützen. Wir hatten keine Zeit zur Selbsteinkehr, keine Zeit zu inneren Auseinandersetzungen. Jeder war uns willkommen, wenn er mit uns zusammen kämpfen wollte. War er ein guter Kämpfer, wir fragten nicht viel, wie es sonst mit seiner sozialistischen Ueberzeugung stand. Jetzt gilt es, in einem langen und schmerzlichen Prozess nachzuholen, was versäumt werden musste. Aber Aufschub duldet diese Auseinandersetzung nicht mehr, soll sie nicht immer schwieriger und unmöglicher werden. Jetzt ist die Zeit für die „Methode der Vereinbarungen“ vorüber, die immer nur ein Auskunftsmittel war, den Kampf zu verschieben und einen momentanen Waffenstillstand zu erzielen. Jetzt müssen die Massen selbst und nicht mehr die Parteileitungen entscheiden. Und um diese Entscheidung muss gekämpft werden, um jeden einzelnen Arbeiter muss gerungen werden und jeder einzelne durch die sozialistische Aufklärung seuchenfest gemacht werden gegen alle Infektionen der bürgerlichen Anschauungen.

Und dazu brauchen wir in der Tat „neue Formen“, zu denen soll der Innsbrucker Parteitag den ersten Schritt tun. Aber keine „neuen Formen“, die nur abgebrochene Stücke der alten, zerborstenen sind. Was wir brauchen, das ist eine wirkliche österreichische internationale Gesamtpartei. Eine Partei, die aktionsfähig ist, deren Parteitag nicht „vergessen“ werden kann und deren Leitung nicht eine kaum bewegliche Körperschaft, sondern ein wirklicher Aktionsausschuss ist. Die Gesamtpartei – ob überhaupt bisher eine bestanden hat, darüber sind ja die Zweifel nie ganz verstummt – zu konstituieren, das zu versuchen ist jetzt die Aufgabe des Innsbrucker Parteitages. Er soll aussprechen, was ist: Dass die Führer der tschechoslawischen Partei aufgehört haben, sozialdemokratische Politik zu treiben, dass das Verhältnis zu dieser Partei nur dasselbe sein kann, das wir zu einer radikalen, nichtsozialdemokratischen Partei einnehmen können. Als Vertretung der tschechischen Sozialdemokratie könne von jetzt an nur die zentralistische Partei in Betracht kommen. Die wichtigste Aufgabe aber sei, die Gründung einer österreichischen Gesamtpartei, die nicht aus völlig autonomen nationalen Parteien bestehen könne (wie es in Wirklichkeit, wenn auch nicht dem Statut nach der Fall war), sondern die über den nationalen Unterorganisationen, die der Kompetenz nach den Landesparteien Deutschlands etwa entsprechen, stehen müsse und deren Parteitag die letzte entscheidende Instanz in allen gemeinsamen Fragen der Partei ist.

Einheit in Gewerkschaft und Partei auf Grund eines furchtlos und rücksichtslos bekannten Internationalismus, das ist das Losungswort, das wir dem Separatismus und jeder nationalistischen Ideologie entgegenstellen müssen. Nur in diesem Zeichen werden wir siegen. Oesterreich ist das Land der Kompromisse. Die Sozialdemokratie würde an Oesterreich zugrunde gehen, wenn sie nicht jedes Kompromiss mit den nationalistischen Tendenzen innerhalb und ausserhalb der Partei aufs unerbittlichste bekämpft. Die alte Gesamtpartei ist tot und in Wahrheit wird diesem schwachen Geschöpf der „Methode der Vereinbarungen“ niemand eine Träne nachweinen. Aus Kampf und Not soll uns die neue Partei der österreichischen Internationale entstehen. Hart und traurig mag die Jugend sein, aber immer stärker und kräftiger, trotziger und lebensfähiger wird die neue Partei sich erheben. Wir wollen die Welt erobern und sollten mit der österreichischen Demagogie nicht fertig werden?


Zuletzt aktualisiert am 13. Dezember 2023