Chris Harman

Der Markt versagt


Tobias ten Brink

Eine alternative Wirtschaft –
eine sozialistische Ökonomie

Anfang Oktober hat die US-Regierung ein Hilfspaket für von der Finanzkrise betroffene Banken bereitgestellt. Es hat einen Wert von 700 Milliarden Dollar. Zwei Wochen später verabschiedete die Bundesregierung ein Paket in einer ähnlichen Größenordnung (500 Milliarden Euro). Laut UN-Generalsekretär Ban Ki Moon wären jährlich 72 Milliarden Dollar nötig, um Hunger und Armut in Afrika zu bekämpfen. Mit dem von Deutschland und den USA bereit gestellten Geld könnte man also den Kontinent 20 Jahre von seinem Elend befreien.

Dass niemals derart gigantische Summen eingesetzt werden, um gegen Hunger, Armut oder Umweltverschmutzung zu kämpfen, macht deutlich, dass etwas in dieser Welt fundamental schief läuft. Schon vor über 150 Jahren hat Karl Marx den Kapitalismus analysiert und aufgezeigt, dass dieses System nicht fähig ist, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Im Gegenteil: Kapitalistische Gesellschaften befördern soziales Elend, Krisen sowie politische Konflikte bis zum Krieg. Marx war der Auffassung, dass der sich internationalisierende Konkurrenzkapitalismus zwar die materiellen Voraussetzungen für ein „gutes“ Leben entwickelt, dies jedoch im Rahmen der bestehenden Verhältnisse nicht realisiert werden kann. Die dem Kapitalismus eigentümlichen Widersprüche blockieren es. So steigern die technischen Möglichkeiten die destruktiven Seiten des Systems. Marx hat daher den Schluss gezogen, dass der Kapitalismus überwunden werden und durch eine andere Gesellschaft – er nannte sie Sozialismus bzw. Kommunismus – ersetzt werden müsste.

Wie aber kann ein solcher Sozialismus aussehen? Wäre er fähig, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen?
 

Aus Erfahrungen lernen

Marx selbst verbrachte seine Zeit nicht damit, genaue Pläne für das Zusammenleben der Menschen in einer post-kapitalistischen Gesellschaft zu schmieden. Heute jedoch – nach den Erfahrungen vieler Revolutionen und des Stalinismus einerseits und den sehr einflussreichen Kritiken an der Realisierbarkeit einer sozialistischen Wirtschaft andererseits, z. B. vom neoliberalen Vordenker Friedrich von Hayek – ist es wohl notwendig, zumindest einige grobe Umrisse einer sozialistischen Gesellschaft aufzuzeigen zu können.

Gleichzeitig sollte der Grund dafür, weshalb Marx nichts über zukünftige Strukturen vorwegnehmen wollte, in Erinnerung behalten werden. Er war der Ansicht, dass eine solche Gesellschaft nur durch die Mehrheit der Menschen selber, „von unten“, durch Massenstreiks bis hin zur Revolution – mit dem Ziel der Durchsetzung auf globaler Ebene – erkämpft werden könne. Demokratie blüht auf, wenn Menschen sich organisieren und aktiv sind. Das Subjekt der Befreiung war für ihn die Arbeiterklasse, weil diese sowohl das objektive Interesse daran habe als auch die kollektiven Potentiale in sich berge, die Gesellschaft zu verändern.

Weil Marx zufolge die Befreiung nur als Selbstbefreiung zu denken ist, wird auch die Art und Weise des Zusammenlebens von den sich Befreienden bestimmt sein müssen. Die praktischen Erfahrungen und Entscheidungen der Massen in revolutionären Bewegungen werden die neue Gesellschaft formen – intellektuelle Antizipationen können höchstens helfen. Einen Masterplan gibt es nicht. Das muss klar sein, bei all dem was im Folgenden vor allem als Verallgemeinerung gemachter Erfahrungen in früheren Revolten skizziert wird.

Anknüpfend an Marx und andere Befreiungstheoretiker können einige Eckpunkte eines anderen Wirtschaftens benannt werden:

  1. „Sozialismus“ muss mit einer radikalen Ausbreitung demokratischer Strukturen verbunden sein. Die Wirtschaft und andere wichtige gesellschaftliche Strukturen müssen demokratisiert werden – als Voraussetzung für die Kontrolle und Leitung der Produktion durch die Bevölkerung.
     
  2. Eine sozialistische Gesellschaft erfordert ebenso eine Vertiefung der Demokratie. Die heutigen auf Passivität beruhenden Wahlvorgänge, in denen allzu oft nur die „Wahl zwischen Pest und Cholera“ bleibt, müssen durch eine partizipative Demokratie ersetzt werden. In dieser sollte die Macht so weit wie möglich verteilt sein und die Menschen insbesondere an den Entscheidungen direkt beteiligt werden, die ihr Leben berühren.
     
  3. Institutionell würde dies eine „Regierungsform“ bedeuten, die sich von allen bisherigen fundamental unterscheidet: ein sich selbst verwaltender Zusammenschluss von Arbeiter-, Konsumenten- und Nachbarschafts- bzw. Stadtteilräten. Die Räte würden auf verschiedenen Ebenen über die Geschicke der Gesellschaft bestimmen. Die jederzeitige Abwählbarkeit der Delegierten in den Räten und die Bezahlung nach Durchschnittslohn galten in vergangenen Kämpfen als Mittel, die Bildung neuer Eliten zu verhindern.
     
  4. Um eine solche Demokratie durchführbar zu machen, braucht jeder Mensch freien Zugang zu Informationen und die Möglichkeit, an öffentlichen Diskussionen teilzunehmen. Heute dominieren private Medienkonzerne die Öffentlichkeit – im Prinzip ist jedoch ein an den modernen technologischen Potenzialen ausgerichteter freier und gleicher Zugang zu allen Informationen realisierbar. Ein nicht-manipulatives Miteinander ist sowohl notwendig als auch möglich.
     
  5. Ökonomisch betrachtet bedarf eine solche Demokratie der Vergesellschaftung der meisten produktiven Ressourcen und der Massenmedien. Hierbei überträgt sich die gesamte Entscheidungsgewalt und Kontrolle auf die Bevölkerung.
     
  6. Zusätzlich würde eine demokratische Planung die Anarchie des Marktes ersetzen – indem die Entscheidungen über den Verbrauch und die Verteilung der Güter kollektiv getroffen werden.
     
  7. Die Verteilung des Einkommens würde sich so weit wie möglich an den Prinzipien orientieren, die Marx als Resultat einer höheren Entwicklungsstufe des Kommunismus voraussah: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Die Debatte darüber, wie sich diese Vision im einzelnen institutionalisieren ließe – über ein Recht auf ein Grundeinkommen, die Bindung von Einkommen an Arbeit, vermittelt über Geld oder anders – muss freilich geführt werden.
     

Politisch visionär – ökonomisch nicht umsetzbar?

Einer der Hauptvorwürfe gegen ein solches Modell besteht darin, dass es ökonomisch nicht durchführbar sei. Gerade die Idee der Vergesellschaftung ist umstritten. Selbst in der Linken gibt es hierzu keine eindeutige Position. Dem gemeinsamen Kampf gegen Privatisierungen folgt selten eine Diskussion, was anstelle dessen folgen könnte und jenseits der Wiederverstaatlichung bzw. der Rekommunalisierung liegt.

Unsere Machteliten argumentieren in dieser Frage unmissverständlich: Sie bestehen aggressiv auf dem Recht des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Dem gegenüber muss hervorgehoben werden, dass es keine selbstregierte und demokratische Wirtschaft geben kann, solange reiche Individuen und private Konzerne die Möglichkeit besitzen, die Bevölkerung von den wesentlichen Mitteln der Produktion auszuschließen.

Vergesellschaftung bedeutet etwas anderes als Verstaatlichung. Staatsbesitz als Eigentumsform ist mit kapitalistischer Ausbeutung vereinbar – was am Stalinismus, an den verstaatlichten Bereichen der Wirtschaften im Westen oder den Entwicklungsdiktaturen des Südens abzulesen ist. Entscheidend ist die Frage der Kontrolle bzw. der Selbstbestimmung: Kontrollieren die Beschäftigten die wirtschaftlichen Einrichtungen – oder eine Bürokratenschicht? Dabei muss die Kontrolle und das Ziel der Selbstverwaltung viel weiter reichen als die „Mitbestimmung“ in einigen kapitalistischen Unternehmen.

Zweifellos dürfen nicht alle Entscheidungen der gesellschaftlichen Kontrolle unterliegen. Über unsere Arbeitskraft sollten wir beispielsweise frei verfügen können. Die Freiheit eines Individuums zu entscheiden, was es tun möchte, ist ein im Kapitalismus zwar versprochenes, aber nicht eingehaltenes Recht. Sie muss zum Wesen einer sozialistischen Gesellschaft gehören. Wie es sich mit dem persönlichen Eigentum und den Konsumgütern verhalten wird, müssten die Menschen debattieren und beurteilen. Die schrecklichen Erfahrungen der Zwangskollektivierungen in der Sowjetunion haben gezeigt, dass sozialistische Reformen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren müssen.

Die Vorstellung der sozialen Gleichheit bedeutet des Weiteren nicht Homogenisierung, also „Gleichmacherei“. Im Gegenteil: Die gleiche Stellung zu den Produktionsmitteln soll Chancengleichheit und gleiche Rechte zur Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse ermöglichen. Echte Gleichheit erfordert die genaue Beachtung der individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Die Menschen könnten sich dem Philosophen Adorno zufolge erst dann „ohne Angst“ unterscheiden, die Sehnsucht nach Vielfalt sich erst jetzt realisieren.
 

Planung = Misswirtschaft?

Planung in der Wirtschaft wird in aller Regel als unbrauchbar, ineffektiv und undemokratisch verworfen. Auch Linke argumentieren häufig, dass Planung notwendigerweise bedeutet, Informationen und Entscheidungen in den Händen einer Bürokratenschicht zentralisieren zu müssen. Die „horizontale“ Koordination ökonomischer Aktivitäten sei nur mit dem Markt realisierbar, die einzige Alternative seien die „vertikalen“ Kommandowirtschaften des Ostblocks.

Das greift zu kurz. Planung ist schon heute ein zentrales Kennzeichen der Wirtschaft. Große Autofirmen beispielsweise unternehmen Investitionsentscheidungen und erstellen detaillierte Pläne für Multi-Milliarden-Projekte Jahre im Voraus. Auch gliedern sie die Herstellung von Komponenten in kleinere Betriebe aus. Produktion und Anlieferung der Komponenten müssen geplant werden, damit sie den Produktionsanforderungen in der „Mutterfabrik“ entsprechen.

Aber diese Form der Planung innerhalb des Kapitalismus ist vollkommen auf die Profitmaximierung und die anarchische Konkurrenz zwischen den rivalisierenden Firmen ausgerichtet. Wenn Pläne aufgestellt werden, basieren sie auf Schätzungen darüber, wie hoch die Nachfrage sein wird – Schätzungen, die in vielen Fällen fehlerhaft sind. Zwar wird in einzelnen Firmen geplant, sie treffen jedoch auf einem unbekannten Markt zusammen, was immer wieder zu großem Durcheinander führt, so genannten Überproduktionskrisen. Das Auf und Ab der Märkte bedeutet, dass Firmen mehr produzieren, als der Markt aufnehmen kann, und dann Bankrott gehen. Durch die Überproduktion verfallen die Preise und eine Pleitewelle beginnt. Menschen stürzen ins Elend, nicht weil es zu wenige, sondern weil es zu viele Güter gibt. Planung müsste daher als ein demokratischer und kooperativer Prozess organisiert sein.

Planung jenseits des Marktes

Es existieren ernstzunehmende Modelle für eine partizipative Wirtschaft jenseits von Markt und stalinistischer Kommandowirtschaft. Im Kapitalismus verläuft die Verteilung auf der Basis des Wettbewerbs zwischen Einzelkapitalien, die durch den Druck getrieben sind, die Profitraten zu erhöhen. Sozialistische Planung wäre dagegen eine (ständig weiter zu entwickelnde) Technik zur Koordinierung wirtschaftlicher Tätigkeiten, die von der Bevölkerung gelenkt würde – und das auf verschiedenen Ebenen: der Ebene der Gesamtwirtschaft, der Industrie- und Konsumsektoren, der Betriebe und Haushalte. Demokratische Planung bedarf der Initiative, der Kontrolle und der ständigen Revision durch die Menschen, sowohl in ihrer Eigenschaft als Produzenten – um die Effizienz betrieblicher Prozesse zu steigern – als auch als Konsumenten – um die Produktion so eng wie möglich an die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung zu koppeln.

Planung darf nicht heißen, dass jeder in seinen Möglichkeiten eingeschränkt ist, wie wir es aus den Ländern des Realsozialismus kennen. Unter demokratischen Vorzeichen könnte sich ein umgekehrter Effekt einstellen: Die individuelle Wahlfreiheit kann sich erhöhen, wenn endlich alle Ressourcen in umweltschonender Art und Weise zur Bedürfnisproduktion genutzt werden und nicht für unnötige Werbe- oder Rüstungsausgaben. Güter, die in ihrer Nachfrage oft unerwarteten Schwankungen unterliegen (z. B. bestimmte Lebensmittel), müssten besonders aufmerksam reguliert werden: Niemand sollte für einen Joghurt zwei Tage länger warten, weil er/sie es sich vorher nicht überlegt hatte und nun spontan Lust darauf hat. Schon heute funktionieren bestimmte Supermärkte mithilfe moderner Technik so, dass jedes verkaufte Produkt sofort registriert und gegebenenfalls nachproduziert werden kann. Regelmäßige Umfragen und die partizipative Demokratie in den Räten könnten die tatsächlichen Konsumerwartungen viel eher erfassen als die heutige stichprobenartige Marktforschung. Ökonomen prognostizieren, dass eine demokratische Wirtschaft zudem rationellen Konsum fördern wird: Gesundheit kann die Oberhand über blinden und protzigen Genuss gewinnen.
 

Dezentral und zentral

Eine alternative, auf horizontaler Koordination basierende Wirtschaft müsste aus dezentralen und zentralen Netzwerken von Produzenten und Konsumenten bestehen, die demokratisch darüber entscheiden, wofür und wie sie ihre Ressourcen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse einsetzen möchten. Planung muss nicht notwendigerweise ein System erzeugen, das von oben gesteuert wird. Kritische Wirtschaftswissenschaftler haben verschiedene Modelle solch einer Wirtschaft vorgestellt – Modelle einer „vereinbarten Koordination“ oder „partizipatorischen Planung“.

Die technische Leitung der Produktion kann jeweils von der Sache her gedacht werden. Bestimmte bedeutende ökonomische Fragen wie Umweltprobleme oder Ausgaben für das Verkehrswesen müssen überregional, manchmal auch global, d. h. zentral entschieden werden, vielleicht durch gewählte Delegiertenräte, auf Basis unterschiedlicher Vorschläge. Viele andere Entscheidungen müssen das nicht und sollten dementsprechend dezentral entschieden werden – selbst wenn bestimmte ökonomische Verfügungen dann mehr Zeit bedürfen. Es ist nicht unvorstellbar, dass, je mehr Menschen an den Entscheidungen der Gesellschaft beteiligt sind, sie im Laufe der Zeit Wege finden werden, dies sehr effektiv zu tun.

Auch wenn der Kapitalismus eine ungeheure Dynamik hat, so zerstört er doch gleichzeitig in großem Ausmaß potenzielle Energie und Kreativität. Es besteht daher die Notwendigkeit einer Wirtschaft, die die menschlichen Möglichkeiten besser zur Geltung bringen und sie zugleich in ein ausgewogeneres Verhältnis zur Natur setzen könnte. Selbst wenn das sicherlich keine perfekte Welt wäre und neue Konflikte entstünden – möglicherweise aber auch vernünftigere Wege, diese zu lösen –, drängen die aktuellen Verwerfungen geradezu zu einer neuen Diskussion über Ideen eines Bruchs mit dem Kapitalismus.


Zuletzt aktualisiert am 1. Oktober 2016