Chris Harman

Das ist Marxismus


Wie kann die Gesellschaft verändert werden?


Seit 1914 vertritt die größte deutsche Arbeiterpartei, die Sozialdemokratie, die Auffassung, daß die Gesellschaft ohne gewaltsame Revolution verändert werden kann.

Es komme vielmehr darauf an, daß die Sozialisten genügend Einfluß in der Bevölkerung gewinnen und so schließlich die Kontrolle über politische Einrichtungen wie Parlamente und Stadträte erlangen. Dann werden die Sozialisten in der Lage sein, die Gesellschaft dadurch zu verändern, daß der bestehende Staat – seine Beamten, seine Gerichte, seine Polizei und seine bewaffneten Streitkräfte – Gesetze zur Geltung bringen wird, die die Macht der Unternehmerklasse beschränken können.

Auf diese Weise ließe sich der Sozialismus allmählich einführen. Gewalt wäre überflüssig.

Diese Ansicht wird gewöhnlich als Reformismus bezeichnet, manchmal auch als Revisionismus (weil die Anhänger dieser Lehre sie als „Revision“, d. h. als Abänderung der ursprünglichen Lehre von Marx verstanden) oder als sozialdemokratisch (obwohl es bis 1914 in der SPD noch eine Mehrheit von Anhängern des revolutionären Weges gab.

Heute wird diese Ansicht von linken und rechten Sozialdemokraten geteilt und auch die meisten Kommunistischen Parteien haben sich in Westeuropa offiziell im Programm zum „friedlichen Weg“ zum Sozialismus bekannt.

Der Reformismus scheint auf den ersten Blick sehr vernünftig. Er paßt in das Bild, das wir auf den Schulen, im Fernsehen und den Zeitungen von unserem Staat vermittelt bekommen: daß das Parlament die Gesetze macht und die Regeln aufstellt, nach denen unsere Gesellschaft funktioniert, und daß das Parlament in demokratischer Wahl nach dem demokratischen Willen des Volkes gebildet wird. Trotzdem ist bisher jeder Versuch, den Sozialismus durch das Parlament einzuführen, fehlgeschlagen.

So gab es zu Beginn der Weimarer Republik und seit 1969 in der Bundesrepublik mehrere Regierungen unter Führung der Sozialdemokratie, und trotzdem sind wir in den Jahren seit 1969 dem Sozialismus um kein Stückchen näher gekommen.

Auch im Ausland gibt es gleiche Erfahrungen. 1970 wurde der Sozialist Salvador Allende zum Präsidenten von Chile gewählt. Viele Sozialisten argumentierten damals, daß dies ein „neuer Weg zum Sozialismus“ sei. Drei Jahre später stürzten die gleichen Generäle, die zuvor aufgefordert worden waren, der Regierung beizutreten, Allende und zerschlugen die chilenische Arbeiterbewegung.

Es gibt drei Argumente, warum der Reformismus immer scheitern muß. Erstens bleibt die tatsächliche wirtschaftliche Macht erst einmal in den Händen der alten herrschenden Klasse, solange eine sozialistische Mehrheit im Parlament „schrittweise“ sozialistische Reformen einführt. Diese wirtschaftliche Macht gebrauchen die Herrschenden dazu, ganze Industriezweige lahmzulegen, die Preise durch Spekulation und Horten in die Höhe zu treiben, Arbeitslosigkeit zu schaffen, Geld ins Ausland zu schaffen und so eine Zahlungsbilanzkrise zu verursachen, eine Pressekampagne zu starten, die das alles der Regierung in die Schuhe schiebt.

Ein Beispiel, wie die Unternehmer ihre wirtschaftliche Macht benutzen, um Reformen zu verhindern, ist das Schicksal der Berufsbildungsreform unter der SPD-Regierung seit 1969. Als die Unternehmer durch einen allgemeinen Boykott der Lehrlingsausbildung dafür sorgten, daß die Jugendarbeitslosigkeit rasch in die Höhe schoß, ließ die Regierung den größten Teil ihrer ursprünglichen Pläne von 1969 rasch wieder fallen.

Allendes Regierung in Chile sah sich dem gleichen Problem nur in viel größerem Maßstab ausgesetzt. Zweimal wurden während seiner Regierungszeit ganze Industriezweige durch „Unternehmerstreiks“ lahmgelegt, die Preise wurden absichtlich durch Horten von Gütern in schwindelnde Höhen getrieben und die Bevölkerung mußte Schlange stehen, um das allernotwendigste zum Lebensunterhalt zu bekommen.

Der zweite Grund, warum der Kapitalismus nicht reformiert werden kann, liegt darin, daß der bestehende Staatsapparat nicht „unparteiisch“, neutral ist, sondern von oben bis unten dafür eingerichtet ist, die bestehende kapitalistische Gesellschaft zu erhalten.

Der Staat kontrolliert fast alle Mittel zur Ausübung körperlichen Zwangs, die Gewaltmittel. Wenn der Staatsapparat tatsächlich neutral wäre und ausführen würde, was auch immer irgendeine Regierung verlangt – sei sie kapitalistisch oder sozialistisch – dann könnte der Staat benutzt werden, um z. B. den wirtschaftlichen Boykott der Kapitalisten zu brechen. Aber man braucht sich nur anzusehen, wie der Staatsapparat läuft und wer ihm wirklich die Befehle gibt, um zu erkennen, daß er nicht neutral ist.

Der Staatsapparat ist nicht nur einfach die Regierung. Er ist eine riesige Organisation mit vielen verschiedenen Abteilungen – der Polizei, der Armee, den Richtern, den Beamten, den Menschen, die die verstaatlichten Wirtschaftszweige betreiben usw. Viele Menschen, die in den verschiedenen Zweigen des Staates arbeiten, stammen aus der Arbeiterklasse, sie leben wie diese und erhalten den gleichen Lohn wie diese.

Aber diese Menschen treffen keine Entscheidungen. Der gewöhnliche Soldat hat keinen Einfluß auf die Frage, ob Krieg geführt wird, und der gewöhnliche Polizist hat keinen Einfluß auf einen Einsatz gegen streikende Arbeiter. Die Sozialarbeiter auf den Sozialämtern entscheiden nicht über die Höhe der Sozialhilfe. Der ganze Staatsapparat beruht darauf, daß es eine Unterordnung der unteren Stufen unter die nächsthöheren im Apparat gibt.

Das gilt besonders für die bewaffneten Abteilungen des Staates – Heer, Marine, Luftwaffe, Bundesgrenzschutz, Polizei. Das erste, was ein Soldat zu hören bekommt – lange bevor er überhaupt eine Waffe anfassen darf – ist, daß er den Befehlen seiner Vorgesetzten unbedingt Gehorsam zu leisten hat, gleichgültig, welche Meinung er dazu hat. Deshalb sind gerade scheinbar sinnlose Drillübungen der Armee so wichtig. Wenn ein Soldat erst einmal bereit ist, sich auf dem Übungsplatz mit seiner sauberen Uniform in den Schlamm zu werfen, dann wird er später genausowenig widersprechen, wenn ihm befohlen wird, zu schießen.

Das schlimmste Vergehen in der Armee ist, dem Befehl des Vorgesetzten nicht zu gehorchen. Die Meuterei wird im Kriegsfall auch heute noch in den meisten Ländern mit der Todesstrafe geahndet.

Wer gibt die Befehle? In der Bundeswehr führt die Befehlsleiter vom General zum Leutnant, vom Unteroffizier bis hin zum einfachen Rekruten. Die gewählten Vertreter der Parlamente oder der örtlichen Gemeinde und Stadträte haben an keiner Stelle dieser Stufenleiter das Recht auf Einblick, Kontrolle oder gar Weisungsbefugnis.

Die Armee ist eine riesige Tötungsmaschine. Die Menschen, die an ihrer Spitze stehen, die Generäle, haben gleichzeitig die Macht, andere Soldaten in Führungspositionen zu befördern.

Natürlich sind die Generäle theoretisch an die Weisungen und Beschlüsse des Parlaments und seiner Regierung gebunden. Aber die Soldaten werden darauf trainiert, ihren Generälen zu gehorchen, nicht den Politikern. Falls die Generäle sich weigerten, Regierungsbeschlüsse umzusetzen, wäre die Regierung erst einmal machtlos. Sie kann nur hoffen, die Generäle umzustimmen. Außerdem haben die Generäle auf Grund der „Geheimhaltungspflichten“ in militärischen Fragen große Möglichkeiten, ihre wahren Pläne und Absichten zu verschleiern.

Das bedeutet nicht, daß die Generäle im Normalfall häufig über Regierungsbeschlüsse hinweggehen. Aber in einer Frage von Leben und Tod sind die Generäle in der Lage, die Tötungsmaschine ganz unabhängig und gegen den erklärten Willen von Regierungen einzusetzen. Nichts anderes geschah in Chile, als Allende gestürzt wurde.

Deshalb läuft die Frage, wer die Armee kontrolliert, eigentlich auf die Frage hinaus: Wer sind die Generäle?

In der Reichswehr waren die führenden Generäle häufig Mitglieder des preußischen Adels, der über Jahrhunderte jeder Art des gesellschaftlichen Wandels feindlich gesonnen war. Als nach 1955 die Bundeswehr aufgebaut wurde, wurden die führenden Generäle ausnahmslos aus den Reihen der hitlerschen Reichswehr geholt. So ist die Tradition des alten „Korpsgeistes“ im Generalstab bis auf den heutigen Tag erhalten. Ein General, der seine eigene Meinung äußert, wie der ehemalige General Bastian (später für die Grünen im Bundestag), und diese dann auch noch kritisch gegen das vorherrschende Feindbild von der „kommunistischen Bedrohung“ richtet, wird sofort entlassen.

Als 1920 in Berlin einige rechte Truppenteile unter dem General Kapp einen Putschversuch gegen die sozialdemokratische Regierung unternahmen, rief diese die Führung der Reichswehr zur Hilfe, um den Putsch niederzuschlagen. Der Oberbefehlshaber der Reichswehr von Seeckt sagte nur: „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr.“

Mehr als alle papiernen Verfassungen und Gesetze zeigt dieser Ausspruch, daß die Generalität zuerst und immer auf die Einheit ihrer Truppen unter ihrer Führung achtet, auch wenn sie diese in offenen Widerspruch zu den Befehlen der gewählten Regierung bringt.

Ein Putsch gegen eine linke Regierung, wie der des General Kapp von 1920 kann sich heute in Deutschland wiederholen, weil die Armee noch immer nach den gleichen Prinzipien des blinden Gehorsams aufgebaut ist und noch immer der gleiche konservative reaktionäre Korpsgeist in der führenden Generalität herrscht.

Aber bevor es zu einem militärischen Sturz der Regierung kommt, gibt es noch genügend „gesetzliche“ Möglichkeiten, die Pläne einer linken Regierung zu durchkreuzen. Wenn solch eine Regierung gewählt würde, würden die Unternehmer zu massiver wirtschaftlicher Sabotage greifen. Bei dem Versuch der Regierung, dagegen mit gesetzlichen Mitteln vorzugehen, würde sie feststellen, daß ihr die Hände gebunden sind.

Der Bundesrat würde sich weigern, derartige Gesetze zu unterzeichnen und die Verabschiedung so lange wie möglich hinauszögern. Das Bundesverfassungsgericht würde sie als nicht verfassungsgemäß zurückweisen. Von dieser Möglichkeit hat dieses Gericht unter der SPD/FDP-Regierung mehrere Male Gebrauch gemacht: Eine Entscheidung des BVG richtete sich gegen die Reform des § 218 (Abtreibung) und hatte zur Folge, daß die Reform nochmal verwässert wurde. Ein anderer Richterspruch des BVG brachte die Wiedereinführung der mündlichen Gewissensprüfung von Wehrdienstverweigerern, nachdem das Gesetz zu ihrer Abschaffung für verfassungswidrig erklärt worden war.

Aber selbst wenn solch ein Gesetz verabschiedet würde, würden die Richter das Gesetz so auslegen, daß es wirkungslos wird. Die Chefs der Geheimdienste, Generäle, Polizeichefs würden diese Entscheidung als Rechtfertigung benutzen, die Anweisungen der Minister nicht auszuführen. Sie würden von der gesamten Presse unterstützt, die der Regierung „illegales“, „verfassungswidriges“ Vorgehen vorwerfen würde. Dann würden die Generäle dieses Argument benutzen, um Vorbereitungen zum Sturz einer „illegalen“ Regierung zu treffen.

Die Regierung wäre machtlos, das ökonomische Chaos in den Griff zu bekommen – es sei denn, sie würde wirklich verfassungswidrig handeln und die einfachen Geheimdienstleute, Polizisten und Soldaten aufrufen, sich gegen ihre Chefs zu stellen.

Sollte irgendwer meinen, das alles sei wilde Phantasie: genau das spielte sich in Großbritannien 1912 ab. Das Unterhaus verabschiedete ein Gesetz, um eine von Großbritannien unabhängige Regierung für ein vereintes Irland vorzubereiten. Der Führer der konservativen Torypartei verleumdete sofort die (liberale!) Regierung als illegale „Junta“, die die Verfassung „ausverkauft“ habe. Das Oberhaus verzögerte das Gesetz solange es konnte (zwei Jahre), während ein ehemaliger Toryminister paramilitärische Truppen in Nord-Irland organisierte, um gegen das Gesetz Widerstand zu leisten. Als die kommandierenden britischen Generäle in Irland aufgefordert wurden, ihre Truppen in den Norden zu verlegen, weigerten sie sich. Wegen dieser Ereignisse ist Irland heute noch geteilt.

Wenn das bereits unter einer liberalen Regierung geschehen konnte, ist es leicht vorstellbar, was unter einer militanten sozialistischen Regierung ablaufen wird.

Jede ernsthafte reformistische Regierung sähe sich sehr schnell vor die Alternative gestellt: Entweder sie gibt die Reformen auf, um jene Kräfte zu beschwichtigen, die über die Industrie und die Schlüsselpositionen im Staat verfügen, oder sie bereitet sich auf die totale Konfrontation vor, was in jedem Fall den Einsatz von Gewalt gegen jene bedeuten müßte, die bisher über die Machtpositionen verfügen.

Ein dritter Grund für das unweigerliche Scheitern des Reformismus liegt in der Arbeitsweise des Parlamentarismus selbst, die verhindert, daß sich eine revolutionäre Massenbewegung im Parlament ausdrücken kann.

Die Mehrheit der Menschen wird erst dann glauben, die Gesellschaft selbst in ihre Hand nehmen zu können, wenn sie beginnen, die Gesellschaft praktisch, durch ihren Kampf, zu verändern. Wenn Millionen Menschen ihre Fabriken besetzen oder an einen Generalstreik teilnehmen, erscheinen die Ideen des revolutionären Sozialismus plötzlich realistisch.

Aber ein derartig hohes Niveau der Kämpfe kann nicht unbegrenzt andauern, es sei denn, die alte herrschende Klasse wird ihrer Macht beraubt. Wenn diese weiterbesteht, wird die herrschende Klasse abwarten, bis die Besetzungen und Streiks abflauen, um dann ihre Kontrolle über Armee und Polizei zu benutzen, um den Kampf niederzuschlagen.

Und wenn Streiks und Besetzungen erst einmal abflauen, ist auch die Einheit und das Selbstvertrauen der Arbeiter bedroht. Enttäuschung und Verbitterung machen sich breit. Selbst die Besten fragen sich nun, ob die Veränderung der Gesellschaft nicht doch nur ein schöner Traum war.

Das ist auch der Grund, warum die Unternehmerverbände so begierig auf „Schlichtungsabkommen“ mit den Gewerkschaften sind, die alleine dazu dienen, eine Phase der „Abkühlung“ durch ein Ritual von Verhandlungen vor einen Streikbeschluß zu stellen. Während dieser Phase haben sie alle Möglichkeiten, über das Fernsehen und die Presse die Arbeiter zu beeinflussen.

Das parlamentarische Wahlsystem sieht ebenfalls solche „Abkühlungsphasen“ und „Schlichtungsvereinbarungen“ vor. Wenn sich eine Regierung durch Massenstreiks in die Knie gezwungen sieht, wird sie beispielsweise sagen: »OK, warten wir die nächsten Bundestagswahlen ab, da kann die strittige Frage demokratisch entschieden werden.« Sie hofft natürlich, daß der Streik bis dahin längst vergessen ist und mit ihm das Selbstvertrauen und die Einheit der Arbeiter.

Inzwischen werden Fernsehen, Presse und Polizei wieder ihre normale Funktion übernehmen können und die Polizei kann einige „Rädelsführer“ festnehmen.

Wenn dann die Wahl endlich stattfindet, wird das Ergebnis nicht mehr die Stimmung vom Höhepunkt der Streikbewegung widerspiegeln, sondern von ihrem Tiefpunkt nach dem Streik.

In Frankreich setzte die Regierung des Generals de Gaulle 1968 die Wahlen genau mit diesem Ziel ein. Die reformistischen Parteien forderten die Arbeiter auf, ihren Generalstreik, an dem 10 Millionen Arbeiter teilnahmen, zu beenden – und de Gaulle gewann die Wahl.

Der britische Premierminister Edward Heath versuchte den gleichen Trick, als seine Regierung mit einem Massenstreik der Bergarbeiter konfrontiert war. Die Bergarbeiter ließen sich nicht täuschen. Sie setzten ihren Streik auch nach der Ausschreibung von Neuwahlen fort und Heath verlor die Wahl.

Wenn die Arbeiter hoffen, ihre zentralen Forderungen durch Wahlen für sich zu entscheiden, werden sie nie zu ihrem Ziel kommen.
 

Der Arbeiterstaat

Marx entwickelte in seiner Schrift Bürgerkrieg in Frankreich eine ganz andere Perspektive für den Sieg des Sozialismus. Ebenso Lenin in seiner Broschüre Staat und Revolution.

Beide gewannen ihre Einsichten aus der Beobachtung von Aktionen der Arbeiterklasse. Marx erlebte die Pariser Kommune, Lenin die russischen Sowjets (Arbeiterräte) von 1905 und 1917.

Aber Marx und Lenin bestanden darauf, daß die Arbeiterklasse zuerst den alten Staat mit seinen bürokratischen Befehlsketten zerstören könne.

Lenin unterstrich den Unterschied des alten zum neuen Staat, indem er ihn den „Kommune-Staat“ nannte, ein „Staat, der kein Staat ist“.

Dieser neue Staat sei notwendig, sagten Marx und Lenin, weil die Arbeiterklasse ihre Gesetze und Ziele gegen die frühere herrschende Klasse durchsetzen müsse. Marx nannte diesen Staat deshalb auch die Diktatur des Proletariats, die Arbeiterklasse müsse diktieren, wie die Gesellschaft organisiert werden solle. Sie müsse ihre Revolution auch gegen Angriffe der herrschenden Klasse aus anderen Teilen der Welt verteidigen.

Um diese beiden Aufgaben erfüllen zu können, brauche sie bewaffnete Streitkräfte und eine Art Polizei sowie Gerichte und sogar Gefängnisse. Aber wenn die neue Armee und Polizei sowie das Rechtssystem wirklich unter Kontrolle der Arbeiter bleiben und sich nie gegen sie wenden sollten, dann müßten die Herrschaftsinstrumente der Arbeiterklasse nach ganz anderen Prinzipien aufgebaut werden als der kapitalistische Staat.

Diese Herrschaftsinstrumente sollten keine Diktatur gegen die Mehrheit der Arbeiterklasse ermöglichen, sondern sollten es der Mehrheit der Bevölkerung, nämlich der Arbeiterklasse, ermöglichen, der ganzen Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen.

Die Hauptunterschiede zum kapitalistischen Staat sind folgende:

In einem Arbeiterstaat würden die Abgeordneten nur von der Arbeiterklasse gewählt. Der Kern des Arbeiterstaates bestünde somit aus Arbeiterräten, deren Wahlbezirke nicht eine Region oder ein geographischer Kreis wären, sondern die Fabriken, die Bergwerke, die Häfen, die großen Verwaltungsbetriebe. In den Arbeiterräten wären auch die großen gesellschaftlichen Gruppen wie die Hausfrauen, die Rentner, Studenten und Schüler vertreten. Wichtige Beschlüsse würden erst nach öffentlicher Debatte über die anstehenden Fragen gefällt.

Auf diese Weise hätte jeder Teil der Arbeiterklasse seine eigenen Vertreter und könnte unmittelbar selbst beurteilen, ob diese sich für ihre Interessen einsetzen.

Alle Arbeiterdelegierten und alle, die die Entscheidungen der Arbeiter umzusetzen haben, wären nicht – wie die Mitglieder des Bundestages – auf vier Jahre gewählt und in dieser Zeit unantastbar. Sie müßten sich mindestens jährlich zur Wiederwahl stellen und wären auch zwischen den ordentlichen Wahlen jederzeit abwählbar, wenn sie die Wünsche ihrer Wähler nicht erfüllen.

Auf diese Weise könnte sich der Staat auch nicht zu einer besonderen Macht über und gegen die Mehrheit der Arbeiterklasse entwickeln, wie das in sogenannten kommunistischen Ländern heute der Fall ist.

Gleichzeitig sind die Arbeiterräte das Mittel, um die Umsetzung der demokratisch entschiedenen nationalen Wirtschaftspläne zu diskutieren und koordinieren. Nur so können sie verhindern, daß die einzelnen Fabriken in Konkurrenz gegeneinander geraten.

Es ist leicht einzusehen, daß gerade die Computer-Technik den Arbeitern rasch alle wichtigen Informationen über die verschiedenen wirtschaftlichen Möglichkeiten liefern kann; mit Hilfe solcher Informationstechniken können sie sich über die möglichen Alternativen klar werden und entsprechend ihren Abgeordneten Aufträge geben und deren Beschlüsse nachvollziehen.

Sie können selbst entscheiden, was der beste Einsatz des wirtschaftlichen Reichtums im Interesse der Arbeiterklasse ist – für Atomkraftwerke z. B. oder die Verwendung anderer Energiequellen, für ein neues Überschallflugzeug oder für den Ausbau der öffentlichen Verkehrssysteme in den Ballungszentren, für Atomraketen oder mehr künstliche Nieren.
 

Das Absterben des Arbeiterstaates

Der Arbeiterstaat unterscheidet sich vom kapitalistischen Staat nicht nur in seinem Aufbau. Weil die Staatsmacht eines Arbeiterstaates nicht von den Arbeitern losgelöst ist, ist sie auch wesentlich weniger gewaltsam als im Kapitalismus.

In gleichem Maße wie die Überreste der alten Gesellschaft, gegen die sich die Gewalt des Arbeiterstaates richtete, vor dem Erfolg der Revolution kapitulieren und in dem Maße, wie die herrschenden Klassen im Ausland von der Revolution gestürzt werden, nähme auch die Notwendigkeit ab, Gewalt anzuwenden, bis die Arbeiter schließlich nicht länger ihre Arbeit gegen Polizei- und Armeefunktionen aufgeben müssen.

Diesen Prozeß nannten Marx und Lenin das Absterben des Staates. Statt Gewalt gegen Menschen auszuüben, würde dann der Staat sich darauf beschränken, die Beschlüsse der Arbeiterräte über die Produktion und Verteilung der Güter umzusetzen.

Arbeiterräte sind immer dann entstanden, wenn sich der Klassenkampf im Kapitalismus zuspitzte. Die russischen Arbeiter nannten ihre Räte von 1905 und 1917 Sowjets.

In Deutschland waren die Arbeiterräte 1918 für einen kurzen Augenblick die einzige Macht im Land. In Spanien schlossen sich 1936 die verschiedenen Arbeiterparteien und Gewerkschaften zu Milizkomitees zusammen, die die Verwaltung in den Gemeinden ausübten und den Arbeiterräten sehr ähnlich waren.

In Ungarn wählten die Arbeiter 1956 während ihres Kampfes gegen russische Truppen Räte, deren Aufgabe es war, die Fabriken und Gemeinden zu verwalten. 1972–73 bildeten die Arbeiter in Chile Cordones, Arbeiterkomitees, die die großen Fabriken miteinander verbanden.

Die Arbeiterräte sind nicht von vornherein Organe des Arbeiterstaates. Sie sind bei ihrer Entstehung oft nur Organisationen der Arbeiter im Kampf gegen den Kapitalismus. Ein Arbeiterrat mag zu Beginn sehr beschränkte Aufgaben wahrnehmen, wie zum Beispiel das Sammeln von Streikgeldern. Aber weil diese Art der Organisation direkt von den Arbeitern gewählt wird und die gewählten Vertreter jederzeit abwählbar sind, können sie auf dem Höhepunkt des Kampfes die gesamte Arbeiterklasse zusammenschließen. Sie können den Grundstein für die zukünftige Arbeitermacht legen.


Zuletzt aktualisiert am 29.12.2011